L 14 B 2033/08 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 132 AS 27091/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 B 2033/08 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. September 2008 aufgehoben, soweit das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen hat. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig bis zur Bestandskraft der Ablehnung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in dem Bescheid vom 16. Juli 2008, längstens bis zu einer Entscheidung des Sozialgerichts in der Hauptsache (S 132 AS 27091/08) Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben durch Übernahme der Weiterbildungskosten für die Umschulung zur Heilpraktikerin bei der S-H-Schule
(Maßnahmenummer ) zu erbringen. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die statthafte (§ 172 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]) und auch im Übrigen zulässige (§ 173 Satz 1 SGG) Beschwerde der Antragstellerin ist begründet. Der Antragsgegner hat ihr die von ihr begehrten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben – vorläufig – zu erbringen und die Kosten der Umschulung zur Heilpraktikerin (insbesondere Lehrgangskosten und Fahrkosten) zu übernehmen. Diese – vorläufige – Regelung erscheint zur Abwendung wesentlicher Nachteile für die Antragstellerin, die durch eine spätere Entscheidung in der Hauptsache nicht beseitigt werden könnten, nötig (§ 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Antragstellerin ist – was der Antragsgegner bei seinen Entscheidungen möglicherweise nicht hinreichend bedacht hat – behindert im Sinne des § 19 Abs. 1 des Dritten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB III) i. V. m. § 2 Abs. 1 des Neunten Buchs des Sozialgesetzbuches (SGB IX). Sie benötigt Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben, da ihre Aussichten, am Arbeitsle-ben (weiter) teilzuhaben, nicht nur vorübergehend wesentlich gemindert sind, weil sie ihren erlernten Beruf als Tänzerin aufgrund von Erkrankungen (degenerativen Veränderungen) des Bewegungs- und Stützapparates nicht mehr ausüben kann. Dies hat auch der zuständige Rehabilitationsträger, die Bundesagentur für Arbeit (§ 6a Satz 1 SGB IX), nach und aufgrund der von ihm veranlassten ärztlichen Untersuchung der Antragstellerin zutreffend erkannt. Daraufhin hat der zuständige Rehabilitationsträger nach einer ebenfalls von ihm veranlassten Berufsfindung und Eignungsfeststellung durch das Berufsförderungswerk W-E als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben die Umschulung zur Heilpraktikerin bei der S-H-Schule vorgesehen.

Da die Antragstellerin gleichwohl (weiterhin) erwerbsfähig, zudem aber – auch angesichts des-sen, dass sie den von ihr erlernten Beruf nicht (mehr) ausüben kann – hilfebedürftig im Sinne des § 9 SGB II ist, ist für die (Erbringung von) Leistungen zur beruflichen Teilhabe der Antragsgegner zuständig (§ 6a Satz 2 SGB IX; nach Eicher, in: Eicher/Spellbrink, SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende –, 2. Aufl. [2008], § 16 Rdnr. 92 "[eine] gekünstelte Konstruktion, die sich jedenfalls nicht zum Nachteil des behinderten Menschen auswirken [dürfe]". Das gesetzgeberische Ziel, "das Verfahren zur beruflichen Eingliederung behinderter Men-schen zu beschleunigen und das notwendige Zusammenwirken der Bundesagentur für Arbeit als Rehabilitationsträger mit den Arbeitsgemeinschaften und den zugelassenen kommunalen Trägern im Interesse hilfebedürftiger, behinderter Menschen klarer zu regeln" [Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss), BT-Drucks. 16/1696 vom 31.05.2006, S. 32], ist möglicherweise verfehlt worden). Für Eingliederungsleistungen an erwerbsfähige behinderte Hilfebedürftige gelten die §§ 97 bis 99, 100 Nr. 1 bis 3 und 6, § 101 Abs. 1, 2 und 5, die §§ 102, 103 Satz 1 Nr. 3, Satz 2, die §§ 109 und 111 SGB III entsprechend (§ 16 Abs. 1 Satz 3 SGB II). Nach § 97 Abs. 1 SGB III können behinderten Menschen Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben
erbracht werden, die wegen Art oder Schwere der Behinderung erforderlich sind, um ihre Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu bessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben zu sichern. Als allgemeine Leistungen (§ 98 Abs. 1 Nr. 1 SGB III) können – auch nach § 16 Abs. 1 Satz 3 SGB II – Leistungen zur Förderung der beruflichen Weiterbil-dung (§ 100 Nr. 6 SGB III) erbracht werden. Diese Leistungen richten sich nach den §§ 77 bis 87 SGB III (§ 99 SGB III).

Nach § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB III können Arbeitnehmer (bzw. entsprechend erwerbsfähige behinderte Hilfebedürftige) bei beruflicher Weiterbildung durch Übernahme der Weiterbildungskosten gefördert werden, wenn

1. die Weiterbildung notwendig ist, um sie bei Arbeitslosigkeit beruflich einzugliedern, eine ihnen drohende Arbeitslosigkeit abzuwenden oder weil bei ihnen wegen fehlenden Berufsabschlusses die Notwendigkeit der Weiterbildung anerkannt ist,

2. vor Beginn der Teilnahme eine Beratung durch die Agentur für Arbeit erfolgt ist und

3. die Maßnahme und der Träger der Maßnahme für die Förderung zugelassen sind.

Diese Voraussetzungen sind als erfüllt anzusehen.

Die (vom zuständigen Rehabilitationsträger vorgesehene) berufliche Weiterbildung in Form der Umschulung zur Heilpraktikerin ist notwendig, um die – arbeitslose – Antragstellerin beruflich einzugliedern. Der Antragsgegner hat zwar in seinem Widerspruchsbescheid vom 27. August 2008 die Notwendigkeit dieser Weiterbildung mit Hinweis auf die wenigen Stellenangebote für Heilpraktiker verneint. Abgesehen davon, dass Heilpraktiker vielfach oder sogar überwiegend selbständig tätig und nicht abhängig beschäftigt sind (was einer Förderung der beruflichen Weiterbildung nicht entgegensteht) und bei der Förderung der Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes – lediglich – "angemes-sen" zu berücksichtigen sind (§ 97 Abs. 2 SGB III), hat indes der zuständige Rehabilitationsträger, der diese Umschulung vorgesehen hat, die Notwendigkeit dieser Weiterbildung bejaht, um die Antragstellerin beruflich einzugliedern. Im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens lässt der Senat dahinstehen, ob der Antragsgegner an diese Einschätzung des zuständigen Rehabilitationsträgers nicht ohnehin gebunden ist. Jedenfalls hat auch der Antragsgegner nicht aufgezeigt, dass eine berufliche Wiedereingliederung durch andere Maßnahmen, insbesondere durch eine andere (oder sogar ohne) berufliche Weiterbildung erreicht werden könnte. Auch dem Senat erschließen sich im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens keine anderen Maßnahmen.

Des Weiteren ist die Antragstellerin vor Beginn der Teilnahme durch die Agentur für Arbeit beraten und sogar auf deren Veranlassung ihre Eignung geprüft (und bejaht) worden. Schließlich sind auch sowohl die Maßnahme wie auch der Träger der Maßnahme für die Förderung nach § 85 SGB III zugelassen worden (Zertifikate w-11929-0 und m-11929-0 vom 5. Septem-ber 2007 der von der Anerkennungsstelle der Bundesagentur für Arbeit anerkannten Zertifizierungsstelle GUT Certifizierungsgesellschaft für Managementsysteme mbH).

Die Förderung der vom zuständigen Rehabilitationsträger vorgesehenen Umschulung zur Heilpraktikerin ist auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil diese Bildungsmaßnahme keine Weiterbildung, sondern – wie der Antragsgegner meint – eine (für erwerbsfähige behinderte Hilfebedürftige nicht förderungsfähige) Ausbildung wäre. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung sind Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen nach ihrem "objektiven Charakter" voneinander zu unterscheiden. Welcher "Charakter" allerdings "objektiv" ist (im Gegensatz offenbar zu "subjektivem Charakter") und welche Merkmale dafür maßgeblich sein sollen, ist bislang weitgehend offen gelassen. Geklärt ist insoweit lediglich, dass "Weiterbildung" (Fortbildung, aber auch Umschulung) eine Maßnahme ist, die auf einer angemessenen Berufserfahrung als Grundlage aufbaut (BSG, Urteile vom 27. Januar 2005 – B 7a/7 AL 20/04 R – und vom 17. November 2005 – B 11a AL 23/05 R –) – was sich bereits aus dem Wortsinn ergibt. "Weiterbildung" kann auch der Erwerb eines ersten Berufsabschlusses sein – in der Regel nach vorangegangener beruflicher Tätigkeit (§ 77 Abs. 2 Nr. 2 SGB III).

Danach ist hier der vorgesehenen Umschulung zur Heilpraktikerin der "objektive Charakter" einer Weiterbildung nicht abzusprechen. Der Senat lässt dabei dahinstehen, ob sich dies bereits daraus ergibt, dass diese Maßnahme von einer dafür zugelassenen fachkundigen Stelle nach § 85 SGB III als "Weiterbildungsmaßnahme" zugelassen (zertifiziert) worden ist (so B. Schmidt, in: Eicher/ Schlegel, SGB III, 56. Ergänzung [2005], vor §§ 77 bis 96, Rdnr. 2b am Ende). Jedenfalls setzt nach dem Maßnahmebogen vom 9. April 2008 (für die Maßnahmenummer ; Bl. 32 bis 34 der Reha-Akte) die Teilnahme nicht nur einen Schulabschluss, sondern eine Berufsausbildung oder Berufserfahrung in einem Gesundheitsberuf, sozialen Beruf oder ähnliche oder verwandte Tätigkeiten voraus. Mithin baut diese Maßnahme auf einer vorangegangen angemessenen beruflichen Tätigkeit auf.

Der vorläufigen Regelung durch eine einstweilige Anordnung steht nicht entgegen, dass die Entscheidung über die Förderung der beruflichen Weiterbildung auch nach § 97 SGB III im Ermessen des Leistungsträgers steht. Zum einen dürfte dem hier entgegenstehen, dass der zu-ständige Rehabilitationsträger dieses Ermessen bereits dahingehend ausgeübt hatte, dass Leistungen zur Teilhabe zu erbringen sind ("Entschließungsermessen"), und zwar durch eine Förderung der Umschulung der Antragstellerin zur Heilpraktikerin ("Auswahlermessen"). Sollte ungeachtet dessen, dass der zuständige Rehabilitationsträger bereits eine bestimmte Umschulungsmaßnahme vorgesehen hat, dem Antragsgegner gleichwohl noch ein Ermessen verbleiben, hätte er dieses nicht genutzt. Auch ist dem Vorbringen des Antragsgegners im
Beschwerdeverfahren nicht zu entnehmen, dass und aufgrund welcher Ermessenserwägungen eine Maß-nahme überhaupt nicht oder eine (welche) andere Maßnahme in Betracht kommen sollte. Jedenfalls ist zur Abwendung wesentlicher Nachteile für die Antragstellerin im vorliegenden Fall eine vorläufige Regelung auch ungeachtet eines möglicherweise noch verbleibenden Ermessensspielraums geboten.

Die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung zum jetzigen Zeitpunkt (Anordnungsgrund) ergibt sich zum einen aus dem angesichts der Arbeitslosigkeit der Antragstellerin bestehenden dringenden Rehabilitationsbedarf, ihrem Lebensalter, der Dauer der Ausbildung und der Notwendigkeit, sie so schnell wie möglich dauerhaft in Arbeit einzugliedern, um ihren Lebensunterhalt unabhängig von Leistungen des Antragsgegners aus eigenen Kräften und Mitteln bestreiten zu können (§ 1 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Angesichts dieser Umstände kann sie nicht auf eine spätere Maßnahme verwiesen werden, zumal nicht gewiss ist, dass zu einem späteren Zeitpunkt eine solche oder vergleichbare Maßnahme angeboten werden wird.

Der Senat beschränkt die Dauer dieser vorläufigen Regelung längstens bis zum Zeitpunkt einer ersten gerichtlichen Überprüfung durch das Sozialgericht im dort anhängigen Hauptsacheverfahren (in dem sich eine Beiladung des zuständigen Rehabilitationsträgers anbieten dürfte).

Die Entscheidung über die Erstattung der Kosten beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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