L 7 B 137/08 AS ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 28 AS 534/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 B 137/08 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1.
Der berufsbedingte Ortswechsel führt auch bei einer Distanz von ca. 400 km und einer unbefristeten Beschäftigung am neuen Ort nicht zwingend zur Aufgabe des bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltes nach dem Sozialgesetzbuch 2. Buch (SGB:;?).
2.
Die Kosten der doppelten Haushaltsführung sind von dem Erwerbseinkommen als mit der Erzielung von Einkommen verbundene notwendige Ausgaben in Abzug zu bringen (§ 11 Abs.2 Satz 1 Nr. 5 SGBII).
3.Kriterien für die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts und der Berechtigung einer doppelten Haushaltsführung.
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 28.02.2008 geändert. Die Beigeladene wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 21.12.2007 bis zum 27.11.2008 Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (Alg II) als Darlehn nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die Beigeladene hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für beide Rechtszüge zu erstatten. Eine weitergehende Kostenerstattung findet zwischen den Beteiligten nicht statt.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde des Antragstellers ist im Sinne der Verpflichtung der Beigeladenen zur Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) begründet. Hierzu kann die Beigeladene entsprechend § 75 Abs. 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verpflichtet werden. Sie hat neben der Regelleistung nach § 20 SGB II auch die Kosten für das Haus des Antragstellers in T nach § 22 SGB II als Kosten der Unterkunft und Heizung zu übernehmen.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruches, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 -1 BvR 569/05 -, NVwZ 2005, S. 927).

Dem Antragsteller stehen bei der in Verfahren dieser Art gebotenen summarischen Prüfung Leistungen nach dem SGB II gegenüber der Beigeladenen zu. Er hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht.

Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten diejenigen Personen Leistungen nach diesem Buch, die das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Hilfebedürftige).

Der Antragsteller erfüllt diese Voraussetzungen. Er hat das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet und ist erwerbsfähig. Seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat er in der Bundesrepublik Deutschland. Die örtliche Zuständigkeit der Beigeladenen ergibt sich aus § 36 SGB II, da der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt weiterhin im Bezirk der Beigeladenen hat. Gemäß § 36 SGB II ist für die Gewährung von Arbeitslosengeld II der Träger zuständig, in dessen Bezirk der erwerbsfähige Hilfebedürftige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt (vgl. § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch -SGB I-). Diese Voraussetzungen sind, entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin und der Beigeladenen, weiterhin in T gegeben. Die Frage, wo der Hilfebedürftige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, beurteilt sich in erster Linie anhand der gegebenen objektiven Verhältnisse. Entscheidend ist das tatsächliche Verweilen des Hilfebedürftigen an einem Ort, an dem er den Schwerpunkt seiner Lebensverhältnisse hat (vgl. Link in Eicher/Spellbrink, Kommentar zum SGB II, 2. Auflage 2008, § 36 Rn 18).

Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte hat der Antragsteller weiterhin den Schwerpunkt seiner Lebensverhältnisse in T, wo er auch seinen 1. Wohnsitz hat. Dort ist er Eigentümer eines Zweifamilienhauses. Das Haus ist mit Fördermitteln von ca. 80.000,00 Euro unter Berücksichtigung der persönlichen Behinderungen des Antragstellers (GdB von 100 sowie Merkzeichen "G", "aG" und "B") umgebaut worden. Für die Mutter des Antragstellers ist eine persönliche Dienstbarkeit bewilligt und eingetragen worden. Zwar hält sich der Antragsteller überwiegend in E auf. Dies erfolgt jedoch berufsbedingt. Gegen eine Verlegung des Lebensmittelpunktes nach E sprechen neben der Ausstattung und Größe der beiden Wohnungen auch die persönlichen Beziehungen zu den Verwandten in T und zu den Freunden. So wohnt die Familie seiner Schwester ebenfalls in T. Er hält engen Kontakt zu seinem Freundeskreis in der näheren Umgebung von T.

Zur Überzeugung des Senats steht der Beurteilung nicht entgegen, dass der Antragsteller die zum 01.08.2005 aufgenommene Beschäftigung seit dem 01.04.2007 unbefristet ausübt. Die berufsbedingte Abwesenheit des Antragstellers von seinem 1. Wohnsitz in T ist unbeachtlich. Allein und ausschließlich auf die Aufenthaltsdauer abzustellen, wird vorliegend der Frage nach dem Lebensmittelpunkt nicht gerecht. Der Antragsteller beabsichtigt weiterhin nicht, auf Dauer in E berufstätig zu sein. Er hat einen Antrag auf Versetzung innerhalb der Bundesagentur für Arbeit in den Brandenburger oder Berliner Raum gestellt, der jedoch bislang nicht positiv beschieden worden ist. Unverständlich ist in diesem Zusammenhang, dass dem Versetzungsantrag des Antragstellers unter Berücksichtigung seines sozialen Hintergrundes noch nicht nachgekommen werden konnte. Dass nur eine Familienheimfahrt im Monat erfolgt, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Der geringe Umfang der Familienheimfahrten ist nach den glaubhaften Angaben des Antragstellers durch die hohen Fahrtkosten (E nach X 230,00 Euro) und die erhebliche Fahrtzeit (Hin- und Rückfahrt ca. 10 Stunden) bedingt.

Schließlich ist auch eine Hilfebedürftigkeit des Antragstellers gegeben. Gemäß § 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. Diese Voraussetzungen sind gegeben. Der Bedarf des Antragstellers übersteigt das zu berücksichtigende Einkommen. Die Beigeladene hat auch weiterhin Leistungen zu gewähren.

Neben der Regelleistung gemäß § 20 SGB II (ab 01.07.2007 347,00 Euro; ab 01.07.2008 351,00 Euro) sind beim Antragsteller zur Ermittlung seines Bedarfs auch die Kosten für Unterkunft und Heizung im T zu berücksichtigen. Dabei sind jedoch nicht die vom Antragsteller geltend gemachten 653,60 Euro zugrunde zu legen. Der Senat hält es im einstweiligen Verfahren für sachgerecht, bei der Ermittlung des Bedarfs von den von der Beigeladenen im Bescheid vom 19.12.2006 für den Zeitraum vom 01.12.2006 bis 31.03.2007 berechneten Kosten für Unterkunft und Heizung (KdU) in Höhe von 637,45 Euro auszugehen. Ob es sich hierbei um die angemessenen Kosten handelt, muss einem etwaigen Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben ebenso die Überprüfung, ob der Antragsteller auch weiterhin einen Mehrbedarf beanspruchen kann. In diesem Zusammenhang bleibt es dem Antragsteller unbenommen, zur Geltendmachung eines Mehrbedarfs entsprechende Nachweise vorzulegen.

Von dem Bruttoarbeitsentgelt des Klägers, die Lohnabrechnungen wurden mit Schriftsatz vom 22.10.2008 übersandt (Bruttogehalt ca. 2000,00 Euro; Nettogehalt ca. 1500,00 Euro), sind zur Ermittlung des Nettoarbeitsentgelts die Steuern gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB II und die Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung einschließlich der Beiträge zur Arbeitsförderung (§ 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB II) abzusetzen. Zusätzlich ist eine Versicherungspauschale in Höhe von 30,00 Euro und ein Freibetrag für Erwerbstätigkeit nach Maßgabe des § 30 SGB II (vorliegend der Höchstbetrag von 180,00 Euro) zu berücksichtigen. Darüber hinaus sind die mit der Erzielung von Einkommen verbundene notwendige Ausgaben (§ 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 SGB II) in Abzug zu bringen. Es handelt sich um die Kosten für die doppelte Haushaltsführung. Notwendige Mehraufwendungen, die einem Arbeitnehmer wegen einer aus beruflichem Anlass begründeten doppelten Haushaltsführung entstehen, sind gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) Werbungskosten. Eine doppelte Haushaltsführung liegt nach Nr. 5 Satz 2 der Vorschrift vor, wenn der Arbeitnehmer außerhalb des Ortes, in dem er einen eigenen Hausstand unterhält, beschäftigt ist und auch am Beschäftigungsort wohnt. Auch ein alleinstehender Arbeitnehmer kann einen doppelten Haushalt führen (Bundesfinanzhof -BFH- vom 05.10.1994, VI R 62/90). Eine doppelte Haushaltsführung liegt bei dem Antragsteller vor. Dabei verkennt der Senat nicht, dass bei einem nichtverheirateten Arbeitnehmer, je länger die Auswärtstätigkeit dauert, immer mehr dafür spricht, dass die eigentliche Haushaltsführung und auch der Mittelpunkt der Lebensinteressen an den Beschäftigungsort verlegt wurden und die Heimatwohnung nur noch für Besuchszwecke vorgehalten wird (vgl. hierzu BFH, Urteil vom 10.02.2000, VI R 60/98). Indizien können für einen Wechsel des Lebensmittelpunktes sein, wie oft und wie lange sich der Arbeitnehmer in der einen und der anderen Wohnung aufhält, wie beide Wohnungen ausgestattet und wie groß sie sind. Des Weiteren ist von Bedeutung, wie oft und und wie lange sich der Arbeitnehmer in der einen oder der anderen Wohnung aufhält, wie beide Wohnungen ausgestattet sind und wie groß sie sind. Von Bedeutung sind auch die Dauer des Aufenthalts am Beschäftigungsort, die Entfernung beider Wohnungen sowie die Zahl der Heimfahrten. Erhebliches Gewicht hat auch der Umstand, zu welchem Wohnort die engeren persönlichen Beziehungen bestehen (BFH, Urteil vom 09.08.2007, VI R 10/06). Unter Beachtung dieser Kriterien geht der Senat davon aus, dass der Lebensmittelpunkt des Antragstellers weiterhin in T, wie oben ausgeführt, liegt. Die Auffassung des Senats steht im Einklang mit der Beurteilung des Finanzamtes. Dieses hat auch für das Kalenderjahr 2008 eine doppelte Haushaltsführung anerkannt. So wurde für das Kalenderjahr 2008 ein monatlicher Freibetrag von 1012,00 Euro auf der Lohnsteuerkarte eingetragen, da neben den außergewöhnlichen Belastungen als Behinderter (464,00 Euro) auch die Kosten der doppelten Haushaltsführung berücksichtigt worden sind.

Im Rahmen der doppelten Haushaltsführung sind neben den Kosten für die 2-Zimmerwohnung in E (298,26 Euro) auch die Kosten einer monatlichen Familienheimfahrt (zur Anerkennung einer monatlichen Heimfahrt vgl. Rn. 11.80 zu § 11 der Dienstanweisung der Bundesagentur für Arbeit) für die Hin- und Rückfahrt von E nach C sowie von C nach E unter Berücksichtigung der vom Antragsteller übersandten Reiseauskunft der Bahn in Höhe von 174,00 Euro anzuerkennen. Da dem Antragsteller als Rollstuhlfahrer für die Strecke vom Bahnhof C nach T und zurück kein anderes adäquates Transportmittel zur Verfügung steht, sind als weitere Kosten auch die vom Antragsteller geltend gemachten Taxikosten in Höhe von 50,00 Euro zu berücksichtigen. Schließlich sind auch die vom Antragsteller bezüglich der Arbeitsstelle geltend geltend gemachten Fahrtkosten in Höhe von 40 Euro (20 x 10 km x 0,20) nicht zu beanstanden. Nach alledem übersteigt der Bedarf des Antragstellers das zu berücksichtigende Einkommen.

Einen Anordnungsgrund hat der Antragsteller ebenfalls glaubhaft gemacht. Dem steht auch nicht die Vollzeittätigkeit entgegen. Das hieraus erzielte Einkommen reicht nicht mehr aus, über mehrere Jahre einen doppelten Haushalt zu führen. Die Überziehung des Kontos hat der Antragsteller durch Vorlage von Kontoauszügen glaubhaft gemacht. Zudem hatte er bereits im Dezember 2007 darauf hingewiesen, einen Überziehungskredit von bis zu 4.000,00 Euro auf seinem Girokonto habe nehmen müssen, um seine Lebenshaltungskosten sicherzustellen.

Bei der Verpflichtung zur vorläufigen Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ist auf den Zeitpunkt des Eingangs des Antrages auf vorläufigen Rechtsschutz bei Gericht abzustellen. Durch eine einstweilige Anordnung soll in Verfahren dieser Art eine gegenwärtige Notlage behoben werden, wobei die Zeit des Eingangs des Antrages bei Gericht bis zu seiner (Beschwerde-) Entscheidung nicht zu Lasten des Antragstellers gehen darf (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14.01.2008, L 8 SO 88/07 ER). Die Dauer der Leistungen hat der Senat antragsgemäß bis zum Zeitpunkt seiner Entscheidung befristet. Die Leistungen sind von der Antragsgegnerin jedoch nur als Darlehn zu gewähren, da noch nicht abschließend geklärt ist, ob eine Verwertung oder eine Verwertungsmöglichkeit des Hausgrundstücks in T überhaupt absehbar (vgl. BSG, Urteil vom 06.12.2007, B 14/7b AS 46/06 R) und bejahendenfalls eine sofortige Verwertung des Vermögens des Antragstellers möglich ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG. Bei seiner Entscheidung hat der Senat berücksichtigt, dass die Beigeladene ihre Zuständigkeit unzutreffend verneint hat und damit die Durchführung der Verfahren (Ausgangs- und Beschwerdeverfahren) veranlasst hat.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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