L 5 B 2273/08 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 114 AS 36290/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 5 B 2273/08 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 27. November 2008 abgeändert.

Soweit der Antragsgegner zur Gewährung von Leistungen für die Zeit vom 19. bis 30. November 2008 verpflichtet worden ist, wird der Beschluss aufgehoben. Der diesbezügliche Antrag der Antragstellerinnen wird abgewiesen.

Im Übrigen wird der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, für Dezember 2008 den Antragstellerinnen 80% der ihnen zustehenden Leistungen nach dem SGB II zu zahlen, das heißt der Antragstellerin zu 1) einen Betrag von 506,08 Euro und der Antragstellerin zu 2) einen Betrag von 294,88 Euro.

Die darüber hinaus gehende Beschwerde des Antragsgegners wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat den Antragstellerinnen 2/3 ihrer Kosten für beide Instanzen zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin zu 1) ist 1979 geboren und bulgarischer Staatsangehörigkeit. Sie ist seit dem 30. Juli 2007 in Berlin polizeilich gemeldet. Am 14. August 2007 meldete sie ein Gewerbe für "erotische Massage" an. Ausweislich einer von ihr im November 2008 gefertigten Steuererklärung habe sie im Kalenderjahr 2007 aus dieser selbständigen Tätigkeit einen Gewinn von 4.500 Euro erzielt und laut einer am 16. Dezember 2008 verfassten eidesstattlichen Erklärung von Januar bis September 2008 10.000 Euro. Nachdem sie ihren Angaben nach mehrere Monate bei Freunden zur Untermiete gewohnt habe, bewohnte sie ab März 2008 für einen monatlichen Mietzins von 250 Euro ein Zimmer zur Untermiete in der P in Berlin-. Aufgrund von Schwangerschaft stellte sie ihr Gewerbe am 19. August 2008 vorübergehend ein, was sie inzwischen auch dem Finanzamt angezeigt hat. Erstmals beantragte sie Leistungen nach dem SGB II am 19. August 2008 beim Jobcenter Tempelhof-Schöneberg, das den Antrag bisher noch nicht beschieden hat.

Mit Bescheid vom 27. August 2008 stellte das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten – Ausländerbehörde – gemäß § 5 Abs. 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügigG/EU) den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt der Antragstellerin zu 1) fest. Zugleich drohte es die Abschiebung an. Zur Begründung heißt es, die Antragsstellerin zu 1) habe nicht nachgewiesen, dass sie mit ihrem Gewerbe ihren Unterhalt habe bestreiten können. Der Tatbestand der Erwerbstätigkeit liege nicht mehr vor. Sie verfüge weder über eine Krankenversicherung noch über ausreichende Existenzmittel. Die dadurch erforderliche Inanspruchnahme öffentlicher Mittel liege nicht im öffentlichen Interesse. Gegen diesen Bescheid legte die Antragstellerin am 28. September 2008 vor dem Verwaltungsgericht Berlin Klage ein, die aufschiebende Wirkung entfaltet. Außerdem stellte sie einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zum Schutz gegen die angedrohte Abschiebung. Ihren Angaben nach ist in beiden Verfahren noch keine Entscheidung gefallen. Am 19. September 2008 gebar die Antragstellerin zu 1) in Berlin die Tochter A, die Antragstellerin zu 2). Der Vater des Kindes ist unbekannt. Seit dem 14. Oktober 2008 wohnen die Antragstellerinnen in einem Eltern-Kind-Projekt der A- Lebensnetz gGmbH unter der aus dem Rubrum ersichtlichen Anschrift in Berlin-Lichtenberg. Hierfür übernahm das Jugendamt des Bezirks Tempelhof-Schöneberg von Berlin durch Bescheid vom 14. Oktober 2008 in Anwendung von § 19 Achtes Buch Sozialgesetzbuch – Kinder- und Jugendhilfe – (SGB VIII) die Kosten bis einschließlich 30. November 2008. Ab Dezember 2008 betragen die Kosten für diese Unterkunft im Monat 321,60 Euro bruttowarm.

Am 11. November 2008 beantragten die Antragstellerinnen Leistungen nach dem SGB II beim Antragsgegner. Mit Fax vom 17. November 2008 nahmen sie diesen Antrag zurück, mit Fax vom 18. November 2008 erklärten sie diese Rücknahme für gegenstandslos. Mit Schreiben vom 20. November 2008 forderte der Antragsgegner zur Bearbeitung des Antrags weitere Unterlagen an, so eine Freizügigkeitsbescheinigung und Nachweise über eine Kranken- und Rentenversicherung.

Auf den entsprechenden Antrag der Antragstellerinnen vom 19. November 2008 hat das Sozialgericht Berlin mit Beschluss vom 27. November 2008 den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellerinnen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II vorläufig beginnend ab dem 19. November 2008 bis zum 31. Dezember 2008 zu gewähren. Es sei glaubhaft gemacht, dass der Antragstellerin zu 1) die Erwerbstätigkeit in Deutschland gestattet sei oder gestattet werden könne, so dass ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 SGB II nicht gegeben sei.

Hiergegen hat der Antragsgegner am 28. November 2008 Beschwerde eingelegt. Der Tenor des Beschlusses sei nicht vollstreckbar und damit rechtsfehlerhaft. Die Antragstellerinnen hätten bisher keine Leistungen nach dem SGB II erhalten, Unterlagen über die anfallenden Kosten für Unterkunft und Heizung würden nicht vorliegen. Es sei bisher nicht einmal abschließend geklärt, ob die Antragstellerinnen überhaupt leistungsberechtigt seien.

Der Antragsgegner beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 27. November 2008 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzuweisen.

Die Antragstellerinnen beantragen,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Antragstellerin zu 1) sei aufenthaltsberechtigt, da sie selbständig erwerbstätig gewesen sei und sich in Elternzeit befinde, die Antragstellerin zu 2) sei ihre Familienangehörige. Eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügigG/EU hätten die Antragstellerinnen noch nicht, diese habe indes ohnehin nur deklaratorische Bedeutung. Den Antragstellerinnen drohe die Obdachlosigkeit, wenn die Kosten für die Unterkunft nicht vom Antragsgegner übernommen würden. Zur Glaubhaftmachung haben die Antragstellerinnen unter anderem eine Bescheinigung des Vermieters über die Kosten der derzeit bewohnten Unterkunft sowie ein befürwortendes Schreiben des Sozialpädagogischen Dienstes des Bezirksamtes Tempelhof-Schöneberg von Berlin eingereicht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

II.

Die nach §§ 172 Abs. 1 und 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist teilweise begründet. Das Sozialgericht hat den Tenor seines Beschlusses rechtsfehlerhaft formuliert und außerdem den Antragsgegner zu Unrecht zur Leistungsgewährung für November 2008 verpflichtet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf einen Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Entscheidungserhebliche Angaben sind dabei von den Beteiligten glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung).

Zusammengefasst müssen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung regelmäßig zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Zum einen muss es im Ergebnis einer Prüfung der materiellen Rechtslage überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Antragsteller mit seinem Begehren im hauptsächlichen Verwaltungs- oder Klageverfahren erfolgreich sein wird (Anordnungsanspruch). Zum anderen muss eine gerichtliche Entscheidung deswegen dringend geboten sein, weil es dem Antragsteller wegen drohender schwerwiegender Nachteile nicht zuzumuten ist, den Ausgang eines Hauptverfahrens abzuwarten (Anordnungsgrund).

In Anlegung dieses Maßstabes sind die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nur teilweise erfüllt.

Hinsichtlich des Monats November 2008 fehlt es sowohl an einem Anordnungsanspruch als auch an einem Anordnungsgrund. Die Antragstellerinnen waren nicht dringend hilfebedürftig, denn bis zum 30. November 2008 waren sie auf Veranlassung des Jugendamtes Tempelhof-Schöneberg in einer betreuten Wohnform untergebracht.

Für den Monat Dezember 2008 ist indes das Vorliegen eines Anspruchs auf Leistungen nach dem SGB II glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin zu 1) hat durch aktuelle Kontoauszüge und Schreiben des kontoverwaltenden Bankinstituts ausreichend belegt, dass sie hilfebedürftig im Sinne von § 9 SGB II ist. Die Kostenübernahme des Jugendamtes Tempelhof-Schöneberg war befristet bis 30. November 2008.

Sie hat auch dargelegt, dass sie nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen ist, ihr Aufenthaltsrecht sich also nicht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Soweit sich der Sachverhalt mit den im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zur Verfügung stehenden Mitteln aufklären ließ, ist die Antragstellerin zu 1) jedenfalls vom 14. August 2007 bis zu ihrer Meldung beim Jobcenter Tempelhof-Schöneberg am 19. August 2008 selbständig erwerbstätig gewesen. Es ist ganz überwiegend wahrscheinlich, dass sie in Berlin eine niedergelassene Tätigkeit mit dem Ziel des wirtschaftlichen Fortkommens tatsächlich ausgeübt hat. Zum Beleg dieses Umstandes hat sie eine entsprechende Gewerbeanmeldung und eine Einkommenssteuererklärung für 2007 vorgelegt. Fürsorgeleistungen hat sie in diesem Zeitraum nicht beansprucht. Nachvollziehbar hat sie vorgetragen, ihre Tätigkeit wegen der Geburt des Kindes vorläufig für eine Elternzeit unterbrochen zu haben. Ihr Aufenthaltsrecht folgt damit zumindest aus einer entsprechenden Anwendung von § 2 Abs. 3 Nr. 1 und 2 FreizügigG/EU, wonach das Recht auf Freizügigkeit bei vorübergehender Erwerbsminderung oder unfreiwilliger Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hat, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit während der Dauer von sechs Monaten unberührt bleibt. Was für die unfreiwillige Aufgabe einer Erwerbstätigkeit aufgrund von Krankheit oder äußeren Umständen aus dem Wirtschaftsleben gilt, muss bei sachgerechter Auslegung auch bei einer vergleichbaren Einstellung der Erwerbstätigkeit aufgrund von Schwangerschaft und Geburt gelten. Nicht völlig ausgeräumte Zweifel hinsichtlich der Frage, wie hoch das Einkommen tatsächlich gewesen ist und inwiefern es zur Sicherung des Lebensunterhaltes ausgereicht hat, können vorliegend dahin gestellt bleiben, da sie nicht ausschlaggebend für die Frage nach dem Vorliegen einer Erwerbstätigkeit sind. Im Übrigen sind verbleibende Zweifel jedenfalls im vorliegenden Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung aufgrund einer Folgenabwägung hinzunehmen. Wie auch vom Sozialpädagogischen Dienst des Bezirksamtes Tempelhof-Schöneberg von Berlin vorgebracht, würden sich die Antragstellerin zu 1) und ihre erst vor wenigen Wochen geborenen Tochter ohne unterhaltsichernde Leistungen in einer schweren Notlage befinden.

Das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 2) ergibt sich aus § 3 Abs. 1 FreizügG/EU, da sie mit der Antragstellerin in absteigender Linie verwandt und noch nicht 21 Jahre alt ist (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU). Sie ist als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft der Antragstellerin zu 1) anspruchsberechtigt nach dem SGB II (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II).

Die Antragstellerin zu 1) hat damit einen Anspruch aus § 20 Abs. 2 (Regelleistung 347 Euro), § 22 (Kosten der Unterkunft und Heizung zur Hälfte = 160,60 EUR) und § 21 Abs. 3 Nr. 1 SGB II (Alleinerziehendenzuschlag 125 Euro). Dies ergibt einen Gesamtbedarf von 632,60 Euro. Um eine vollständige Vorwegnahme des Hauptsacheverfahrens zu vermeiden, werden ihr hiervon im Rahmen der einstweiligen Anordnung 80 % zugesprochen, mithin ein Betrag 506, 08 Euro.

Der Bedarf der Antragstellerin zu 2) folgt aus § 28 Abs. 1 Nr. 1 SGB II (Sozialgeld 208 Euro) und § 22 SGB II (Kosten der Unterkunft und Heizung zur Hälfte = 160,60 Euro). Auch hiervon sind nur 80 % zu gewähren, also 294,88 Euro.

Entsprechend war der Tenor des Beschlusses neu zu fassen. Der Tenor des angefochtenen Beschlusses war bereits deswegen fehlerhaft, da er nicht erkennen ließ, welche Leistung der Antragsgegner erbringen sollte. Die zu beanspruchenden Leistungen oder auch nur der Bedarf der Antragstellerinnen ließen sich dem Beschluss auch nicht durch Auslegung des Tatbestandes oder der Entscheidungsgründe entnehmen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Sie berücksichtigt, dass die Antragstellerinnen mit ihrem Begehren nur teilweise erfolgreich gewesen sind.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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