S 6 AS 45/08

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 6 AS 45/08
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 22.02.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14.04.2008 in der Fassung des Bescheides vom 23.05.2008 wird aufgehoben. Der Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Anrechnung von Vollverpflegung während eines stationären Klinikaufenthalts auf die Regelleistung des Klägers.

Der am ??.??.???? geborene Kläger steht seit 2007 bei dem Beklagten im Bezug von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Mit Bescheid vom 22.01.2008 bewilligte der Beklagte ihm für den Zeitraum vom 01.02.2008 bis 31.08.2009 u.a. Regelleistungen in Höhe von 347,00 EUR monatlich. Unter dem ??.??.2008 erklärte der Kläger gegenüber dem Beklagten, ab dem ??.??.2008 stehe ein stationärer Klinikaufenthalt im Fachklinikum T in R an, dessen Ende noch nicht absehbar sei. Der Beklagte führte aus, die im Rahmen des stationären Klinikaufenthalts erhaltene Vollverpflegung sei als Einkommen zu berücksichtigen. Ab 01.03.2008 sei ein Betrag in Höhe von 121,45 EUR, bereinigt um die Versicherungspauschale in Höhe von 30,00 EUR, anzurechnen. Mit Bescheid vom 22.02.2008 änderte der Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 22.01.2008 ab und rechnete für die Zeit vom 01.03.2008 bis 31.12.2008 einen Betrag in Höhe von monatlich 91,45 EUR als Einkommen an. Zur Begründung führte er aus, die dem Kläger im Rahmen des stationären Klinikaufenthalts gewährte Vollverpflegung sei nach § 2 Abs. 5 Satz 1 der Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung (Alg II-V) pauschal in Höhe von monatlich 35% der gewährten Regelleistung als Einkommen zu berücksichtigen. Der Kläger legte am 04.03.2008 Widerspruch ein und führte aus, die Berücksichtigung von Vollverpflegung in Höhe von 35% der ihm gewährten Regelleistung während des stationären Krankenhausaufenthaltes sei rechtswidrig. Überdies sei zu berücksichtigen, dass durch diesen Aufenthalt eine Fülle weiterer notwendiger Aufwendungen anfielen. Nachdem der Beklagte mitgeteilt hatte, dass mit dem Klinikaufenthalt verbundene notwendige Aufwendungen gegebenenfalls in Abzug gebracht werden könnten, wenn der Kläger entsprechende Aufwendungen nachweise, legte der Kläger eine schriftliche Aufstellung der mit dem stationären Aufenthalt verbundenen notwendigen Aufwendungen vor und führte aus, entsprechende Belege könne er nicht mehr vorlegen.

Daraufhin wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14.04.2008 zurück und führte zur Begründung aus, mit dem Klinikaufenthalt verbundene notwendige zusätzliche Ausgaben seien vom Kläger nicht nachgewiesen worden.

Hiergegen richtet sich die am 29.04.2008 erhobene Klage.

Nach Ende des stationären Klinikaufenthaltes des Klägers am ??.??.2008 hat der Beklagte mit Bescheid vom 23.05.2008 die über den Monat Mai 2008 hinausgehende Berücksichtigung von Vollverpflegung als Einkommen aufgehoben.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 22.02.2008 in der Fassung des Widerspruchs- bescheides vom 14.04.2008 in der Fassung des Bescheides vom 23.05.2008 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beteiligten wiederholen und vertiefen ihr bisheriges Vorbringen.

Das Gericht hat zur Aufklärung des Sachverhaltes eine schriftliche Auskunft des Fachklinikums T vom ??.??.2008 eingeholt. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Gegenstand des Klageverfahrens ist der Bescheid vom 22.02.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14.04.2008 in der Fassung des Bescheides vom 23.05.2008. Letzterer ist nach § 96 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Klageverfahrens geworden, weil er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und die angefochtenen Bescheide abgeändert hat.

Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet. Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert, da sie rechtswidrig sind.

Rechtsgrundlage für die Abänderung des Bewilligungsbescheides vom 22.01.2008 ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X). Jedoch liegen die materiellen Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht vor. Zwar handelt es sich bei dem Bewilligungsbescheid vom 22.01.2008 um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung und in den tatsächlichen Verhältnissen, die bei Erlass dieses Verwaltungsaktes vorgelegen haben ist auch insofern eine Änderung eingetreten, als der Kläger sich in der Zeit vom ??.??. bis ??.??.2008 stationär im Fachklinikum T befunden und dort eine Vollverpflegung erhalten hat, wie das Fachklinikum T am ??.??.2008 mitgeteilt hat. Es fehlt indessen an der "Wesentlichkeit" der Änderung. Wesentlich im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist die Änderung nur, soweit der Verwaltungsakt nach den nunmehr eingetretenen tatsächlichen Verhältnissen so, wie er ergangen ist, nicht mehr erlassen werden dürfte. Die tatsächliche Änderung muss also rechtlich zu einer anderen Bewertung führen, was nach dem jeweiligen Leistungsrecht zu beurteilen ist (BSG, Urteil vom 19.02.1986, 7 RAr 55/94, SozR 1300 § 48 Nr. 22; Schütze, in: von Wulffen, SGB X, 6. Auflage 2008, § 48 Rdnr. 12). Zwar hat der Beklagte dies unter Hinweis auf § 2 Abs. 5 Satz 1 Alg II-V in der ab 01.01.2008 gültigen Fassung (vom 17. Dezember 2007, BGBl. I S. 2942, vgl. § 10 Satz 1 Alg II-V) angenommen und es sind die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift auch erfüllt. Dennoch folgt hieraus keine rechtlich andere Bewertung, weil § 2 Abs. 5 Satz 1 Alg II-V mit höherrangigem Recht unvereinbar und damit im konkreten Fall nicht anzuwenden ist.

Rechtsverordnungen im Sinne von Art. 80 des Grundgesetzes (GG) dürfen insbesondere nicht über die Ermächtigung hinausgehen, d.h. sie müssen sich im Rahmen der durch das ermächtigende Parlamentsgesetz gezogenen Grenzen bewegen (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 12.10.1976, 1 BvR 197/73, BVerfGE 42, 374 ff.; Urteil vom 06.07.1999, 2 BvF 3/90, BVerfGE 101, 1 ff.; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 9. Auflage 2007, Art. 80 Rdnr. 20). Die Prüfung von Rechtsverordnungen auf Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht obliegt dabei jedem Richter (siehe nur Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 9. Auflage 2007, Art. 20 Rdnr. 40; LSG Hamburg, Urteil vom 08.08.2006, L 4 SB 22/05 - juris). Gelangt das Fachgericht hierbei zur Unvereinbarkeit einer Rechtsverordnung mit der Ermächtigungsgrundlage, hat dies die Nichtigkeit der Rechtsverordnung zur Folge, die jedoch im fachgerichtlichen Verfahren lediglich zur Unanwendbarkeit der Rechtsverordnung im konkreten Fall führt. Denn das Fachgericht ist allein befugt, die Nichtigkeit der Rechtsverordnung zwischen den Beteiligten dieses Verfahrens, nicht hingegen mit allgemeinverbindlicher Wirkung festzustellen (zum Verwerfungsrecht des Richters für untergesetzliche Normen vgl. Sachs, in: ders., GG, 3. Auflage Art. 20 Rdnr. 96).

Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben war die Vorschrift des § 2 Abs. 5 Satz 1 Alg II-V im konkreten Fall nicht anzuwenden, weil ihr Inhalt von der Ermächtigungsgrundlage des § 13 SGB II nicht gedeckt ist und weil sie weiter von dem im SGB II in verschiedenen Vorschriften zum Ausdruck kommenden Prinzip der Pauschalierung der Regelleistung abweicht, ohne dass der Parlamentsgesetzgeber hierzu ermächtigt hätte.

§ 2 Abs. 5 Satz 1 Alg II-V ist von der Ermächtigungsgrundlage des § 13 SGB II nicht gedeckt. Insbesondere scheidet § 13 Abs. 1 Nr. 1, 1. Alt. SGB II als Ermächtigungsgrundlage aus. Denn nach dem klaren Wortlaut dieser Vorschrift hat der Parlamentsgesetzgeber lediglich zur Konkretisierung dessen ermächtigt, was nicht als Einkommen anzusehen ist, nicht aber was - im Sinne einer positiven Definition - als Einkommen anzusehen ist. Hiervon aber geht § 2 Abs. 5 Satz 1 Alg II-V zweifellos aus. Denn danach ist "bereitgestellte Vollverpflegung pauschal in Höhe von monatlich 35 Prozent der nach § 20 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch maßgebenden Regelleistung als Einkommen zu berücksichtigen". Auf § 13 Abs. 1 Nr. 1, 2. Alt. SGB II läßt sich § 2 Abs. 5 Satz 1 Alg II-V ebenfalls nicht stützen. Denn danach kann durch Rechtsverordnung bestimmt werden, wie das Einkommen zu berechnen ist. Die Vorschrift setzt also bereits voraus, dass Einnahmen als Einkommen ("das Einkommen") anzusehen sind und ermächtigt nicht zur Bestimmung, ob bestimmte Vorteile als Einkommen anzusehen sind, sondern lediglich zur Konkretisierung der Berechnung dieses Einkommens in Einzelfall. Auch auf § 13 Abs. 1 Nr. 3 SGB II läßt sich § 2 Abs. 5 Satz 1 Alg II-V nicht stützen. Denn diese Vorschrift ermächtigt lediglich zur näheren Bestimmung, welche Pauschbeträge für die von dem Einkommen abzusetzenden Beträge zu berücksichtigen sind. Auch sie verleiht dem Verordnungsgeber nicht im Sinne einer Positivdefinition die Befugnis, näher zu konkretisieren, was als Einkommen zu berücksichtigen ist.

§ 2 Abs. 5 Satz 1 Alg II-V ist darüber hinaus auch deshalb nicht anzuwenden, weil diese Vorschrift gegen das im SGB II geltende Prinzip einer Pauschalierung der Regelsätze verstößt, das eine abweichende Festlegung von Bedarfen nicht vorsieht. Die stationäre Vollverpflegung ist nach § 20 Abs. 1 SGB II Bestandteil der Regelleistung ("Ernährung"). Nach dem Regelungskonzept des SGB II jedoch geht der Gesetzgeber davon aus, dass die in § 20 Abs. 1 SGB II genannten Bedarfe mit der Regelleistung (hier noch in Höhe von 347,00 Euro, § 20 Abs. 2 SGB II i.V.m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelleistung nach § 20 Abs. 2 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch vom 18.06.2007 [BGBl. I S.1139]) abschließend und pauschalierend gedeckt werden können. Dies zeigt u.a. die durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.07.2006 (BGBl. I S. 1706) eingefügte Vorschrift des § 3 Abs. 3 Satz 2 SGB II, in der eine abweichende Festlegung der Bedarfe ausdrücklich ausgeschlossen wird. § 23 Abs. 1 Satz 4 SGB II flankiert dieses Prinzip, indem weitergehende Leistungen ausgeschlossen werden. Mit diesen Regelungen wollte der Gesetzgeber nochmals betonen, dass er die pauschalierten Leistungen des SGB II als bedarfsdeckend ansieht (vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 18.6.2008, B 14 AS 22/07 R, abrufbar unter www.bsg.bund.de ; Spellbrink, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 3 Rdnr. 17). Die Gesetzesbegründung bestätigt den abschließenden Charakter dieser pauschalierten Leistungen (siehe Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales, BT-Drs. 16/1696, S. 26: "Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts werden mit Ausnahme der Kosten der Unterkunft und der Heizung grundsätzlich in pauschalierter Form erbracht. Sie decken den allgemeinen Bedarf der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und der Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, abschließend").

Ein wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen liegt weiter auch nicht deshalb vor, weil die Vollverpflegung des Klägers während seines stationären Klinikaufenthalts unmittelbar gestützt auf § 11 Abs. 1 SGB II und ohne Rückgriff auf die unanwendbare Vorschrift des § 2 Abs. 5 Satz 1 Alg II-V als Einkommen anzusehen wäre. Denn nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind als Einkommen lediglich Einnahmen in Geld oder Geldeswert zu berücksichtigen. Hieran indessen fehlt es bei der dem Kläger zur Verfügung gestellten Vollverpflegung. Denn anders als die einem unbestimmten Personenkreis regelmäßig angebotene Verpflegung, etwa im Rahmen sog. "Tafeln" oder Suppenküchen (vgl. Rixen, SGb 2008, S. 501 ff.), ist die Verpflegung des Klägers untrennbar mit seinem Klinikaufenthalt verbunden. Sie kommt nur ihm zu Gute, der Anspruch auf sie ist nicht auf andere Personen übertragbar. Die im Rahmen eines stationären Klinikaufenthalts zur Verfügung gestellte Verpflegung ist damit nicht gegen Geld tauschbar. Ihr ist aus diesem Grund kein wirtschaftlicher (Markt-)wert beizumessen, der es erlauben würde, sie als geldwerte Einnahme im Sinne von § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu qualifizieren.

Schliesslich kann die dem Kläger zur Verfügung gestellte Vollverpflegung auch nicht unter dem Gesichtspunkt ersparter Aufwendungen als Einkommen im Sinne von § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II angesehen werden. Eine solche Auslegung von § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II verbietet sich bereits vor dem Hintergrund des im SGB II verankerten Prinzips der pauschalierten und abschließenden Festlegung der Bedarfe, das eine hiervon abweichende Festlegung - wie gezeigt - nicht zulässt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Kammer hat die Berufung zugelassen, weil sie der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimißt (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Denn die abstrakt-generelle Regelung des § 2 Abs. 5 Satz 1 AlG II-V betrifft eine Vielzahl von Einzelfällen. Zur Fassung dieser Vorschrift ab 01.01.2008 aber liegt - soweit ersichtlich - bislang keine obergerichtliche Rechtsprechung vor.

Berufung, wenn das Sozialgericht die Revision zugelassen hat.
Rechtskraft
Aus
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