L 20 B 2078/08 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
20
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 156 AS 24578/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 20 B 2078/08 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 01. Oktober 2008 aufgehoben. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt als britischer Staatsangehöriger Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II).

Der Antragsteller war bereits von 1983 bis 1987 und von 1989 bis 1993 in Berlin tätig. Nach eigenen Angaben dauerte seine Tätigkeit als Übersetzer in Deutschland bis 2001. Anschließend lebte er aus persönlichen Gründen in Großbritannien. Zum 22. Mai 2008 meldete er sich erneut mit Wohnsitz in Berlin an und beantrage am 27. Mai 2008 Leistungen nach dem SGB II. Eine Bescheinigung gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU legte er am 22. Juli 2008 vor.

Mit Bescheid vom 23. Juli 2008 lehnte der Antragsgegner den Antrag mit der Begründung ab, dass der Antragsteller, dessen Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitplatzsuche ergebe, keinen Leistungsanspruch habe.

Am 31. Juli 2008 hat der Antragsteller Widerspruch erhoben. Am 11. August 2008 hat er einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt.

Durch Beschluss vom 1. Oktober 2008, dem Antragsgegner zugestellt am 8. Oktober 2008, hat das Sozialgericht Berlin den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller spätestens ab 11. August 2008 bis zur rechtskräftigen Entscheidung über seinen Widerspruch vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren. Der Anspruch sei nicht durch § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen. Zwar lägen dessen Voraussetzungen vor. Die Vorschrift sei jedoch gemeinschaftskonform dahingehend auszulegen, dass Unionsbürger nicht aus Gründen der Staatsangehörigkeit vom Leistungsbezug ausgeschlossen seien (Bezugnahme auf den 19. Senat des LSG Berlin-Brandenburg, L 19 B 116/07 AS ER vom 25. April 2007).

Hiergegen hat der Antragsgegner am 16. Oktober 2008 Beschwerde eingelegt und sich unter anderem auf die entgegenstehende Rechtsprechung des 29. Senats des LSG Berlin-Brandenburg (L 29 B 828/07 AS ER vom 7. Mai 2007) bezogen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

II.

Die nach §§ 172 Abs. 1 und 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist begründet. Das Sozialgericht hat dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Unrecht stattgegeben.

Gemäß § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf einen Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Entscheidungserhebliche Angaben sind dabei von den Beteiligten glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO-).

Zusammengefasst müssen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung regelmäßig zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Zum einen muss es im Ergebnis einer Prüfung der materiellen Rechtslage überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Antragsteller mit seinem Begehren im hauptsächlichen Verwaltungs- oder Klageverfahren erfolgreich sein wird (Anordnungsanspruch). Zum anderen muss eine gerichtliche Entscheidung deswegen dringend geboten sein, weil es dem Antragsteller wegen drohender schwerwiegender Nachteile nicht zuzumuten ist, den Ausgang eines Hauptverfahrens abzuwarten (Anordnungsgrund).

In Anlegung dieses Maßstabes sind die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht erfüllt.

Gemäß § 7 SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige Leistungen nach dem SGB II. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind hiervon allerdings Ausländer ausgenommen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Unter diese Ausnahme fällt auch der Antragsteller.

Der Antragsteller ist britischer Staatsangehörigkeit und damit Ausländer. Die gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeitsberechtigung folgt in seinem Fall allein aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 2.Var. bzw. 3. Var. FreizügG/EU, also aus dem Umstand, dass er sich zur Arbeitsuche bzw. Berufsausbildung in Deutschland aufhalten will. Andere Gründe, die ein Aufenthaltsrecht vermitteln könnten, sind – wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat, weshalb auf diese Ausführungen Bezug genommen wird - nicht ersichtlich.

Bedenken hinsichtlich der Anwendbarkeit von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II hat der Senat nicht. Er hat im Rahmen der im Eilverfahren erfolgten vorläufigen Prüfung in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des 29. und 5. Senats des LSG Berlin-Brandenburg insbesondere keine Zweifel daran, dass die Vorschrift europarechtskonform ist. Laut der Begründung des Gesetzgebers (BT-Drucks.16/5065, S. 234 zu Nr. 2) sollte mit dieser Vorschrift die Regelung des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Rates vom 29. April 2004 (ABl. L 158 vom 30. April 2004, S. 77 ff.) umgesetzt werden, wonach abweichend vom grundsätzlichen Gleichbehandlungsgebot aller Unionsbürger (vgl. Art. 24 Abs. 1) ein Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet ist, anderen Personen als Arbeitnehmern und Selbständigen sowie Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und deren Familienangehörigen einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren (vgl. schon LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. September 2006 – L 23 B 177/06 SO ER).

Der Auffassung, dass diese Richtlinie im Widerspruch zu vorrangigen europäischen Rechtsvorschriften stehe und die Ausschlussvorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II daher einschränkend ausgelegt werden müsse, vermag sich der Senat nicht anzuschließen (insoweit entsprechend LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 05. September 2007 – L 29 B 828/07 AS ER sowie vom 25. November 2008 – L 5 B 1425/08 AS ER und entgegen LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. Mai 2008 – L 14 B 282/08 AS ER - und Beschluss vom 25. April 2007 - L 19 B 116/07 AS ER - ; auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 23. Juli 2008 – L 7 AS 3031/08 ER B; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl., § 7 Rdnr. 17, 24, 25; Schreiber, info also 2008, 3 ff.)

Der 5. Senat des LSG Berlin-Brandenburg führt insoweit aus:

"Es ist bereits zweifelhaft, ob die Frage, wem Leistungen nach dem SGB II zustehen, überhaupt dem Anwendungsbereich des Rechts der Europäischen Union unterfällt, denn dies setzt eine entsprechende Kompetenzübertragung des deutschen Gesetzgebers voraus (vgl. zu diesem Problemkreis m. w. N. SG Reutlingen, Urteil vom 29. April 2008 - S 2 AS 2952/07, Rnr. 63-81, zitiert nach juris).

Auch wenn man indes von einer entsprechenden Regelungskompetenz der Europäischen Union ausgeht, steht europäisches Recht der Anwendung von § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II auf EU-Ausländer nicht entgegen.

Das Diskriminierungsverbot aus Art. 12 EGV (vormals Art. 6, geändert durch Vertrag von Amsterdam, ABl. C 340 vom 10. November 1997, S. 141) gilt nicht vorbehaltlos. Eine unterschiedliche Behandlung von Unionsbürgern ist dann zulässig, wenn sie durch objektive Gründe sachlich gerechtfertigt ist, worauf bereits das Sozialgericht zutreffend hingewiesen hat (EuGH, Urteil vom 23. Januar 1997, Rs. C-29/95 - Pastoors u. Trans-Cap GmbH - NZV 1997, 234, 235; EuGH, Urteil vom 2. Oktober 1997, Rs. C-122/96 - Saldanha u. MTS Securities Corporation - NJW 1997, 3299, 3300; auch Hessisches LSG, Beschluss vom 3. April 2008 - L 9 AS 59/08 B ER-, Rnr. 24, zitiert nach juris; SG Reutlingen a. a. O, Rnr. 87 f.). § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II führt zwar zu einer unterschiedlichen Behandlung von deutschen Bürgern und Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten. Diese ist indes gerechtfertigt, denn die Vorschrift verfolgt den – sachlichen und richtlinienkonformen - Zweck, sozialleistungsorientierte Wanderungsbewegungen zu vermeiden (vgl. Hessisches LSG und SG Reutlingen a. a. O.).

Art. 18 EGV gewährleistet jedem Unionsbürger zwar grundsätzlich Freizügigkeit, gewährt indes keinen Leistungsanspruch gegen die öffentliche Hand im Sinne eines Teilhaberechts von Unionsbürgern an sozialen Vergünstigungen des Aufenthaltsstaates (SG Reutlingen a. a. O., Rnr. 83 m. w. N; Hessisches LSG a. a. O., Rnr. 25 ff.).

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des EuGH. Insbesondere der Entscheidung des EuGH vom 7. September 2004, C-456/02 - Rs- Trojani – NZA 2005, 757) lässt sich die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung von § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht entnehmen. Das SGB II war zum einen gar nicht Gegenstand der EuGH-Entscheidung, ist es doch erst 2005 in Kraft getreten (vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. September 2007 - L 29 B 828/07 AS ER - Rnr. 34, zitiert nach juris). Zum anderen lag der Entscheidung ein spezifischer, nicht ohne weiteres übertragbarer Sachverhalt zugrunde (es ging um einen französischen Staatsbürger, der in einem Heim der Heilsarmee in Belgien gegen Unterkunft und Taschengeld ca. 30 Stunden pro Woche verschiedene Leistungen erbrachte, vgl. hierzu Hessisches LSG, a. a. O. Rnr. 27). Schließlich führt der EuGH in der Entscheidung gerade aus, dass ein Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet nicht absolut ist, sondern nur im Rahmen der im EGV und den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen besteht (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. September 2007 - L 29 B 828/07 AS ER - Rnr. 35, zitiert nach juris)."

Dem folgt der erkennende Senat.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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