L 15 VG 14/07

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 1 VG 1/07
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 VG 14/07
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts
D-Stadt vom 9. August 2007 wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des
Berufungsverfahrens zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand:


Die 1949 geborene Klägerin begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) i.V.m. den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nach dem gewaltsamen Tod ihres Sohnes A. am 31.07.1999.

Der Sohn der Klägerin A. B. ist 1974 in A-Stadt geboren. Er ist zusammen mit Kameraden der "Rechten Szene" am Samstag, den 31. Juli 1999 zu einer Feier nach W. gefahren. Bei einer Pause in Bad B. ist es zu einer Auseinandersetzung mit dem arbeitslosen, alkoholkranken Maurer L. R. gekommen. L. R. hat im Rahmen dieser Auseinandersetzung den Sohn der Klägerin A. mit einem Butterflymesser getötet. L. R. ist entsprechend dem Urteil des Landgerichts E. vom 28.02.2000 deswegen zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt worden. Die Klägerin hat mit Erstantrag vom 07.09.1999 (über den Weißen Ring) Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG gestellt (zum Beispiel Sterbegeld, Bestattungsgeld, Hinterbliebenenversorgung für Eltern). Der Antrag auf Hinterbliebenenversorgung ist mit Bescheid des Versorgungsamtes E. vom 21.06.2000 abgelehnt worden. Im Übrigen hat der Beklagte mit Bescheid des Versorgungsamtes E. vom 22.06.2000 Bestattungsgeld bewilligt.

Die Klägerin hat mit Antrag vom 19.09.2005, eingegangen beim Zentrum Bayern Familie und Soziales Region Unterfranken am 20.10.2005, eine reaktive Depression bei nicht adäquater Trauerreaktion auf den Tod des Sohnes als gesundheitliche Schädigung geltend gemacht. Dres. D. und S. D. und die Neurologische Klinik Bad N. haben mit ärztlichem Attest vom 27.09.2004 bzw. vorläufigem Entlassungsbericht vom 27.04.2005 darauf hingewiesen, dass die Klägerin nicht in der Lage sei, den Tod ihres Sohnes adäquat zu verarbeiten. Gedanklich sei sie auf ihren vor sechs Jahren ermordeten Sohn eingeengt. Bei entsprechender Motivation käme ggf. eine weitere psychotherapeutische Behandlung in Betracht. Nach Beiziehung weiterer ärztlicher Unterlagen hat der Beklagte ein versorgungsärztliches Gutachten durch den Nervenarzt Dr. B. eingeholt. Dieser hat die bestehende Schädigungsfolge "chronifizierte posttraumatische Belastungsstörung infolge der Ermordung des Sohnes A. am 31.07.1999" mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 10 v.H. bewertet.

Der Beklagte hat weiter eine psychiatrische Begutachtung durch die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie R. E. veranlasst. Diese hat mit psychiatrischem Gutachten vom 20.10.2006 als Schädigungsfolge eine "posttraumatische Belastungsstörung mit bei Wiedererinnerung auftretenden Panikzuständen" sowie "rezidivierende depressive Störung, derzeit schwere Episode, ohne psychotische Symptome" beschrieben und die schädigungsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit derzeit 50 v.H. bewertet. Schädigungsunabhängig ist ein hirnorganisches Psychosyndrom mit Angst und Panik beim Alleinsein sowie Angst vor einem erneuten Schlaganfall und Schlafstörungen beschrieben worden.

Im Folgenden hat der Beklagte mit Bescheid des Versorgungsamtes E. vom 25.01.2007 als Schädigungsfolgen im Sinne des OEG anerkannt: "Posttraumatische Belastungsstörung mit bei Wiedererinnerung auftretenden Panikzuständen sowie rezidivierende depressive Störung, derzeit schwere Episode ohne psychotische Symptome". Die MdE - nunmehr Grad der Schädigungsfolgen (GdS) - ist beginnend ab 01.10.2005 mit 50 v.H. gemäß § 30 Abs.1 BVG bewertet worden.

Die Klägerin hat mit Schreiben vom 01.02.2007 darauf hingewiesen, dass sie schon am 14.09.1999 einen Antrag nach dem OEG gestellt habe. Der Beklagte hat mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 05.04.2007 ausgeführt, dass kein Anspruch auf eine rückwirkende Leistungsgewährung vor dem 01.10.2005 bestehe. Eine Korrektur des Bescheides vom 25.01.2007 gemäß § 44 SGB X werde abgelehnt. Ursprünglich habe sie nur Elternversorgung, Sterbe- und Bestattungsgeld begehrt. Erstmals seien mit Antrag vom 19.10.2005, eingegangen am 20.10.2005 im Versorgungsamt D-Stadt, Leistungen auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG geltend gemacht worden.

Der hiergegen gerichtete Widerspruch vom 13.04.2007 ist mit Widerspruchsbescheid des Landesamtes für Soziales und Familie vom 04.05.2007 zurückgewiesen worden.

In dem sich anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Würzburg mit Urteil vom 09.08.2007 - S 1 VG 1/07 - für Recht erkannt: Unter Aufhebung des Bescheides vom 05.04.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.05.2007 wird der Beklagte verurteilt, bereits für die Zeit ab 01.09.1999 Versorgungsrente nach den gesetzlichen Bestimmungen des OEG zu bewilligen. Denn das Schreiben des Weißen Rings vom 12.09.1999 stelle auch einen Antrag auf Bewilligung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG unter Zugrundelegung der eigenen Gesundheitsstörungen dar. Auf die juristisch eindeutige Formulierung oder Bezeichnung des Anspruches sei es bei der Klägerin als juristischen Laien nicht angekommen.

Die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten vom 05.09.2007 ging am 10.09.2007 beim Bayer. Landessozialgericht (BayLSG) ein. Zur Begründung hob der Beklagte hervor, mit den damaligen Unterlagen, insbesondere dem Anschreiben des Weißen Rings seien nur die Prüfung des Anspruches auf Versorgungsleistungen wie Sterbegeld, Bestattungsgeld und Hinterbliebenenversorgung für Eltern begehrt und der Antragstellerin folgerichtig ein Antragsformular bezüglich Elternversorgung zugesandt worden. Hierauf und auch auf den Hinweis wegen des irrtümlich ausgefüllten Beschädigtenantrags sei keine gegenteilige Reaktion seitens der Antragstellerin erfolgt. Eine Begehr bzw. die Beantragung von Versorgung wegen eigener bei der Antragstellerin vorhandener Gesundheitsstörungen gehe aus keiner der bis zur Antragstellung im Jahr 2005 vorhandenen Unterlagen hervor. Auch nach "Wilke - Soziales Entschädigungsrecht" müsse der Antrag auf alle nach Lage des Falles in Betracht kommenden Leistungen gerichtet sein. Jedoch habe sich auch im gesamten weiteren Schriftverkehr mit dem Weißen Ring und dem Rechtsanwalt der Klägerin in der Hinterbliebenenangelegenheit keine auch nur ansatzweise Andeutung auf einen bei der Antragstellerin selbst vorliegenden Gesundheitsschaden (Schockschaden) gefunden.

Von Seiten des BayLSG wurden die Versorgungsakten des Beklagten und die erstinstanzlichen Unterlagen beigezogen, ebenso die Schwerbehinderten-Akten des Freistaates Bayern. Dort findet sich im Rahmen des Neufeststellungsantrages, der am 02.09.2004 beim Amt für Versorgung und Familienförderung D-Stadt eingereicht worden ist, das bereits vorstehend erwähnte Attest der Gemeinschaftspraxis Dres. D. und S. D. vom 27.09.2004, nach welchem im Vordergrund der Beschwerden bei der Klägerin die reaktive Depression und die psychovegetative Erschöpfung nach Ermordung des Sohnes vor einigen Jahren stehe. Dieses Geschehen sei von der Klägerin nach wie vor nicht verarbeitet. Psychotherapeutische Hilfe sei von ihr jedoch bis jetzt abgelehnt worden. Erschwerend seien in den letzten Monaten auch Probleme am Arbeitsplatz hinzugekommen, was auch zu häufigeren Arbeitsunfähigkeiten bei der Klägerin geführt habe. Von Seiten des Skelettapparates sei im April 2004 eine schwere Osteoporose diagnostiziert worden. Außerdem sei bei der Klägerin noch eine Hypertonie bekannt, die empfohlene medikamentöse Therapie werde jedoch auch nicht eingenommen.

Nach Überprüfung der gesamten Unterlagen hat das BayLSG die Beteiligten mit Nachricht vom 09.11.2007 darauf aufmerksam gemacht, dass in den Schwerbehindertenakten des ZBFS Region Unterfranken mit am 02.09.2004 eingegangenen Antrag auch auf die psychische Problematik nach Verlust des Sohnes unmissverständlich hingewiesen worden sei. Insoweit wäre eine Nachfrage und Weiterleitung gemäß § 16 Abs.2 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil (SGB I) angezeigt gewesen, die nicht erfolgt sei. Die Würdigung der aktenkundigen medizinischen Unterlagen läge in Berücksichtigung der weiteren Schicksalsschläge der Klägerin nahe, dass im Zeitraum September 2004 bis einschließlich September 2005 ein GdS um 40 v.H. sachgerecht erscheine (vgl. Rz.26.3 der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit").

Beiden Beteiligten wurde antragsgemäß Akteneinsicht bewilligt. Der Beklagte schloss sich der Auffassung des Berichterstatters am BayLSG an und unterbreitete mit Schriftsatz vom 18.12.2007 ein entsprechendes Vergleichsangebot: Der GdS beträgt vom 01.09.2004 bis 30.09.2005 40 v.H. und ab 01.10.2005 wie bisher 50 v.H.

Die Bevollmächtigte der Klägerin führte mit umfassendem Schriftsatz vom 31.01.2008 aus, dass mindestens von einer MdE von 40 v.H. auch vor dem September 2004 auszugehen sei, weil seit dem Tod des Sohnes die Störungsbilder bis zum heutigen Zeitpunkt unverändert bestünden.

Der Klägerin wurde mit Beschluss des BayLSG vom 25.02.2008 antragsgemäß Prozesskostenhilfe (PKH) bewilligt und Frau Rechtsanwältin S. beigeordnet.

In der mündlichen Verhandlung vom 19.08.2008 stellt der Bevollmächtigte des Beklagten den Antrag,
das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 09.08.2007 insoweit aufzuheben, als es über das Vergleichsangebot vom 18.12.2007 hinausgeht, und insoweit die Klage abzuweisen.

Die Bevollmächtigte der Klägerin beantragt,
die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 09.08.2007 zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird gemäß § 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i.V.m. § 540 der Zivilprozessordnung (ZPO) sowie entsprechend § 136 Abs.2 SGG auf die Unterlagen des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen. Gleiches gilt für die beigezogenen Schwerbehinderten-Akten des Freistaates Bayern.



Entscheidungsgründe:


Die Berufung des Beklagten ist gemäß §§ 143, 144 und 151 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig, jedoch unbegründet.

Das Sozialgericht Würzburg (SG) hat mit Urteil vom 09.08.2007 zutreffend ausgeführt, dass der Beklagte bereits für die Zeit ab 01.09.1999 Versorgungsrente nach den gesetzlichen Bestimmungen des OEG zu bewilligen hat. Das BayLSG sieht gemäß § 153 Abs.2 SGG insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab, weil es die Berufung aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung als unbegründet zurückweist.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass grundsätzlich ein Antrag eines Versorgungsberechtigten so zu verstehen, dass er alle ihm gesetzlich zustehenden Leistungen begehrt, auch diejenigen, die er nicht ausdrücklich benennt (vgl. BSG mit Urteil vom 01.04.1981 - Az.: 9 RV 49/80 in SozR 3100 § 48 Nr.7; BSG mit Urteil vom 28.10.1975. Az.: 9 RV 458/74 - in SozR 3100 § 35 Nr.1; BSG mit Urteil vom 08.12.1982 - Az.: 9a RV 22/82 - in SozR 3100 § 31 Nr.22).

Diese Auslegung drängt sich hier umso mehr auf, als der Leistungsträger allgemein einen Berechtigten, der bei ihm vorstellig wird, nach § 7 Abs.2 KOV-VfG a.F. sowie nunmehr nach den §§ 14, 16 Abs.3 und 17 Abs.1 Nr.1 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB I) unverzüglich darauf hinweisen muss, welche Rechte er geltend machen kann (BSG mit Urteil vom 25.06.1985 - 9a RV 61/83 -). Da es hier der Beklagte unterlassen hatte, in dem auf Antrag der Klägerin eingeleiteten Verwaltungsverfahren die Antragstellerin zu beraten, hätte er bei der gebotenen Auslegung des Antrags auch ohne ausdrückliche Ergänzung von einem sachdienlichen Begehren auf Anerkennung einer eigenen Versorgungsrente nach den Vorschriften des OEG i.V.m. dem BVG ausgehen müssen. Dies gilt um somehr, als vorliegend ausweislich des Begleitschreibens des Weißen Rings vom 12.09.1999 die dort genannten Sterbegeld, Bestattungsgeld, Hinterbliebenenversorgung nur beispielhaft genannt worden sind.

Nach alledem ist die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 09.08.2007 zurückzuweisen. Nachdem vorliegend der Klägerin somit nur Versorgungsleistungen beginnend ab 01.09.1999 dem Grunde nach zugesprochen worden sind (§ 130 Abs.1 SGG), hat der Beklagte noch den Umfang der zu bewilligenden Versorgungsleistungen zu prüfen und zu verbescheiden.

Die Entscheidung über die Kosten beruht §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs.2 Nrn. 1 und SGG).
Rechtskraft
Aus
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