L 6 R 629/05

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 3 R 581/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 6 R 629/05
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 11.03.2005 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand:


Die Beteiligten streiten um Rente wegen Erwerbsminderung.

Die Klägerin ist 1957 geboren, hat nach einer abgeschlossenen Lehre als Verkäuferin nur kurzfristig in diesem Beruf gearbeitet und war dann in ungelernten oder angelernten Tätigkeiten beschäftigt, zuletzt von Januar 1998 bis April 1999 als Arbeiterin beim Zuschneiden von Schaumstoffen.

Nach einem erfolglosen Rentenverfahren, das mit einer Klagerücknahme am 05.06.2002 endete, stellte die Klägerin am 14.04.2003 einen erneuten Rentenantrag, den die Beklagte mit Bescheid vom 27.06.2003 und Widerspruchsbescheid vom 11.09.2003 ablehnte. Grundlage war ein Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr.M. mit Zusatzuntersuchungen weiterer Sachverständiger vom 17.06.2003. Danach litt die Klägerin im Wesentlichen an einer rezidivierenden depressiven Störung, an wirbelsäulenabhängigen Beschwerden bei Abnutzungserscheinungen und an Übergewicht. Sie konnte nach Einschätzung des Sachverständigen noch leichte Arbeiten ohne Akkord, Nachtschicht und Zwangshaltungen sechs Stunden und mehr täglich verrichten.

Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben. Das Sozialgericht hat ein Gutachten der Neurologin Dr.R. vom 19.01.2004 eingeholt. Ihr zufolge hat die Klägerin an einem chronischen HWS-Syndrom mit Zervicocephalgie, einer Depression und einer posttraumatischen Belastungsstörung gelitten. Die Einschätzung der Leistungsfähigkeit ist die gleiche wie die der Sachverständigen, die die Beklagte gehört hat.

Hierzu hat der die Klägerin behandelnde Neurochirurg Dr.B., der in einem Befundbericht vom August 2004 als chronische Beschwerden Nacken-Hinterkopfschmerzen und als Dauerdiagnose ein chronisches cervicocephales Syndrom und einen chronisch nociceptiven Schmerz - hierbei aber unter anderem eine weitgehende Beschwerdefreiheit zwischen März und Oktober 2003 - angegeben hatte, Stellung genommen. Er moniert an dem Gutachten, dass es die chronische Schmerzproblematik nicht korrekt einschätze. Es handle sich hierbei um eine komplexe, multifaktoriell begründete Störung, bei der somatische und psychische Störungen Hand in Hand gingen. Für die Begutachtung der Leistungsfähigkeit wesentlich sei die Prognose. Besonderes Augenmerk werde hier auf das Krankheitsverhalten gelegt. Ein sozialer Rückzug, eine ausgeprägte, aber erfolglose Inanspruchnahme medizinischer Leistungen und lange Zeiten der Arbeitsunfähigkeit seien Bestandteile eines chronischen Schmerzsyndroms, das eine hohe zeitliche Stabilität habe.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 11.03.2005 als unbegründet abgewiesen und sich auf die eingeholten Sachverständigengutachten gestützt.

Hiergegen hat die Klägerin Berufung eingelegt.

Der Senat hat Gutachten des Internisten Dr.E. vom 20.03.2006, der Neurologin und Psychiaterin Dr.K. vom 20.11.2006 und auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG des Dr.B. vom 28.12.2007 eingeholt.

Das Gutachten des Dr.E. hat keine weiteren wesentlichen Erkenntnisse bezüglich der Leistungsfähigkeit erbracht.

Dr.K. hat einen im Wesentlichen regelrechten somatisch-neurologischen Befund erhoben. Auf dieser Grundlage seien stärkere und dauerhafte organisch bedingte Schmerzen nicht nachvollziehbar. Der psychische Befund war geprägt von Klagen über Befindlichkeitsstörungen, insbesondere im Halswirbelsäulenbereich, die in gewissem Widerspruch zum erhobenen neurologischen Befund standen. Auch eine stärkere depressive Verstimmung habe sich nicht nachweisen lassen. Die Angeben des Neurochirurgen über den sozialen Rückzug gründeten sich auf die Angaben der Klägerin.

Die Sachverständige hat eine ausführliche Exploration zum Tagesablauf und zu den sozialen Kontakten durchgeführt. Der von der behandelnden Psychologin erhobene auffällige psychopathologische Befund habe sich bei der gutachterlichen Untersuchung nicht so nachweisen lassen. Dies weise zumindest darauf hin, dass keine dauerhafte schwerwiegende depressive Verstimmung vorliege. Der von Dr.B. erwähnte Zeitraum der Beschwerdefreiheit weise auf keinen Zustand hin, der zu einer dauerhaften Beeinträchtigung führe. Den Schilderungen der Klägerin über ihre Belastungen und Einschränkungen fehle das Authentische. Neben der überwiegend locker-entspannten Stimmungslage werde dies dadurch deutlich, dass die Klägerin durchaus in der Lage sei, eine recht abwechslungsreiche Tagesstruktur durchzuhalten.

Was die geklagten Schmerzen betreffe, seien sie, soweit sie mit einem Organbefund vereinbar seien, zum Beispiel auf der Grundlage der Verbrauchserscheinungen an der Halswirbelsäule, Anteilen einer anhaltend somatoformen Schmerzstörung zuzuordnen. Es handle sich bei ihr um eine psychische Erkrankung, bei der die vorherrschende Beschwerde ein andauernder schwerer oder quälender Schmerz sei, der durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig geklärt werden könne.

Im Ergebnis führt der Sachverständige aus, gemessen am jetzigen psychischen Befund und den geschilderten Tagesaktivitäten seien stärkere Schmerzen, die zu deutlichen funktionelle Beeinträchtigungen führten, nicht plausibel. Die Sachverständige kommt zu keinen wesentlich anderen Leistungseinschränkungen als die Vorgutachter, insbesondere zu einem mindestens sechsstündigen Einsatzvermögen.

Zu einem anderen Ergebnis kommt Dr.B ... Er hält die Klägerin für dauerhaft erwerbsunfähig (weniger als drei Stunden täglich) und das Krankheitsbild für nicht besserungsfähig. Er hat die Klägerin in einer dichten Folge von Terminen seit dem Jahre 2003 wegen Beschwerden am Nacken und im Nacken-Schulterbereich behandelt und dabei laufend Physiotherapie und Fango verordnet, verbunden mit der wiederholten Verordnung von Schmerzmitteln.

Er diagnostiziert eine chronifizierte Schmerzerkrankung, multisegmentale degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule und übernimmt eine Verdachtsdiagnose der behandelnden Psychologin.

Die grundsätzliche Problematik in der Beurteilung chronischer Schmerzzustände bestehe in der fehlenden Objektivierbarkeit. Hier spiele letztlich die persönliche Erfahrung im Umgang mit chronisch schmerzkranken Patienten, die Kenntnis des bisherigen Verhandlungsverlaufs und die Kenntnis der wissenschaftlichen Literatur eine Rolle. Sie werde immer subjektiv gefärbt bleiben.

Die weitere Begründung des Gutachtens befasst sich mit den Vorgutachten. Dr.K. lege den Schwerpunkt auf die somatoforme Schmerzstörung, bei der Beschwerden organisch nicht vollständig geklärt werden könnten. Dies wage er zu bezweifeln. Bei der Klägerin lägen schwere degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule vor, die die geklagte Schmerzsymptomatik ohne weiteres erklären könnten. Insofern handle es sich nicht um eine rein psychische Erkrankung. Es bestehe sicher eine psychische Fehlentwicklung, die am ehesten als Anpassungsstörung anzusehen sei. Der Sachverständige wiederholt, dass die Beurteilung chronisch schmerzkranker Patienten auf Grund des Fehlens objektiver Kriterien in hohem Maße der eigenen Erfahrung im Umgang mit derartigen Patienten folge.

Die Beklagte hat hierzu durch ihren beratenden Nervenarzt vorgetragen, die von Dr.B. angenommene Leistungsminderung in zeitlicher Hinsicht lasse sich aus den angeführten Befunden nicht plausibel ableiten. Die Leistungsbeurteilung bei Menschen mit chronischen Schmerzen, unabhängig von einer organischen Ursache, orientiere sich immer an den Auswirkungen auf den Tagesablauf. Hierzu sei dem Gutachten des Dr.B. nichts zu entnehmen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 11.03.2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 27.06.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.09.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 01.05.2003 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren, hilfsweise nach § 109 SGG ein Gutachten des Privatdozenten Dr.S., Bezirkskrankenhaus B-Stadt, einzuholen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zum Verfahren beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Akten der Beklagten und die Akten des Sozialgerichts Regensburg in dem vorangegangenen und weiteren Klageverfahren. Auf ihren Inhalt wird ergänzend Bezug genommen.



Entscheidungsgründe:


Die von der Klägerin form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig; eine Beschränkung der Berufung nach § 144 SGG besteht nicht.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Rentenanspruch.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI, weil sie nicht berufsunfähig ist. Diese Vorschrift ist zu Gunsten der vor 1961 geborenen Klägerin anzuwenden.

Nach Abs.2 der Vorschrift sind Versicherte berufsunfähig, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Ausgangspunkt der Beurteilung der Berufsunfähigkeit ist danach der bisherige Beruf. Das ist die zuletzt und auf Dauer ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung. Sofern die Klägerin diesen Beruf nicht mehr ausüben kann, ist sie damit jedoch noch nicht berufsunfähig. Im Vergleich zu ihrem bisherigen Beruf darf sie grundsätzlich auf einen Beruf in der nach seiner Wertigkeit nächst niedrigeren Gruppe verwiesen werden. Die unterste Gruppe wird hierbei von der der ungelernten Arbeiter gebildet. Angehörige dieser Berufsgruppe können auf sämtliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisen werden, die keine besonderen Anforderungen an Kenntnisse und Fähigkeiten stellen. Angelernte Arbeiter dürfen ebenfalls auf diese für sie nächst niedrigere Gruppe verwiesen werden. Hierbei bedarf es nicht mehr der Benennung einer konkreten beruflichen Tätigkeit, die ein Versicherter mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen noch konkret ausüben kann. Es genügt, wenn er in dem in der Vorschrift genannten zeitlichen Umfang einsatzfähig ist.

Das trifft zur Überzeugung des Senats nach dem Ergebnis der im Renten- und Gerichtsverfahren eingeholten Sachverständigengutachten mit Ausnahme des Gutachtens des Dr.B. zu.

Die Begründung der zeitlichen Leistungseinschränkung durch den Sachverständigen Dr.B. gründet allein auf seinem persönlichen Eindruck auf Grund der Behandlungsdauer, ohne dass der Sachverständige nachvollziehbare und überzeugende Gründe vermittelt hätte.

Hier ist nach Ansicht des Senats dem Gutachten der Sachverständigen Dr.K. zu folgen. In ihrem Gutachten sind der psychopathologische Befund, die Beeinträchtigung im täglichen Leben und im sozialen Umgang ebenso überzeugend dargestellt, wie das Verhältnis zwischen organisch begründbaren und nicht so begründbaren Beschwerden. Die Kritik des Sachverständigen Dr.B. hieran greift nach Überzeugung des Senats nicht durch. In seinem Gutachten wird der psychopathologische Anteil an den Beschwerden der Klägerin widersprüchlich dargestellt. Einerseits sollen die Beschwerden allein organisch begründet sein, andererseits kann der Sachverständige einen so nicht begründbaren Anteil nicht leugnen und muss einen psychopathologischen Anteil zugestehen. Hierbei berücksichtigt er nicht, dass Dr.K. von einem psychischen Anteil nur spricht, soweit der organische Anteil zur Erklärung nicht hinreicht. Das tut der Sachverständige Dr.B. selbst auch, allerdings mit dem Unterschied, dass er an die Stelle wissenschaftlich begründeter Beurteilungskriterien seinen nicht näher dargelegten allgemeinen und persönlichen Erfahrungshorizont heranzieht. Dem Senat ist deshalb sein Gutachten als nicht überzeugend begründet erschienen.

Auszugehen ist deshalb davon, dass die Klägerin noch mindestens sechs Stunden täglich eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausüben kann und damit nicht berufsunfähig ist. Sie ist damit erst recht nicht voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Abs.2 und 3 SGB VI.

Dem Antrag auf Anhörung des PD Dr.S. nach § 109 SGG war nicht mehr stattzugeben. Die Klägerin hat von ihrem Antragsrecht durch Benennung des Sachverständigen Dr.B. Gebrauch gemacht. Die Benennung ist auf das Gutachten der Neurologin und Psychiaterin Dr.K. hin erfolgt. Für die Anhörung eines weiteren Sachverständigen auf diesem Fachgebiet nach § 109 SGG besteht kein Anlass, nachdem weder ein weiteres Gutachten auf diesem Fachgebiet nach § 106 SGG eingeholt wurde noch sonst ein Umstand benannt wurde oder vorliegt, der ein erneutes Anhörungsrecht begründen könnte (vgl. hierzu Meyer-Ladewig/Keller, Kommentar zum SGG, 8. Auflage, § 109 Rdnr.10b).

Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG und folgt der Erwägung, dass die Klägerin in beiden Rechtszügen nicht obsiegt hat.

Gründe für Zulassung der Revision nach § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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