L 5 B 321/08 P

Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
5
1. Instanz
SG Koblenz (RPF)
Aktenzeichen
S 3 P 32/08
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 5 B 321/08 P
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Die Befristung von Pflegegeld aus der sozialen Pflegeversicherung ist unzulässig. Dadurch entstehende verfahrensrechtliche Nachteile können durch einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zu korrigieren sein.
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts (SG) Koblenz vom 15.8.2008 aufgehoben. Dem Kläger wird für das Verfahren S 3 P 32/08 (SG Koblenz) Prozesskostenhilfe gewährt und Rechtsanwalt K beigeordnet.

Gründe:

I.

Umstritten ist ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe (PKH) für das Verfahren S 3 P 32/08 (SG Koblenz).

Durch Bescheid vom 20.7.2006 bewilligte die Beklagte dem 1935 geborenen Kläger Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe 2. In diesem Bescheid hieß es, die Bewilligung erfolge "zunächst bis zum 30.6.2007"; dann sei im Rahmen einer weiteren Nachuntersuchung festzustellen, ob beim Kläger weiter die Voraussetzungen für die Anerkennung von Pflegebedürftigkeit vorlägen.

Unter dem 3.5.2007 machte die Beklagte die Ehefrau des Klägers darauf aufmerksam, der Medizinische Dienst (MDK) werde sich mit ihr in Verbindung setzen, um einen Termin für die Nachuntersuchung zu vereinbaren. Der MDK teilte dem Kläger mit Schreiben vom 18.5.2007 mit, dass die Nachuntersuchung am 31.5.2007 durchgeführt werde. Da zu diesem Zeitpunkt in der Wohnung des Klägers niemand angetroffen wurde, machte die Beklagte diesen schriftlich unter dem 13.6.2007 und 3.7.2007 auf dessen Mitwirkungspflicht aufmerksam. Nachdem sie keinen Kontakt mit dem Kläger herstellen konnte, stellte sie ab dem 1.8.2007 ohne Bescheiderteilung die Pflegeleistungen ein. Am 2.8.2007 und 9.8.2007 versuchte die Beklagte vergeblich, mit dem Kläger bzw dessen Familie telefonischen Kontakt aufzunehmen. Am 11.9.2007 vereinbarte die Tochter des Klägers mit der Beklagten fernmündlich, dass sie bei dieser ein Formular für einen Höherstufungsantrag abholen werde. Bei einer persönlichen Untersuchung des Klägers am 24.10.2007 stellte eine Pflegefachkraft im MDK fest, dass beim Kläger - seit April 2005 - die Voraussetzungen der Pflegestufe 2 erfüllt seien. Durch Bescheid vom 2.11.2007 entschied die Beklagte daraufhin, der Kläger erhalte "weiterhin" eine Geldleistung der Pflegestufe 2. Überschrieben war dieser Bescheid mit "Leistungen bei Pflegebedürftigkeit. Ihr Antrag auf Höherstufung nach Pflegestufe 3".

Mit seinem gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch beanstandete der Kläger die unterbliebene Zahlung des Pflegegeldes für die Zeit vom 1.8.2007 bis zum 10.9.2007. Durch Widerspruchsbescheid vom 24.4.2008 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und führte zur Begründung an: Die Einstellung des Pflegegeldes für die Zeit bis zur Nachholung der Mitwirkung des Klägers sei rechtmäßig. An der grundsätzlichen Pflegebedürftigkeit des Klägers bestünden keine Zweifel. Allerdings ergäben sich anhand der Gesamtumstände Zweifel, ob überhaupt die Sicherstellung der Pflege den Richtlinien entsprechend gewährleistet sei und die Pflegekasse dies regelmäßig überprüfen solle.

Zur Begründung seiner beim Sozialgericht (SG) am 30.4.2008 erhobenen Klage hat der Kläger vorgetragen: Anfang Mai 2007 sei sein Bruder in der Türkei schwer erkrankt. Er, der Kläger, sei deshalb wegen des drohenden Todes seines Bruders mit seiner Tochter in die Türkei geflogen. Zuvor habe seine Tochter nach Eingang des Schreibens vom 3.5.2007 bei ihm die Beklagte telefonisch gebeten, die Begutachtung vorzuverlegen, und als Termin den 15.5.2007 vorgeschlagen. Die betreffende Mitarbeiterin der Beklagten habe seiner Tochter seinerzeit erklärt, sie solle sich mit dem MDK in Verbindung setzen. Dieser habe es jedoch abgelehnt, die Begutachtung vorzuziehen. Da sich sein eigener Gesundheitszustand erheblich verschlechtert habe, habe er erst am 24.8.2007 von der Türkei nach Deutschland zurückfliegen können. Am 31.8.2007 habe seine Tochter den MDK um einen neuen Untersuchungstermin gebeten. Der Mitarbeiter des MDK habe die Tochter jedoch an die Beklagte verwiesen, worauf sich diese noch am 31.8.2007 mit Frau H von der Beklagten telefonisch in Verbindung gesetzt und einen neuen Untersuchungstermin angeboten habe.

Durch Beschluss vom 15.8.2008 hat das SG den Antrag auf PKH abgelehnt und zur Begründung ausgeführt: Die Rechtsverfolgung biete keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Beklagte sei berechtigt gewesen, die Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung gemäß § 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) zu "entziehen". Der Kläger hätte dafür Sorge tragen müssen, dass ihn während seines Türkeiaufenthalts Behördenpost erreiche, zumal er gewusst habe, dass eine erneute Begutachtung zur Pflegebedürftigkeit angestanden habe.

Gegen diesen Beschluss hat der Kläger am 21.8.2008 Beschwerde eingelegt. Die Beklagte hat hierzu ua vorgetragen: Die "Klägerseite" sei ihren Mitarbeitern der Pflegekasse durch ihre unzähligen persönlichen Vorstellungen bekannt; ebenso sei bekannt, dass "negative Post" beim Kläger immer wieder einmal verschwunden sei. Sie, die Beklagte, habe ihm daher angeraten, zumindest ein Postfach zu mieten, was jedoch wegen der Kosten abgelehnt worden sei. Keiner der Mitarbeiter der Beklagten könne sich an einen Anruf der Tochter des Klägers auf das Schreiben vom 3.5.2007 erinnern. Nach der allgemeinen Verfahrensgestaltung zwischen den Pflegekassen und dem MDK könne es nicht zutreffen, dass der Kläger von einem ihrer (der Beklagten) Mitarbeiter an den MDK verwiesen worden sei. Im Übrigen müsse für die Zeit des fast dreimonatigen Aufenthalts in der Türkei ggf eine nachträgliche Kürzung der Pflegeleistungen vorgenommen werden.

II.

Die nach §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG - zulässige Beschwerde ist begründet. Dem Kläger steht für das Klageverfahren PKH (§ 73a SGG iVm den Vorschriften der Zivilprozessordnung – ZPO –) zu, weshalb der angefochtene Beschluss aufzuheben ist. Die Erfolgsaussicht der Klage (§ 73a SGG iVm § 114 ZPO) kann im Gegensatz zur Meinung des SG nicht verneint werden.

1. Die Rechtmäßigkeit der Ablehnung der Zahlung von Pflegegeld für die Zeit vom 1.8.2007 bis zum 10.9.2007 richtet sich nicht nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Denn die Beklagte hatte zuvor die Bewilligung von Pflegegeld bis zum 30.6.2007 befristet (Bescheid vom 20.7.2006) und damit für die Zeit danach keine Bewilligung in Form eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung im Sinne des § 48 SGB X erlassen. Diese Befristung war zwar rechtswidrig, weil die befristete Gewährung von Pflegegeld gesetzlich nicht vorgesehen ist (§ 32 Abs 1 SGB X). Dennoch ist die Befristung im Bescheid vom 20.7.2006 rechtswirksam, weil dieser Verwaltungsakt nicht angefochten und bisher auch nicht teilweise (zur Frage der Teilbarkeit des Verwaltungsakts bei Nebenbestimmungen vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl, Rn 18a, b nach § 54) zurückgenommen wurde (vgl § 44 SGB X). Auch die ohne Bescheid erfolgte Zahlung von Pflegegeld für den Monat Juli 2007 beinhaltete keinen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zeit ab dem 1.8.2007.

2. Ungeachtet dessen hat die Klage Aussicht auf Erfolg. Es liegt nahe, dass der Bescheid der Beklagten vom 2.11.2007 so auszulegen ist, dass mit ihm dem Kläger für die Zeit ab dem 1.7.2007 Pflegegeld nach der Pflegestufe 2 bewilligt wurde. Die Auslegung des Verfügungssatzes eines Verwaltungsakts richtet sich nach dem Empfängerhorizont (Krasney in Kasseler Kommentar, § 31 SGB X Rn 11). Für die Bewilligung von Pflegeleistungen nach der Pflegestufe 2 ab dem 1.7.2007 im Bescheid vom 2.11.2007 spricht die Formulierung, der Kläger erhalte "weiterhin" Geldleistungen der Pflegestufe 2. Das Wort "weiterhin" deutet auf einen zeitlichen Anschluss an die frühere Bewilligung des Pflegegeldes im Bescheid vom 20.7.2006 hin. Eine hiervon abweichende Auslegung des Verwaltungsakts vom 2.11.2007 kommt in Anbetracht dessen allenfalls dann in Betracht, wenn der Kläger aus zuvor ergangenen, zB telefonischen Mitteilungen der Beklagten erkennen konnte, dass diese im Bescheid vom 2.11.2007 nur Leistungen ab dem 11.9.2007 bewilligen wollte (vgl. P. Stelkens/W. Stelkens, Verwaltungsverfahrensgesetz, 6. Auflage, § 35 Rn 45, wofür bisher keine Anhaltspunkte vorliegen. Wenn der Bescheid vom 2.11.2007 so auszulegen ist, dass die Beklagte dem Kläger Leistungen nach der Pflegestufe 2 für die Zeit ab dem 1.7.2007 zugebilligt hat, ergibt sich der Anspruch des Klägers für die Zeit vom 1.8. bis 10.9.2007 ohne weiteres aus der Bindungswirkung dieses Bescheides (§ 77 SGG). Die im Widerspruchsbescheid vom 24.4.2008 erfolgte Verböserung wäre in diesem Fall schon deshalb rechtswidrig, weil die insoweit erforderlichen Voraussetzungen des § 45 SGB X (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO § 85 Rn 5) schon wegen des Fehlens der erforderlichen Ermessensausübung der Beklagten nicht erfüllt sind.

3. Aber auch wenn der Bescheid vom 2.11.2007 - im Zusammenhang mit dem Widerspruchsbescheid vom 24.4.2008 - so ausgelegt werden könnte, dass die Beklagte Leistungen für die Zeit vom 1.8. bis 10.9.2007 versagt hat, wäre dieser Bescheid jedenfalls hinsichtlich des Zeitraums nach der Rückkehr des Klägers aus der Türkei am 24.8.2007 bis zum 10.9.2007 (zum Ausschluss des Anspruchs auf Pflegegeld für die Zeit des Türkeiaufenthalts vgl § 34 Abs 1 Nr 1 SGB XI; das deutsch-türkische Sozialversicherungsabkommen enthält hierzu keine Regelungen, die zugunsten des Klägers eingreifen könnten) rechtswidrig (zur Frage der Zulässigkeit einer Leistungsklage im Falle eines Versagungsbescheides vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 54 Rn 38b). Ein Versagungsbescheid nach § 66 SGB I iVm § 67 SGB I wäre schon deshalb nicht rechtmäßig, weil es an der nach dieser Vorschrift notwendigen Ermessensentscheidung fehlt. Für den in Rede stehenden Zeitraum war keine erneute vorherige Antragstellung des Klägers notwendig. Wenn die Beklagte das Pflegegeld nicht im Bescheid vom 20.7.2006 rechtsfehlerhaft befristet hätte, hätte es für den vorliegend umstrittenen Zeitraum keines neuerlichen Antrags bedurft. Das fehlende Erfordernis eines erneuten Antrags ergibt sich bei dieser Sachlage aus den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs (vgl Seewald in Kasseler Kommentar, § 14 SGB I Rn 24 ff).

Der Kläger ist nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung selbst zu bestreiten (§ 73a SGG iVm §§ 114, 115 ZPO).

Eine Erstattung von Kosten dieses Beschwerdeverfahrens kommt nicht in Betracht (§ 73a SGG iVm § 127 Abs 4 ZPO).

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde beim Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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