L 10 P 3/07

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Kiel (SHS)
Aktenzeichen
S 18 P 16/06
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 10 P 3/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Soll wegen einer wesentlichen Änderung der maßgeblichen Verhältnisse die Rückstufung in eine niedrigere
Pflegestufe erfolgen, sind die Verhältnisse der letzten Leistungsbewilligung mit den Verhältnissen im
Rückstufungszeitraum zu vergleichen.
2. Der Verzicht auf eine ärztliche Nachuntersuchung ändert nicht ohne Weiteres etwas am Rechtscharakter
der Weiterbewilligungsentscheidung
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 11. Mai 2007 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten für das des Berufungsverfahren zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rückstufung des Klägers von der Pflegestufe II in die Pflegestufe I ab 1. Januar 2006.

Bei dem 1984 geborenen Kläger besteht ein Down-Syndrom mit schwerer Sprachbehinderung und psychosomatischer Retardierung. Nachdem der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Schleswig-Holstein (MDK) in dem Gutachten vom 13. Februar 1995 (Dr. H ) einen entsprechenden Pflegebedarf festgestellt hatte, bewilligte die Beklagte - zunächst bis zum 28. Februar 1996 - Pflegegeld nach der Pflegestufe I. In dem Folgegutachten des MDK vom 8. Mai 1996 (Dr. H ) wurde ein Hilfebedarf in der Grundpflege von 65 Minuten nebst einem Hilfeaufwand im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung von 45 Minuten beschrieben, woraufhin die Beklagte ihre Leistungsbewilligung mit Bescheid vom 20. Mai 1996 bis zum 31. Mai 1998 verlängerte. Auf den am 20. Juni 1997 eingegangenen Höherstufungsantrag des Klägers veranlasste die Beklagte eine erneute Begutachtung durch den MDK. In dem Gutachten vom 4. November 1997 bezifferte Dr. H den Pflegebedarf im Bereich der Grundpflege mit 141 Minuten bei einem Pflegebedarf im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung von ca. 60 Minuten. In dem Gutachten heißt es, dass sich der Zeitaufwand der Grundpflege vor allem bei der Nahrungsaufnahme erhöht habe; hier sei immer Aufsicht und Kontrolle erforderlich. Gleiches gelte für die Begleitung auf Wegen außerhalb der Wohnung; mehrfach müsse die Mutter den Kläger zur Behandlung (KG, Sprachtherapie sowie ca. dreimal monatlich zu Arztbesuchen) fahren. Mit zunehmendem Alter könne vielleicht mit einer weiteren Selbständigkeit und Verringerung des Hilfebedarfs bei der Körperpflege und bei der Mobilität gerechnet werden. Hierauf bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 12. November 1997 ohne Befristung Pflegegeld nach der Pflegestufe II. Das Folgegutachten des MDK vom 19. November 1999 (Frau M - T T ) beschrieb einen Hilfebedarf in der Grundpflege von 121 Minuten. Mit Schreiben vom 6. Dezember 1999 teilte die Beklagte dem Kläger daraufhin mit, dass er weiterhin "vorläufig bis auf weiteres" Pflegegeld nach der Pflegestufe II erhalte. Wegen der weiteren Voraussetzungen für die Zahlung des Pflegegeldes verwies sie auf das Bewilligungsschreiben vom 12. November 1997.

Mit Schreiben vom 15. November 2002 übersandte die Beklagte dem Kläger einen Fragebogen und wies darauf hin, dass sie zur Feststellung, ob sich die Pflegesituation geändert habe, eine Überprüfung der Pflegesituation vorzunehmen habe. Um die Kapazitätsengpässe des MDK nicht noch weiter auszubauen, werde sie versuchen, eine Entscheidung über die Weitergewährung der jetzigen Pflegestufe nach Aktenlage herbeizuführen. Der Kläger werde zur Unterstützung gebeten, den Fragebogen ausgefüllt zurückzusenden. Der Kläger bzw. seine Mutter entsprachen dieser Aufforderung. Die im Fragebogen vorgedruckte Frage, ob sich am Gesundheitszustand des Klägers etwas geändert habe, wurde mit "nein" beantwortet. Die Beklagte legte den Fragebogen dem MDK vor und wies darauf hin, dass keine neuen Erkenntnisse zur Pflegebedürftigkeit vorliegen würden. Auch Informationen über eine Besserung seien nicht vorhanden. Der MDK beantwortete daraufhin die im Fragebogen vorformulierte Frage, ob eine Nachuntersuchung aus medizinischen Gründen notwendig sei, mit "nein" und vermerkte "NU in 5 J" (Nachuntersuchung in 5 Jahren). Sodann übersandte die Beklagte dem Kläger das nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung versehene Schreiben vom 20. Dezember 2002 mit folgendem Wortlaut:

" , wir freuen uns, F J weiterhin ein Pflegegeld gemäß der Pflegestufe 2 zahlen zu können. Die Leistungszusage in diesem Schreiben gilt vorläufig bis auf weiteres. Damit festgestellt werden kann, ob sich die Pflegesituation geändert hat, , werden wir zu gegebener Zeit eine erneute Begutachtung durch den MDK veranlassen. "

Am 22. April 2005 beantragte der Kläger zusätzliche Betreuungsleistungen. Die Beklagte veranlasste hierzu eine neue MDK-Begutachtung. Die Pflegefachkraft Bonin kam in ihrem Gutachten vom 28. Juli 2005 zu dem Ergebnis, dass der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege nur noch 86 Minuten pro Tag und derjenige im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung nur noch 45 Minuten pro Tag betrage. In dem Gutachten heißt es, dass die Mutter des Klägers zwar geäußert habe, dass sich seit der letzten Begutachtung vom November 1999 keine Änderung des Zustandes ergeben habe. Aus gutachterlicher Sicht sei allerdings der durchschnittliche Zeitaufwand im Bereich der Grundpflege insoweit gesunken, als eine regelmäßige Beaufsichtigung bei der Nahrungsaufnahme nicht mehr notwendig sei. Beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung sei nur noch einmal wöchentlich Begleitung erforderlich. Mit Schreiben vom 3. August 2005 hörte die Beklagte den Kläger darauf zu einer möglichen Herabstufung in die Pflegestufe I mit Wirkung für die Zukunft an. Die Mutter des Klägers trat dieser Erwägung unter Vorlage eines Pflegetagebuchs vom August 2005 entgegen und machte geltend, dass das Gutachten vom 28. Juli 2005 einen zu geringen Pflegebedarf festgestellt habe. Die Beklagte ließ den MDK hierzu Stellung nehmen. In einem Kurzgutachten nach Aktenlage vom 27. Oktober 2005 bestätigte die Pflegefachkraft Frau G die Ergebnisse des Vorgutachtens und führte aus, dass die von der Mutter des Klägers in ihrer Stellungnahme im Einzelnen beschriebenen Hilfen durchaus berücksichtigt worden seien. Die Mutter des Klägers habe allerdings - wohl in Unkenntnis der gesetzlichen Grundlagen und des Fehlens von Erschwernisfaktoren - die jeweiligen Zeitkorridore zu hoch angesetzt. Auf Nachfrage der Beklagten erstattete Dr. Ta das weitere MDK-Kurzgutachten nach Aktenlage vom 29. November 2005. Darin heißt es, dass allenfalls 4 Minuten zusätzlicher Grundpflege (Hilfe beim Rasieren und beim Richten der Bekleidung nach Stuhlgang) berücksichtigt werden könnten, so dass sich ein Grundpflegebedarf von 90 Minuten ergebe, der das für die Pflegestufe II erforderliche Hilfemaß nicht erreiche.

Mit Bescheid vom 15. Dezember 2005 hob die Beklagte die bisherige Leistungsbewilligung mit Wirkung zum 31. Dezember 2005 teilweise auf und führte aus, dass der Kläger ab 1. Januar 2006 nur noch Leistungen der Pflegestufe I erhalte. Zur Begründung dieser auf § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gestützten Entscheidung nahm die Beklagte Bezug auf den Inhalt der eingeholten MDK-Gutachten und führte aus, dass sich der Pflegebedarf entsprechend den gutachterlichen Feststellungen verringert habe. Den hiergegen eingelegten und mit Bezugnahme auf das bisherige Vorbringen begründeten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26. April 2006 unter Wiederholung und Vertiefung der Gründe des Ausgangsbescheides als unbegründet zurück.

Der Kläger hat am 2. Juni 2006 bei dem Sozialgericht Kiel Klage erhoben. Zur Begründung hat er eine Verringerung des Pflegebedarfs bestritten und nicht berücksichtigte Hilfen bei der Teilwäsche von Händen und Gesicht, beim Baden, beim Rasieren, beim Stuhlgang einschließlich des anschließenden Richtens der Bekleidung, bei der mundgerechten Zubereitung der Nahrung und bei der Mobilität (Stehen/Transfer) geltend gemacht. Ergänzend hat er ausgeführt, dass der Hilfebedarf im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung sich auf 60 Minuten belaufe.

Mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 28. Februar 2007 hat der Kläger weitere Angaben zu Art und Umfang durchgeführter bzw. laufender Therapiemaßnahmen gemacht und ergänzend ausgeführt, dass durch seine pubertäre Entwicklung der Pflegebedarf im Bereich der Körperpflege eher noch zugenommen habe.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 15. Dezember 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. April 2006 aufzuheben.

Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Sozialgericht hat Befund- und Behandlungsberichte des den Kläger behandelnden Kinder- und Jugendarztes Dr. R , N , vom 24. August 2006 und vom 7. September 2006 eingeholt.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme am 11. Mai 2007 hat das Sozialgericht den Krankenpfleger Herrn Ga , Groß Gb , als Sachverständigen zu Fragen des bei dem Kläger seit Dezember 2002 und im April 2006 vorliegenden Pflegebedarfs sowie zu etwaigen Änderungen zwischen Dezember 2002 und April 2006 gehört. Herr Ga kam zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass der aktuelle Pflegebedarf im Bereich der Grundpflege insgesamt 84 Minuten täglich betrage und sich im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung auf 60 Minuten täglich belaufe. Dieser Zeitaufwand sei auch im April 2006 erforderlich gewesen. Wegen der Ergebnisse der Beweisaufnahme im Einzelnen wird auf die zur Akte gereichte schriftliche Ausarbeitung des Sachverständigen nebst beigefügter Unterlagen Bezug genommen.

Mit Urteil vom selben Tage hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Klage sei zulässig und begründet. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die von der Beklagten verfügte Rückstufung in die Pflegestufe I hätten nicht vorgelegen. Als Rechtsgrundlage komme insoweit lediglich § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Betracht, wobei die im Zeitpunkt der Rückstufungsentscheidung bestehenden Verhältnisse mit denjenigen zu vergleichen seien, die zum Zeitpunkt der letzten verbindlich gewordenen Leistungsbewilligung vorgelegen hätten. Vorliegend sei der bei Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides vom 26. April 2006 bestehende Pflegebedarf des Klägers mit den Verhältnissen im Dezember 2002 - und nicht mit denjenigen von Ende 1999 - zu vergleichen. Denn durch Bescheid vom 20. Dezember 2002 habe die Beklagte die Anspruchsvoraussetzungen der §§ 14 und 15 SGB XI neu geprüft und die Voraussetzungen der Pflegestufe II unabhängig von der vorangegangenen Leistungsbewilligung (Bescheid vom 6. Dezember 1999) erneut bejaht. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens sei die Kammer nicht davon überzeugt, dass sich die Pflegesituation des Klägers zwischen Dezember 2002 und April/Mai 2006 entscheidend verbessert habe. Nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme hätten bereits im Dezember 2002 die zeitlichen Voraussetzungen für die Pflegestufe II nicht mehr vorgelegen; der Pflegebedarf im Bereich der Grundpflege habe Ende 2002 maximal 90 bis 95 Minuten betragen. Bis zum Ergehen des Widerspruchsbescheides vom 26. April 2006 habe sich der Pflegebedarf nur geringfügig auf etwa 84 Minuten verringert. Hierin liege keine wesentliche Änderung im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Die Kammer folge dem Gutachten des Sachverständigen Ga , das sie für überzeugend halte. Herr Ga habe auch überzeugend ausgeführt, dass der Hilfebedarf des Klägers bereits 1999 nicht mehr das für die Zuordnung zur Pflegestufe II erforderliche Ausmaß gehabt habe. Die Kammer gehe deshalb davon aus, dass der Weiterbewilligung von Leistungen nach der Pflegestufe II im Dezember 1999 eine zu großzügige Einschätzung des Pflegebedarfs des Klägers zugrunde gelegen habe und dass sich dieser Fehler infolge des Verzichts auf eine Nachuntersuchung des Klägers im Dezember 2002 fortgesetzt habe. Zwar stehe dies einer Rückstufung nach § 48 SGB X nicht von vornherein entgegen; nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) dürfe ein aus § 45 SGB X folgender Vertrauensschutz damit aber nicht unterlaufen werden. Der Betroffene müsse nur bei einer deutlich erkennbaren wesentlichen Verringerung des Hilfebedarfs mit einer Überprüfung der Bewilligungsentscheidung rechnen. Nach diesen Maßstäben könne der Kläger sich hier auf Vertrauensschutz berufen.

Gegen das ihr am 29. Juni 2007 zugestellte Urteil richtet sich die am 6. Juli 2007 bei dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingelegte Berufung der Beklagten.

Zur Begründung macht sie geltend: Sie könne sich nicht der vom Sozialgericht vertretenen Rechtsauffassung anschließen, wonach sich für eine Rücknahme der Bewilligung nach § 48 SGB X im Zeitraum vom Dezember 2002 bis April/Mai 2006 eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen ergeben haben müsse. Vielmehr komme es auf den Zeitraum seit der letzten vollständigen Überprüfung der Tatbestandsvoraussetzungen, hier also auf den Zeitraum von November 1999 bis April/Mai 2006, an. Dies entspreche auch der Rechtsprechung des BSG, wonach entscheidend sei, ob es sich bei einem Schreiben bezüglich der Gewährung von Pflegeleistungen um einen neuen Verwaltungsakt handele oder nur um eine schlichte Mitteilung unter Hinweis auf die unveränderte Rechtslage (Urteil des BSG vom 7. Juli 2005, B 3 P 8/04 R). Für das Vorliegen eines Verwaltungsakts spreche die vollständige neue Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen. Werde hingegen lediglich erklärt, dass eine Nachuntersuchung keinen Anlass gegeben habe, den ursprünglichen Bescheid zu ändern, handele es sich um eine bloße Mitteilung ohne Verwaltungsaktsqualität. Letzteres sei hier der Fall gewesen: Sie - die Beklagte - habe im November 2002 bei dem Kläger nachgefragt, ob sich an seinem Gesundheitszustand etwas geändert habe. Dies sei verneint worden, worauf der MDK von einer Nachuntersuchung abgesehen habe. Sie habe daraufhin dem Kläger mitgeteilt, dass weiterhin Pflegegeld nach der Pflegestufe II gewährt werde. Entgegen der vom Sozialgericht vertretenen Auffassung sei deshalb gerade nicht das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen überprüft worden, so dass das Mitteilungsschreiben keinen Verwaltungsakt darstelle. Vielmehr sei der Vergleich zum letzten Erlass eines Verwaltungsakts nach umfangreicher Begutachtung im November 1999 zu ziehen. Insoweit sei eine wesentliche Änderung der Verhältnisse zu bejahen, wobei offen bleiben könne, ob der Hilfebedarf im April 2006 auf 84, 86 oder 90 Minuten zu beziffern gewesen sei. Jedenfalls seien 1999 die Voraussetzungen der Pflegestufe II gegeben gewesen; 2006 sei dies nicht mehr der Fall gewesen. Das Gutachten vom November 1999 enthalte zwar einen im Ergebnis unbeachtlichen Rechenfehler (betreffend 2 Minuten); im Übrigen sei es jedoch nicht zu beanstanden. Hilfsweise berufe sie - die Beklagte - sich darauf, dass die Weitergewährung von Leistungen der Pflegestufe II seit Dezember 2002 auf Angaben des Klägers bzw. seiner Mutter beruht habe. Eine etwaige Fehlerhaftigkeit der Weitergewährung sei durch unrichtige Angaben hervorgerufen worden, so dass die Voraussetzungen einer Rücknahme für die Vergangenheit nach § 45 SGB X vorlägen.

Erstmals in der Berufungsverhandlung am 14. November 2008 hat die Beklagte geltend gemacht, dass der Hilfebedarf des Klägers sich aus ihrer Sicht auch zwischen 2002 und 2006 deutlich verringert habe. Mit Beginn des Besuchs einer Werkstatt für Behinderte im Jahr 2003 sei eine Verselbständigung einhergegangen; eine logopädische Behandlung sei 2003 beendet worden. Im Bereich der Ernährung sei der Hilfebedarf entfallen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 11. Mai 2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er stützt das angefochtene Urteil und verweist darauf, dass aus seiner Sicht im November 2002 durchaus eine Überprüfung des Pflegebedarfs erfolgt sei. Hierfür sprächen bereits die im Übersendungsschreiben vom 15. November 2002 enthaltenen Formulierungen. Bei dem Schreiben der Beklagten handele es sich infolgedessen um einen Bescheid mit Verwaltungsaktsqualität; das Fehlen der Rechtsmittelbelehrung, das im Kranken- und Pflegeversicherungsrecht häufig anzutreffen sei, ändere hieran nichts. Die Hilfsargumentation der Beklagten könne ebenfalls nicht überzeugen. Von einer Täuschung könne nicht die Rede sein. In ihrer subjektiven Einschätzung sei seine Mutter jedenfalls davon ausgegangen, dass der Pflegebedarf sich nicht verringert, sondern eher - pubertätsbedingt - vergrößert habe. Das Sozialgericht habe ihm zu Recht Vertrauensschutz zuerkannt; insgesamt könne die Berufung keinen Erfolg haben.

In der Berufungsverhandlung am 14. November 2008 ist der Arzt für Innere Krankheiten und Psychiatrie Dr. Tb , S , als medizinischer Sachverständiger gehört worden. Wegen der Beweisfragen wird auf die Ladungsverfügung vom 4. September 2008 und wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme auf die Anlage zur Verhandlungsniederschrift vom 14. November 2008 Bezug genommen.

Dem Senat haben die Gerichtsakten einschließlich der den Kläger betreffenden Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Beteiligten wird hierauf Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht und aus zutreffenden Gründen entschieden, dass der Aufhebungsbescheid vom 15. Dezember 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26. April 2006 rechtswidrig ist. Denn die für die Bewilligung von Leistungen nach der Pflegestufe II maßgeblichen Verhältnisse haben sich zum Zeitpunkt des Widerrufs nicht wesentlich im Sinne von § 48 Abs. 1 SGB X geändert. Als Bezugspunkt hat das Sozialgericht in diesem Zusammenhang zu Recht auf das Schreiben der Beklagten vom 20. Dezember 2002 abgestellt, in dem auch der Senat nicht nur eine schlichte Mitteilung, sondern eine Weiterbewilligungsentscheidung mit Verwaltungsaktscharakter sieht.

Der Senat teilt nach eigener Überprüfung vollinhaltlich die Begründung des erstinstanzlichen Urteils, stellt dies hiermit ausdrücklich fest und weist die Berufung in Anwendung von § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurück. Dass sich zwischen Dezember 2002 und Anfang 2006 keine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse ergeben hat, wird durch die Ergebnisse des vom Senat gehörten Sachverständigen Dr. Tb noch einmal überzeugend bestätigt. Der Sachverständige, dessen gutachterliche Ausführungen der Senat sich zur Vermeidung von Wiederholungen zu Eigen macht, ist ebenso wie der vom Sozialgericht gehörte Sachverständige Ga im Ergebnis zu der Feststellung gelangt, dass sich die Verhältnisse nicht wesentlich geändert haben; zumindest ist eine solche Änderung nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. Tb nicht sicher festzustellen. Auf kleinere Unterschiede in der Bewertung des Pflegebedarfs kommt es in diesem Zusammenhang nicht entscheidend an. Die von der Beklagten in der Berufungsverhandlung erwähnten tatsächlichen Veränderungen haben beide Sachverständige in ihren Gutachten berücksichtigt; der Senat hat insoweit keinen Anlass zu ergänzenden Ermittlungen bzw. gutachterlichen Stellungnahmen gesehen.

Zu der im Berufungsverfahren im Wesentlichen streitigen Frage, ob die Verhältnisse von Anfang 2006 statt mit denjenigen vom Dezember 2002 mit denjenigen von November 1999 verglichen werden müssten, ist Folgendes auszuführen: Die Beklagte verweist in ihrer Berufungsbegründung im Ausgangspunkt zu Recht darauf, dass nach der Rechtsprechung insoweit die Verhältnisse der letzten Leistungsbewilligung maßgeblich sind (Urteil vom 7. Juli 2005, B 3 P 8/04 R, SozR 4-1300 § 48 Nr. 6 = BSGE 95, 57-66, auch veröffentlicht in juris). In der zitierten BSG-Entscheidung, der eine Bewilligungsentscheidung vom 11. August 2000 und ein Schreiben vom 11. Juni 2001 über die Weitergewährung von Leistungen nach einer erneuten MDK-Untersuchung vom 5. Juni 2001 zugrunde lagen, heißt es dazu (Rz 18):

"Das Schreiben vom 11. Juni 2001 enthält nicht lediglich eine schlichte Mitteilung über das Ergebnis des MDK-Gutachtens vom 5. Juni 2001 und einen Hinweis auf die unveränderte Rechtslage, die sich aus dem Bescheid vom 11. August 2000 ergab, sondern einen neuen Verwaltungsakt, der mit formlosem Schreiben der Klägerin bekannt gegeben worden ist (§§ 31, 39 Abs 1 SGB X). Die Beklagte hat die Anspruchsvoraussetzungen der §§ 14 und 15 SGB XI vollständig neu geprüft und auf Grund des MDK-Gutachtens vom 5. Juni 2001, das auf der Wiederholungsuntersuchung vom 31. Mai 2001 basiert, erneut und unabhängig von der Leistungsbewilligung des Jahres 2000 bejaht. Die Verfügungssätze lauten: "Ab dem 1. Juni 2001 liegt nach wie vor Pflegebedürftigkeit nach der Pflegestufe I vor. Das Pflegegeld dieser Pflegestufe beträgt 400 DM." Damit liegt ein die Zeit ab 1. Juni 2001 betreffender Folgebescheid (Zweitbescheid) vor, der den ursprünglichen Leistungsbescheid vom 11. August 2000 ersetzt hat. Anders wäre es gewesen, wenn die Beklagte lediglich erklärt hätte, dass die Nachuntersuchung keinen Anlass gegeben hätte, den Bescheid vom 11. August 2000 zu ändern. Bei der gewählten Formulierung ist auch ohne formelle Feststellung der Ersetzung der erste Bescheid für die Zeit ab 1. Juni 2001 gegenstandslos geworden. Er hat sich durch den Folgebescheid "auf sonstige Weise erledigt" (§ 39 Abs 2 SGB X)."

Nach diesen Maßstäben ist auch im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass das Schreiben der Beklagten vom 20. Dezember 2002 eine Weiterbewilligungsentscheidung mit Verwaltungsaktsqualität und nicht bloß eine schlichte Mitteilung ist. Maßgebend für diese Auslegung ist nicht die interne Erklärungsabsicht der Beklagten, sondern der verobjektivierte Empfängerhorizont. Dabei kann - worauf die Berufungserwiderung zu Recht hinweist - nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Beklagte mit dem den "Fragebogen zur Nachuntersuchung" übersendenden Schreiben vom 15. November 2002 ausdrücklich eine Überprüfung der Pflegesituation angekündigt hat. Als Ziel der Überprüfung ist dabei angegeben unter anderem die Feststellung, ob sich die Pflegesituation geändert hat. Im folgenden Absatz des Schreibens hat die Beklagte ausdrücklich angekündigt, zur Entlastung des MDK "eine Entscheidung über die Weitergewährung der jetzigen Pflegestufe nach Aktenlage herbeizuführen". Wenn es dann - nach Rücksendung des Änderungen des Gesundheitszustandes verneinenden Fragebogens durch den Kläger bzw. seine Mutter und Entscheidung des MDK, dass eine Nachuntersuchung aus medizinischen Gründen nicht notwendig sei - in dem Schreiben vom 20. Dezember 2002 heißt, dem Kläger könne weiterhin ein Pflegegeld gemäß der Pflegestufe II gezahlt werden, musste das aus Empfängersicht als Bescheid mit Regelungscharakter angesehen werden, zumal die Beklagte ihr Schreiben selbst im zweiten Absatz ausdrücklich als "Leistungszusage" bezeichnet hat. Auffallend ist auch, dass die Formulierungen dieses Schreibens weitgehend denjenigen im Schreiben vom 6. Dezember 1999 entsprechen, dem unzweifelhaft Regelungscharakter zukommt. Auch dies spricht dafür, das Schreiben vom 20. Dezember 2002 aus Empfängersicht als Bescheid mit Verwaltungsaktsqualität anzusehen. Dass diesem Schreiben - wie auch dem Bescheid vom 6. Dezember 1999 und früheren Bewilligungsentscheidungen - keine Rechtsmittelbelehrung beigefügt war, ist demgegenüber von untergeordneter Bedeutung, zumal dies - worauf die Berufungserwiderung zu Recht verweist - im Bereich von Kranken- und Pflegeversicherung häufiger Praxis entspricht. Ebenso ist es nach Auffassung des Senats nicht entscheidend, dass vor Erlass des Bescheides vom 20. Dezember 2002 keine ausführliche MDK-Untersuchung in allen Einzelheiten stattgefunden hat. Denn bereits aus dem Übersendungsschreiben vom 15. November 2002 wurde deutlich, dass die Beklagte beabsichtigte, eine Überprüfung der Pflegesituation vorzunehmen. Wenn die Beklagte die im Fragebogen enthaltene Mitteilung des Klägers bzw. seiner Mutter, die gesundheitlichen Verhältnisse hätten sich nicht geändert, zu der Einschätzung veranlasst hat, es lägen keine neuen Erkenntnisse zur Pflegebedürftigkeit bzw. über eine Besserung vor, und diesen Sachverhalt dem MDK zur Entscheidung über die Notwendigkeit einer Nachuntersuchung mitgeteilt hat, ist damit inhaltlich gleichwohl eine Überprüfung der Pflegesituation verbunden gewesen, die zur Entscheidung der Beklagten über die Weiterbewilligung geführt hat. Die mit dem Verzicht auf eine weitergehende MDK-Begutachtung verbundenen Risiken können dem Kläger nicht angelastet werden, weil nicht er, sondern die Beklagte ggf. eine Nachuntersuchung durch den MDK zu veranlassen hatten.

Soweit die Beklagte hilfsweise damit argumentiert, dass der Kläger bzw. seine Mutter unrichtige Angaben gemacht hätten, so dass die Voraussetzungen einer Rücknahme nach § 45 SGB X gegeben seien, so vermag dies nicht zu überzeugen. Denn jedenfalls haben der Kläger bzw. seine Mutter nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig falsche Angaben im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X gemacht. Es liegt auf der Hand, dass die in dem Fragebogen vorgedruckte Frage, ob sich am Gesundheitszustand etwas geändert habe, eine subjektive Bewertung des Leistungsempfängers (hier: des Klägers bzw. seiner Mutter) verlangt, die nur sehr begrenzt medizinische Erkenntnisse einbeziehen kann. Weitere Fragen zu tatsächlichen Einzelheiten - etwa zum Umfang der erforderlichen Pflege - enthält der Fragebogen nicht. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass die bei dem Kläger vorhandenen Gesundheitsstörungen auch nach den Ergebnissen der in beiden Instanzen gehörten Sachverständigen weitgehend unverändert geblieben sind, kann in der im Fragebogen enthaltenen Erklärung des Klägers bzw. seiner Mutter keine vorsätzliche oder grob fahrlässige Falschangabe gesehen werden.

Nach allem kann die Berufung keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.

Der Senat hat keinen Anlass gesehen, nach § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
Saved