L 18 U 312/05

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 11 U 81/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 U 312/05
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 20.07.2005 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Bescheid vom 18.11.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2003 abzuändern und dem Kläger als weitere Unfallfolgen ein leicht ausgeprägtes hirnorganisches Psychosyndrom und eine Druckschädigung des N.Peronäus rechts anzuerkennen und über den 31.01.2003 hinaus eine Rente nach einer MdE von 20 vH zu gewähren.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

I.

Tatbestand:


Streitig ist die Gewährung einer Rente.

Der 1954 geborene Kläger war als Messedekorateur beschäftigt. Er erlitt am 09.01.2002 einen Arbeitsunfall (Wegeunfall) als er als angeschnallter Pkw-Fahrer mit einem anderen Pkw frontal zusammenstieß. Er befand sich bis zum 01.02.2002 in stationärer Behandlung in der Unfallchirurgie des Klinikums der Universität F ... Nach dem Bericht des Klinikums vom 01.02.2002 bestanden beim Kläger folgende Verletzungen: Gedeckte Leberruptur, Nierenparenchymryptur rechts, perirenales Hämatom rechts, Lungenkontusion beidseits mit rechtsseitiger Betonung, Nasenflügelabriss rechts, offene Nasenbeinfraktur und Septumdeviation sowie Augapfelkontusion rechts. Der Kläger wurde intensivmedizinisch behandelt und beatmet. Es kam zu einer verlängerten Entwöhnungsphase vom Respirator wegen einer deutlich verzögerten Aufwachphase mit wiederholten Tachypnöen und Phasen starker Agitation. In der daraufhin durchgeführten NMR-Diagnostik des Gehirns wurden multiple kleine Rundherde in Marklager und Balken gesehen. Zum Ende des stationären Aufenthaltes bestand nach wie vor eine ausgeprägte Desorientiertheit mit häufigen agitierten Phasen.

In der Zeit vom 01.02.2002 bis zum 28.02.2002 befand sich der Kläger in der S.-Klinik Bad K. zur Rehabilitationsbehandlung. Die Klinik stellte neben den bisherigen Diagnosen ein hirnorganisches Psychosyndrom fest. Das zunächst bestehende schwerste hirnorganische Psychosyndrom habe sich im Verlauf gut gebessert (Entlassungsbericht vom 14.03.2002). Die weiterführende Rehabilitation wurde in der neurologischen Klinik Bad S. vom 28.02.2002 bis 28.03.2002 durchgeführt. Die Klinik stellte fest, dass sich hinsichtlich des initial schwersten hirnorganischen Psychosyndroms eine positive Entwicklung gezeigt habe. Hinsichtlich der kognitiven und konzentrativen Belastungsfähigkeit erscheine der Kläger in absehbarer Zeit in seinem Beruf wieder als arbeitsfähig (Entlassungsbericht vom 03.04.2002).

Nach Beiziehung eines Vorerkrankungsverzeichnisses der Krankenkasse holte die Beklagte ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten von Dr. F. ein, der in dem Gutachten vom 22.06.2002 ausführte, dass beim Kläger in Zusammenhang mit dem erlittenen Polytrauma auch massive hirnorganische Leistungsbeeinträchtigungen im Sinne einer massiven hirnorganischen Psychosyndromsymptomatik bestünden. Zwar liege beim Kläger eine Hypertonie vor, die auch eine geringe Störung in dieser Hinsicht hervorrufen könne. Allerdings deute ein so massives hirnorganisches Psychosyndrom im Sinne eines länger andauernden hirnorganischen Durchgangssyndroms auch im Hinblick auf die noch bestehende geringfügige Halbseitensymtomatik rechts darauf hin, dass es unfallbedingt zu einer relevanten Hirnmitbeteiligung gekommen sei. Aus neurologischer Sicht rechtfertige sich aufgrund der geringen Halbseitenstörung mit Koordinationsstörungen eine MdE von 20 vH. Eine gutachterliche Nachuntersuchung nach Ablauf eines Jahres werde angeraten, wobei zur genaueren Erfassung des Befundes auch eine psychologische Leistungsdiagnostik erfolgen solle.

Weiter holte die Beklagte ein unfallchirurgisches Gutachten von Dr. L. vom 25.06.2002 und ein internistisches Gutachten von Dr. G. vom 30.09.2002 ein, die wesentliche Unfallfolgen auf dem jeweiligen Fachgebiet nicht feststellen konnten.

Mit Bescheid vom 18.11.2002 und Widerspruchsbescheid vom 13.02.2003 gewährte die Beklagte eine Rente als vorläufige Entschädigung in Form einer Gesamtvergütung nach einer MdE von 20 vH für die Zeit vom 23.09.2002 bis 31.01.2003. Sie erkannte als Folgen des Arbeitsunfalls an: Geringfügige Halbseitenstörungen und Koordinationsstörungen vorwiegend rechts und im Bereich des
rechten Beines. Nicht Folgen des Unfalls seien degenerative Veränderungen im Bereich der Schultergelenke mit leichter Belastungsschwäche des rechten Armes oberhalb der Schulterhöhe, Bluthochdruck sowie eine Hyperurikämie.

Hiergegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Würzburg (SG) erhoben. Die Beschwerden im Schulter- und Armbereich seien als Unfallfolgen anzuerkennen. Ab 01.03.2002 sei ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 festgestellt und das Merkzeichen "G" und "B" zuerkannt worden (ab 01.06.2005: Gesamt-GdB von 30 mit Einzel-GdB von 30 für die Behinderung "Hirnleistungsschwäche nach Polytrauma" ohne Zuerkennung von Merkzeichen).

Das SG hat den Chirurgen Dr. C. mit Gutachten vom 17.09.2004 gehört. Auf dem chirurgischen Fachgebiet seien keine Unfallfolgen festzustellen, insbesondere seien die geklagten Schulterbeschwerden nicht Folge des Unfalls vom 09.01.2002. Es bestünden degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule und der Kläger sei auch bereits in den Jahren vor dem Unfall wegen Schulter-Arm-Beschwerden behandelt worden. Der ebenfalls vom SG beauftragte Neurologe und Psychiater Dr. L. hat mit Gutachten vom 21.11.2004 ausgeführt, dass sich die von der Beklagten bezeichneten Unfallfolgen einer geringfügigen Halbseitenstörung und Koordinationsstörungen nicht mehr feststellen ließen. Unfallbedingt seien die Folgen einer Druckschädigung des N. peronäus rechts (Taubheitsgefühl der rechten Großzehe und Kältemissempfimdungen) bei weitgehend abgeheilter Peronäusschädigung mit eine MdE von unter 10 vH festzustellen. Die ebenfalls beklagten neuropsychologischen Einschränkungen in Form einer erhöhten Vergesslichkeit seien nicht zu objektivieren. Diese Art von Einschränkungen sei aber auch mit den im Jahr 2002 mittels NMR-Diagnostik des Gehirns festgestellten fleckigen Veränderungen der weißen Substanz des Gehirns gut vereinbar, die im Zusammenhang mit der schweren Hypertonie als (unfallunabhängige) Hirndurchblutungsstörungen (arteriosklerotische Enzephalopathie) zu deuten seien. Die Beschwerden seien auch so leicht ausgeprägt, dass eine messbare MdE daraus nicht resultiere. Hinsichtlich der neuropsychologischen Beeinträchtigungen werde eine ausführliche Testuntersuchung aus den vorgenannten Gründen nicht für erforderlich gehalten. Auf neurologischem Gebiet erscheine aufgrund der residualen Peronäusparese rechts und des Zustandes nach Schädel-Hirn-Verletzung ohne wesentliche funktionelle Beeinträchtigung eine MdE um 10 vH als gerechtfertigt.

Nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG die Neurologen und Psychiater Dr. H. beauftragt (Gutachten vom 08.04.2005). Er hat ausgeführt, dass sich die zuvor beschriebene Halbseiten- und Koordinationsstörung zurückgebildet habe und auch im Übrigen dem von Dr. L. erstellten Gutachten gefolgt werden könne.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 20.07.2005 abgewiesen. Es hat sich auf die Ausführungen der im Klageverfahren gehörten Sachverständigen gestützt.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers. Als weitere Folgen des Unfalls seien Schädigungen im Bereich der Schultergelenke anzuerkennen. Das Gutachten des Dr. H. könne nicht akzeptiert werden, da nicht Dr. H. sondern dessen Praxiskollege die Untersuchung durchgeführt habe. Das SG hätte dem Antrag auf Einholung eines weiteren Gutachtens nach § 109 SGG Folge leisten müssen.

Der Senat hat nach § 109 SGG das Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. C. vom 27.12.2007 eingeholt. Der Kläger habe eine Contusio schweren Grades bzw. eine Hirnschädigung 3. Grades erlitten. Die leistungsmindernde Wirkung, die von den Folgen der Hirnschädigung noch ausgingen, seien überwiegend durch psychoorganische Defizite, in geringerem Maße durch eine leichte zentrale Ataxie und Halbseitenstörung rechts bedingt. Insbesondere aufgrund testpsychologischer Zusatzuntersuchungen hat Dr. C. leichte bis moderate hirnorganische Funktionsstörungen feststellen können, die für das Vorliegen eines hirnorganischen Psychosyndroms sprechen. Die MdE sei ab 23.09.2002 und über den 31.01.2003 hinaus in Höhe von 20 vH einzuschätzen.

Die Beklagte hat sich zu dem Gutachten geäußert. Dr. C. könne nicht erklären, aus welchen Gründen das festgestellte Psychosyndrom als unfallbedingt anzusehen sei, nachdem doch im Jahr 2004 (Gutachten Dr. L.) eine fast völlige Zurückbildung dieser Krankheitssymptome erreicht worden sei. Wenn Dr. C. - ohne über Jahre hinweg entsprechend dokumentierte Befundlage - behaupte, die von ihm diagnostizierten Störungen seien unverändert durchgängig vorhanden gewesen, so könne dies nicht den Nachweis eines Zusammenhangs der Störungen mit dem Unfall erbringen, zumal mit der beim Kläger bestehenden Hypertonie konkurrierende Ursachen für die Entstehung eines hirnorganischen Schadensbildes vorhanden seien.

Der Senat hat Dr. C. erneut angehört. In der Stellungnahme vom 11.07.2008 führt Dr. C. aus, dass Dr. L. auf eine testpsychologische Diagnostik verzichtet habe. Diese hätte aber mit hoher Wahrscheinlichkeit das auch zu diesem Zeitpunkt noch vorliegende hirnorganische Psychosyndrom objektivieren können.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 20.07.2005 und den Bescheid der Beklagten vom 18.11.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, als weitere Unfallfolgen ein leicht ausgeprägtes Psychosyndrom und eine Druckschädigung des N. Peronäus rechts anzuerkennen und über den 31.01.2003 hinaus Rente nach einer MdE von mindestens 20 vH zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 20.07.2005 zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

II.

Entscheidungsgründe:


Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG) und auch begründet. Das SG hat unzutreffend die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger kann die Gewährung von Rente auch für die Zeit über den 31.01.2003 hinaus nach einer MdE von 20 vH beanspruchen.

Die Voraussetzungen für die Zahlung der Rente gemäß § 56 Abs 1 S 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) für die Zeit über den 31.01.2003 hinaus liegen vor, insbesondere für eine Gewährung nach einer MdE von 20 vH. Auf dem neurologisch-psychiatrischen Gebiet hat der Kläger infolge des Unfalls ein schweres gedecktes Hirntrauma (Contusio cerebri) erlitten. Als Folgen des Hirntraumas bestehen eine leichte Störung der Beweglichkeit der rechten Körperseite, insbesondere leichte Koordinationsstörungen sowie ein leicht ausgeprägtes hirnorganisches Psychosyndrom mit Störung der Auffassung, des Gedächtnisses, der Konzentration, rascher Ermüdbarkeit und erhöhter Reizbarkeit. Dies ergibt sich aus den überzeugenden Ausführungen des Dr. C., der in Übereinstimmung mit Dr. F. die beschriebenen neurologischen Defizite objektivieren konnte. Die von Dr. C. getroffene Feststellung der hirnorganischen Beeinträchtigungen beruht auf durchgeführte testpsychologische Untersuchungen. Dagegen haben Dr. L. und Dr. F. auf diese Untersuchungen verzichtet, so dass sie nicht zu entsprechenden Feststellungen kommen konnten. Dr. F. hat allerdings darauf hingewiesen, dass bei gutachterlichen Nachuntersuchungen eine psychologische Leistungsdiagnostik erfolgen solle, um den Befund genauer zu erfassen. Diese Untersuchung hat Dr. L. nicht durchgeführt. Nach Dr. C. hätte die testpsychologische Diagnostik mit hoher Wahrscheinlichkeit das auch zu diesem Zeitpunkt noch vorliegende hirnorganische Psychosyndrom objektivieren können.

Bereits Dr. F. hat herausgestellt, dass das hirnorganische Psychosyndrom mit anfänglich massiven Leistungsbeeinträchtigungen als unfallabhängig zu bezeichnen ist. In Zusammenhang mit dem vom Kläger erlittenen Polytrauma ist es zu einer relevanten Hirnmitbeteiligung gekommen, entweder im Sinne eines blanden axonalen Schadens des Gehirns oder aber auch im Sinne von leichten hypoxämischen Läsionen in Zusammenhang mit der schwerwiegenden Beatmungspflicht und der vegetativen Entgleisung.

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die beim Kläger bereits zuvor bestehende Hypertonie nicht als konkurrierende Ursache für die Entstehung des Psychosyndroms anzusehen. Dr. F. weist darauf hin, dass eine Hypertonie zwar geeignet sei, eine geringe Störung in dieser Hinsicht hervorzurufen. Allerdings deutet das beim Kläger anfänglich massive hirnorganische Psychosyndrom im Sinne eines länger andauernden hirnorganischen Durchgangssyndroms auch in Hinblick auf die festgestellte Halbseitensymptomatik darauf hin, dass es zu einer traumatischen Hirnmitbeteiligung gekommen ist. Dr. C. führt aus, dass ein Einfluss der Hypertonie auf die Hirnorganische Leistungsfähigkeit spekulativ sei und den Angaben der Ehefrau widerspreche, dass die Störungen schlagartig mit dem Unfall eingetreten seien.

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit, die sich aus den psychoorganischen Defiziten und in geringerem Maße aus der leichten zentralen Ataxie und Halbseitenstörung ergibt, ist von Dr. C. zutreffend mit 20 vH eingeschätzt worden. Nach den MdE-Erfahrungswerten hinsichtlich der Bemessung der MdE bei Hirnschädigung mit organisch-psychischen Störungen ist für eine Störung leichter Art eine MdE von 20 bis 40 vH vorgesehen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl., S 275; Mehrhof/Meindl/Muhr, Unfallbegutachtung, 11. Aufl., S 147). Demnach ist eine Bewertung des leicht ausgeprägten hirnorganisches Psychosyndroms und der von Dr. L. zusätzlich festgestellten Schädigung des N. peronäus rechts mit einer (Gesamt-)MdE von 20 vH angemessen.

Nach alldem hat die Berufung des Klägers Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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