L 3 SB 5208/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 7 SB 3433/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 5208/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 27. September 2007 aufgehoben und die Klage abgewiesen, soweit sie nicht durch das Teilanerkenntnis der Beklagten vom 10. Dezember 2008 erledigt wurde.

Der Beklagte trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) streitig.

Auf den Erhöhungsantrag der 1928 geborenen Klägerin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 03.12.2001 einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 seit 20.07.2001 fest. Die gleichzeitig beantragte Feststellung des Merkzeichens G lehnte er ab.

Am 21.04.2005 beantragte die Klägerin eine weitere Erhöhung des GdB sowie erneut die Feststellung des Merkzeichens G. Nach Auswertung der vorgelegten medizinischen Unterlagen lehnte der Beklagte dies mit Bescheid vom 19.08.2005 ab. Mit Widerspruchsbescheid vom 29.09.2005 wies er den hiergegen eingelegten Widerspruch zurück.

Deswegen hat die Klägerin am 12.10.2005 Klage zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben. Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin (Arzt für Chirurgie G., Orthopäde Dr. K., Internist und Hausarzt Dr. L. sowie Orthopäde Dr. S.) als sachverständige Zeugen gehört. Auf deren schriftliche Zeugenaussagen wird Bezug genommen. Es hat sodann die Ärztin für Orthopädie Dr. E. mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Im Gutachten vom 28.09.2006 hat Dr. E. auf orthopädischem Fachgebiet Verschleißerkrankungen der Wirbelsäule, insbesondere der Hals- und Brustwirbelsäule mit Fehlstatik, eine Pangonarthrose des rechten Knies mit Valgusbetonung, eine Schultergelenkarthrose beidseits, rechts betont, eine Rotatorenmanschettendegeneration sowie eine Handwurzelarthrose links und Fingerarthrose rechts festgestellt. Die Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule und die degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule beurteilte sie mit einem Teil-GdB von 30, die Funktionsbehinderung des rechten Kniegelenks mit einem Teil-GdB von 30 und die Funktionsbehinderung beider Schultergelenke, die Verschleißerscheinungen beider Schultergelenke sowie die Funktionsbehinderungen des linken Handgelenkes und die Fingerarthrose mit einem Teil-GdB von 10. Der Gesamt-GdB betrage unverändert 70, eine Verschlechterung der Befunde lasse sich nicht feststellen. Die Bewertung des Einzel-GdB in Höhe von 30 für das degenerative Wirbelsäulenleiden sei sehr wohlwollend. Das Verschleißleiden des rechten Kniegelenks sei mit einem Teil-GdB von 30 korrekt bewertet. Die Klägerin könne aufgrund der objektiven Befunde 500 Meter am Stück gehen. Sie könne eine Strecke von 2 km mit Hilfe eines Gehstockes oder Gehwagens innerhalb einer halben Stunde zurücklegen. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G lägen nicht vor.

In der mündlichen Verhandlung vor dem SG hat die Klägerin die Feststellung eines höheren GdB nicht mehr beantragt.

Mit Urteil vom 27.09.2007 hat das SG den Bescheid vom 19.08.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.09.2005 abgeändert und den Beklagten verurteilt, bei der Klägerin ab 21.04.2005 die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G festzustellen.

Zur Begründung hat es ausgeführt, zur Überzeugung des Gerichts stehe fest, dass aus dem Zusammenwirken aller bei der Klägerin bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen eine erhebliche Beeinträchtigung ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr resultierte. Zwar seien die unteren Extremitäten durch die Behinderungen im Bereich des rechten Kniegelenkes und die Wirbelsäule jeweils nur mit einem Einzel-GdB von 30 betroffen. Da die degenerativen Wirbelsäulenveränderungen jedoch nicht nur die Lendenwirbelsäule beträfen, ergebe sich für den Bereich der unteren Gliedmaßen und der Lendenwirbelsäule ein GdB von allenfalls 30 bis 40. Damit werde kein Wert erreicht, der die Vergabe des Merkzeichens G rechtfertigen könne. Es könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass sich die genannten Funktionsbeeinträchtigungen auf die Gehfähigkeit besonders auswirkten. Gleichwohl ergebe sich eine erhebliche Gehbehinderung der Klägerin im Sinne des § 146 Abs. 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) aus den Besonderheiten des Einzelfalles. Bei der Klägerin sei es nämlich durch das Zusammentreffen eines hochgradig destruktiven Kniegelenksleidens rechts, einer überlastungsbedingten Chondropathia patellae links, eines chronisch degenerativen Wirbelsäulensyndroms und der bereits deutlich erkennbaren Schultergelenksarthrosen zu einer erheblichen gegenseitigen Wirkungsverstärkung gekommen, da Kompensationsmechanismen und Hilfsmittelnutzung durch die genannten Beeinträchtigungen deutlich eingeschränkt seien. Durch die Schulterarthrosen beidseits und die Funktionsbehinderungen der linken Hand seien der Klägerin der Gebrauch von Gehstützen oder eines Rollators nur eingeschränkt möglich. Daraus folge für das Gericht, dass die Gehstrecke der Klägerin bis zu einer möglichen Sanierung der Kniegelenksarthrose rechts auf deutlich unter 500 Meter reduziert sei.

Gegen das am 17.10.2007 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 02.11.2007 Berufung eingelegt. Er trägt unter Bezugnahme auf die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. W. vom 24.10.2007 vor, die Anerkennungskriterien gemäß den Anhaltspunkten (AHP) Nr. 30 Abs. 4 für das Merkzeichen G seien nicht erfüllt. Die Einschätzung des Gerichts sei objektiv nicht nachvollziehbar, zumal im fachorthopädischen Gutachten vom 28.09.2006 Dr. E. die Voraussetzungen für das Merkzeichen G ausdrücklich verneint habe. Auch unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 27.08.1998 - B 9 SB 13/97 R) lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G nicht vor. Hiervon könne nicht aufgrund eines subjektiven Eindruckes abgewichen werden. Schließlich sei es nicht nachvollziehbar, dass der Klägerin die Benutzung eines Gehstockes oder Rollators nicht möglich sei, da die Funktionsminderungen im Bereich der oberen Gliedmaßen nur geringgradig seien und allenfalls einen Teil-GdB von 10 bedingten.

Der Senat hat daraufhin Dr. S. als sachverständigen Zeugen gehört. In der schriftlichen Zeugenaussage vom 19.06.2008 hat er unter Vorlage von Arztbriefen des Krankenhauses B. mitgeteilt, bei der Klägerin sei am 29.02.2008 eine Knie-TEP-Implantation des rechten Knies durchgeführt worden. Im Vergleich zur letzten gutachterlichen Stellungnahme vom 18.06.2006 ergebe sich nun eine wesentliche Änderung in Bezug auf das rechte Kniegelenk. Nach der Knie-Totalendoprothese bestehe hier jetzt eine weitgehend reduzierte Schmerzsymptomatik. Aufgrund der Notwendigkeit zur Teilkopplung der Prothesenkomponenten wegen mangelhafter Bandstabilität bestehe jedoch noch eine deutlicher reduzierte Kniegelenksfunktion sowie belastungsabhängige retropatellare Restbeschwerden. Zusammenfassend bestehe in Bezug auf die Hauptdiagnose des orthopädischen Fachgebietes am rechten Kniegelenk eine funktionelle Besserungstendenz.

Die Beklagte hat hierzu vorgetragen, da laut AHP Seite 118 eine Kniegelenksendoprothese einen Teil-GdB von 30 bedinge, ändere sich weder etwas an der bisherigen GdB-Bewertung noch seien die Voraussetzungen für das Merkzeichen G erfüllt.

In der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen G für die Zeit vom 21.04.2005 bis 31.08.2008 anerkannt. Die Klägerin hat das Teilanerkenntnis angenommen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 27. September 2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit sie nicht durch das Teilanerkenntnis vom 10. Dezember 2008 erledigt wurde.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Die Klägerin hat hierzu ein Schreiben des behandelnden Orthopäden Dr. S. vom 18.01.2008 vorgelegt, in dem u.a. ausgeführt wird, da bisher noch keine Knieprothese implantiert sei müsse mit einer zunehmenden gänzlichen Gehunfähigkeit gerechnet werden.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Beklagtenakten sowie der Gerichtsakten beider Rechtszüge, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist zulässig. Berufungs¬ausschließungsgründe nach § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor.

Die Berufung ist auch begründet, soweit sie sich gegen die Verpflichtung zur Zuerkennung des Merkzeichens G für die Zeit über den 31.08.2008 hinaus richtet. Die Klägerin hat für den noch streitigen Zeitraum ab dem 01.09.2008 keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens G.

Gemäß § 69 Abs. 1 SGB IX stellen auf Antrag des behinderten Menschen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Nach § 69 Abs. 4 SGB IX treffen diese Behörden auch die erforderlichen Feststellungen, wenn neben dem Vorliegen einer Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind. Zu diesen zählt u.a. die von der Klägerin beantragte Feststellung einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Merkzeichen G).

Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Ausfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen vorliegen, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nicht behinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG, Urteil vom 27.08.1998 - B 9 SB 13/97 R) gilt als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne eine Strecke von 2000 Metern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird. Die AHP, die als antizipierte Sachverständigengutachten zu bewerten sind (vgl. zuletzt BSG, Urteil von 24.04.2008 - B 9/9a SB 10/06 R), geben darüber hinaus an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein behinderter Mensch infolge einer Einschränkung des Gehvermögens in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Nach Ziffer 30 Abs. 3 AHP sind die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z.B. bei Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung oder arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40.

Diese Voraussetzungen sind bei der Klägerin nicht erfüllt. Die Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und der Lendenwirbelsäule bei der Klägerin bedingen lediglich einen GdB von 40. Hiervon ist auch das SG in der angefochtenen Entscheidung ausgegangen, hierauf wird gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug genommen.

Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass die Klägerin aufgrund funktioneller Beeinträchtigungen der oberen Gliedmaßen beim Gebrauch eines Gehstockes oder eines Rollators beeinträchtigt ist. Nach den AHP kommt es hierauf nicht an. Maßgeblich ist vielmehr, ob sich die Behinderungen der unteren Gliedmaßen und der Lendenwirbelsäule besonders auf die Gehfähigkeit auswirken. Zumindest nach der Knie-TEP-Implantation vom 29.02.2008 und einer anschließenden angemessenen Rekonvaleszenzphase ist dies nicht mehr der Fall. Ausweislich der Auskunft des behandelnden Arztes Dr. S. und den Arztbriefen des Krankenhauses B. besteht seither eine weitgehend reduzierte Schmerzsymptomatik hinsichtlich des rechten Knies. Zwar war die Kniegelenksfunktion wegen mangelhafter Bandstabilität und deshalb erforderlicher Teilkopplung der Prothesenkomponenten ebenso wie die Streckung und Beugung noch eingeschränkt, es bestanden auch noch belastungsabhängige retropatellare Restbeschwerden. Diese sind jedoch weitgehend auf die stattgehabte Operation zurückzuführen. Dem hat der Beklagte durch Abgabe des Teilanerkenntnisses auch Rechnung getragen. Insgesamt besteht eine funktionelle Besserungstendenz, wie auch Dr. S. in der sachverständigen Zeugenaussage vom 19.06.2008 bestätigt hat, wonach bei der Klägerin noch eine mäßige Gehbehinderung im Alltag besteht. Damit sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G jedenfalls in der Zeit ab dem 01.09.2008 nicht erfüllt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das teilweise Obsiegen der Klägerin.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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