L 13 R 43/07

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 53 R 27/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 R 43/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 138/08 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichtes Düsseldorf vom 02.02.2007 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin ist Witwe des verstorbenen T A (Versicherter) und begehrt eine Hinterbliebenenrente nach dem SGB VI unter Berücksichtigung von so genannten Ghettobeitragszeiten wegen einer Beschäftigung des Versicherten im Ghetto Sosnowitz (poln.: Sosnowice) in Oberschlesien von November 1939 bis März 1941.

Der am 00.00.1923 in Kobryn (Kreis Brzesc) in Polen geborene und am 29.11.2002 verstorbene Versicherte war jüdischen Glaubens. Er war gemäß § 1 Abs. 1 des Bundesentschädigungsgesetztes (BEG) als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung anerkannt, unter anderem wegen Schaden an Freiheit in Ghetto Sosnowitz von Herbst 1939 bis März 1941.

Im Entschädigungsverfahren nach dem BEG gab der Versicherte mit Erklärung vom 28.05.1957 an:

"Bei Kriegsausbruch wohnte ich in Sosnowice, Polen. Im Herbst 1939 schon bald nach dem Einmarsch der Deutschen wurden gegen uns Juden Sonderbestimmungen erlassen, ein Judenrat unter Vorsitz des Herrn N wurde eingesetzt, wir mussten das Judenabzeichen tragen, bestimmte Straßen durften wir nicht betreten und wir wurden zu Arbeiten herangezogen. Ich machte verschiedene Reinigungsarbeiten und musste auch Wache stehen. Bis etwa März 1941 verbrachte ich unter diesen Beschränkungen in Sosnowice, dann wurde ich eines Nachts abgeführt ..."

Der Zeuge S bestätigte mit Erklärung vom 22.12.1959, er sei mit dem Kläger zusammen in Sosnowitz nach dem Einmarsch der Deutschen Truppen bald zu verschiedenen Zwangsarbeiten "genommen worden" und habe kurz darauf auch das Judenkennzeichen tragen müssen.

Der Zeuge K C erklärte mit eidesstattlicher Versicherung vom 02.06.1955 (Bl. 12 E-Akte S) er habe sich seit Anfang 1940 mit dem Zeugen S im Judensperrgebiet ("Ghetto") Sosnowitz aufhalten müssen und zwei gelbe Davidsterne tragen müssen. Der Zeuge habe in seiner Nähe gewohnt und auf dem Weg zur Arbeit habe er ihn fast jeden Tag gesehen. Der Zeuge S sei für die Straßenreinigung und später beim Straßenbau "verwendet" worden. Tagtäglich sei gearbeitet worden, jedoch zwangsweise ohne jede Bezahlung, bis sie im März 1941 in das ZAL Göppersdorf überführt worden seien.

Am 28.02.2003 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Zahlung einer Hinterbliebenenrente mit Hinweis auf das ZRBG. Sie gab an, der Versicherte habe auf Vermittlung des Judenrates im Ghetto Sosnowitz von November 1939 bis März 1941 Straßen gereinigt und im Winter Schnee geschaufelt, 8 bis 10 Stunden täglich. Die Arbeit sei mit wenig Geld und Lebensmittelkarten entlohnt worden.

Mit Bescheid vom 11.02.2004 (Bl. 61 VA) lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil nach den vorliegenden Unterlagen das Ghetto Sosnowitz erst im Oktober 1942 errichtet worden sei.

Dagegen erhob die Klägerin rechtzeitig Widerspruch.

Mit Bescheid vom 30.09.2005 ergänzte die Beklagte den Bescheid vom 11.02.2004 nach entsprechendem Antrag der Klägerin dahingehend, dass sie auch die Anerkennung der beantragten Arbeitszeit im Ghetto Sosnowitz nach den Vorschriften des FRG, des WGSVG sowie anderen rentenrechtlichen Vorschriften ablehnte.

Mit Widerspruchsbescheid vom 23.05.2006 (Bl. 85 VA) wies die Beklagte den Widerspruch zurück und führte darin im Einzelnen aus, warum nach ihrer Ansicht frühestens von Herbst 1942 an von einem Ghetto in Sosnowitz gesprochen werden könne. Der Bescheid machte außerdem allgemeine Ausführungen über die Organisation der Arbeitstätigkeit von jüdischen Ghettoinsassen von März 1941 an.

Mit ihrer rechtzeitig erhobenen Klage hat die Klägerin vorgetragen, der Versicherte sei wie alle jüdischen Arbeiter im Ghetto Sosnowitz entlohnt worden. Sie verweise auf die vorliegenden Gutachten. Es sei unerheblich, ob es sich um ein offenes oder geschlossenes Ghetto gehandelt habe.

Mit dem angefochtenen Urteil vom 02.02.2007 (Bl. 17 GA) hat das Sozialgericht Düsseldorf die Klage abgewiesen. Es sei nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass der Versicherte entgeltlich gearbeitet habe. Soweit er behaupte, für seine Arbeiten zusätzliche Lebensmittel oder Geld für Lebensmittel erhalten zu haben, unterfalle diese freie Unterhaltsgewährung schon nicht dem Entgeltbegriff im Sinne des Rentenversicherungsrechts. Bezüglich der darüber hinaus gewährten Lebensmittel zur Mitnahme nach Hause für Familienangehörige sei nicht zu erkennen, dass der Versicherte beliebig über diese Lebensmittel habe verfügen können. Auch bei Zwangsarbeitsverhältnissen sei es nicht unüblich, dass der Zwangsarbeiter über die eigene Verpflegung hinaus Lebensmittel für Familienangehörige erhalte. Jedenfalls lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Versicherten Lebensmittel in einem Umfang und einer Regelmäßigkeit gewährt worden seien, dass noch ein angemessenes Verhältnis zur Gegenleistung (Arbeit) bestanden habe.

Mit ihrer rechtzeitig eingelegten Berufung hat die Klägerin vorgebracht, die Anwendung des ZRBG sei inzwischen durch verschiedene Gutachten "belegt". Nach dem Gutachten des Prof. Golczewski vom 20.11.2006 hätten alle Tätigkeiten innerhalb des Ghettos für den internen Bedarf eindeutig nicht zu Zwangsarbeiten gehört. Für die Feststellung von Ghettobeitragszeiten sei es unerheblich, ob es sich um ein offenes oder geschlossenes Ghetto gehandelt habe.

Die Klägerin beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom 02.02.2007 und unter Aufhebung des Bescheides vom 11.02.2004 und vom 30.09.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.05.2006 eine Versicherungsunterlage über die Tätigkeit von November 1939 - März 1941 nach dem ZRBG herzustellen und eine Witwenrente mit der Verfolgungszeit als Ersatzzeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie beruft sich auf die Ausführungen der angefochtenen Bescheide des angefochtenen Urteils.

Das Gericht hat das Gutachten des Prof. Dr. Golczewski vom 31.01.2007 zur Situation im Ghetto Sosnowitz, Oberschlesien beigezogen (Bl. 59 GA) sowie die Entschädigungsakte des Zeugen S. Der Senat hat außerdem eine Auskunft des Staatsarchivs Kattowitz (poln.: Katowice) eingeholt, auf deren Inhalt im Einzelnen Bezug genommen wird (Bl. 128 GA).

Wegen der weiteren Einzelheiten wird verwiesen auf die beigezogenen Entschädigungsakten, die Verwaltungsvorgänge der Beklagte und die Gerichtsakte.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten dem zugestimmt haben, § 124 Abs. 2 SGG.

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung, weil der Versicherte keine Pflichtbeiträge aufzuweisen hatte, die auf die Wartezeit anrechenbar wären, §§ 46 Abs. 1 S. 1 i.V.m. 35 S. 1 Nr. 2 SGB VI.

(Fiktive) Beiträge ergeben sich für den Versicherten insbesondere nicht aus § 2 Abs. 1 ZRBG, weil die Voraussetzungen des § 1 ZRBG nicht erfüllt sind.

Auf die Frage, ab wann ein Ghetto im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 1 ZRBG in Sosnowitz existiert hat (vgl. zum Problem des "offenen" Ghettos das Urteil des Senates 15.12.2006 - L 13 RJ 112/04, Juris Rz. 31 ff. m.w.Nw.) kommt es für den vorliegenden Fall nicht an.

Denn es ist jedenfalls nicht überwiegend wahrscheinlich, dass der Versicherte in Sosnowitz eine Tätigkeit aus eigenem Willensentschluss gegen Entgelt im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. a und b ZRBG ausgeübt und seine Arbeit damit dem Typus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung (vgl. BSG, Urteil v. 18.06.1997 - 5 RJ 66/95, BSGE 80, 250, 252; vgl. BT-Drs. 14/8583, S. 6) entsprochen hätte. Vielmehr ist es mindestens ebenso wahrscheinlich, dass er dort nichtversicherte Zwangsarbeit verrichten musste.

Zwangsarbeit, die einen eigenen Willensentschluß im Sinne des ZRBG ausschließt, liegt nicht erst dann vor, wenn die Aufnahme der Beschäftigung von hoher Hand mit absoluter Gewalt oder der Drohung mit solcher Gewalt, also unter unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben oder die Restfreiheit der Ghettobewohner bewirkt oder gefordert wird (so aber BSG, 4. Senat, Beschluss v. 20.12.2007 - B 4 R 85/06). Sie ist vielmehr von dem in §§ 1 bis 3 ZRBG beschriebenen Typus des freiwilligen und entgeltlichen Beschäftigungsverhältnisses, das sich auf einen vereinbarungsgemäßen Austausch wirtschaftlicher Werte (Arbeit gegen Lohn) richtet, in wertender Betrachtung nach den Umständen des Einzelfalls (vgl. BVerfG, Beschluss v. 20.05.1996 - 1 BvR 21/96 SozR 3 - 2400 § 7 Nr. 11 Rn. 11) abzugrenzen. Eine Arbeit ist umso eher Zwangsarbeit, als sie von hoheitlichen Eingriffen geprägt wird, denen sich der Betroffene nicht entziehen kann, wie etwa Bewachung während der Arbeit zur Fluchtverhinderung, einseitige Zuweisung an bestimmte Arbeitgeber, Vorenthaltung von Entgelt (vgl. BSG, Urteil vom 14.07.1999, B 13 RJ 71/99 R m.w.Nw), Misshandlungen oder Missachtung elementarer Arbeitsstandards zum Schutz von Leben und Gesundheit.

Gegen eine Tätigkeit aus eigenem Willensentschluss sprechen danach zunächst die Angaben des Versicherten sowie der Zeugen im Entschädigungsverfahren. Dort hat der Versicherte die Entschädigung für Freiheitsschaden nach dem BEG im Ghetto Sosnowitz u.a. ausdrücklich wegen "Zwangsarbeit" beantragt und ausgesagt, er sei zu Reinigungsarbeiten "herangezogen" worden. Der Zeuge T S hat im BEG-Verfahren des Klägers mit Erklärung vom 22.12.1959 angegeben, der Kläger und er seien bald nach Einmarsch der deutschen Truppen zu verschiedenen "Zwangsarbeiten genommen" worden. Der Zeuge C schließlich hat mit Erklärung vom 02.06.1955 (Bl. 12 E-Akte S) ebenfalls bestätigt, der Zeuge S habe bei der Straßenreinigung tagtäglich "zwangsweise" gearbeitet.

Zwar schließt allein die Bezeichnung einer Tätigkeit im Entschädigungsverfahren als "Zwangsarbeit" eine Beschäftigung im Sinne des ZRBG noch nicht zwingend aus. Es liegt nahe, dass etwa der damals jugendliche Versicherte Straßenreinigungs- und vor allem winterliche Schneeräumungsarbeiten als hart und entbehrungsreich erlebt und deshalb - unabhängig von der präzisen juristischen Bedeutung des Begriffs - als "Zwangsarbeit" bezeichnet hat.

Indes spricht hier zusätzlich gegen den Typus eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses, dass auch eine Tätigkeit gegen Entgelt im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. b ZRBG nicht glaubhaft gemacht worden ist; das ist, wie ausgeführt, charakteristisch für Zwangsarbeit (vgl. hierzu BSGE 38, 245 = SozR 5070 § 14 Nr. 12; BSG, Urteil vom 20. Februar 1975 - 4 RJ 15/74 -; BSG SozR 5070 § 14 Nr. 9).

Der Zeuge C hat im Entschädigungsverfahren ausdrücklich erklärt, die Reinigungsarbeiten im Ghetto Sosnowitz, zu denen der Zeuge S "verwendet" wurde, seien "ohne jede Bezahlung" erfolgt. Dies lässt es wenig wahrscheinlich erscheinen, dass der Versicherte zu derselben Zeit vergleichbare Arbeiten für eine nennenswerte Gegenleistung verrichtet hat. Dies gilt umso mehr, als der Empfang von Geld und anderen Gegenleistungen erstmals im ZRBG-Verfahren von der Klägerin geltend gemacht worden ist, die indes nicht dargelegt hat, woher und wieviel sie von den Gegenleistungen an den verstorbenen Versicherten weiß.

Die im Verfahren vorgelegte Lohnliste der städtischen Reinigungsbetriebe Sosnowitz (Bl. 141 GA) lässt ebenfalls nicht darauf schließen, dass der Versicherte für seine Arbeit bezahlt worden ist. Die Liste betrifft die Zeit vom Dezember 1941 an, als der Versicherte das Ghetto schon verlassen hatte. Das vom Senat um Auskunft ersuchte Staatsarchiv Kattowitz hat den Namen des Versicherten auch auf früheren Lohnlisten der Reinigungsbetriebe in Sosnowitz nicht zu finden vermocht. Aus der Existenz derartiger Lohnlisten der städtischen Reinigungsbetriebe folgt nicht, dass bereits von 1939 an jede Reinigungstätigkeit im Ghetto entlohnt wurde.

Die Annahme von unbezahlter Zwangsarbeit auf Befehl deutscher Behörden steht im Fall des Versicherten zudem in Einklang mit den historischen Erkenntnissen, die dem Senat vorliegen. Nach dem zur Gerichtsakte genommenen Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Golczewski vom 31.1.2007 bestand für die Ghettobewohner in Sosnowitz von Beginn der deutschen Besatzung an Arbeitspflicht, die nach den ersten Erfahrungen mit dem ungeregelten Abfangen von Juden durch den Judenrat umgesetzt wurde. Zu den Tätigkeiten im Rahmen dieser Arbeitspflicht gehörten insbesondere öffentliche Arbeiten wie die vom Versicherten angegebene Straßenreinigung (Bl. 65 GA). Dagegen entstand der Verwaltungsapparat für die Zuteilung jüdischer Arbeitskräfte in - teilweise auch bezahlte - Produktionstätigkeiten erst im Laufe des Jahres 1940 (a.a.O. Bl. 64 f.). Erst von November 1940 an begann die Vermittlung jüdischer Arbeitskräfte in bestehende und neu herangezogene Betriebe, die als "Wehrmachtsfertigungstätten" oder "Shops" teilweise entlohnte Tätigkeiten boten. Auch diese zeitliche Entwicklung der Arbeitsorganisation spricht nicht dafür, dass der Versicherte schon von November 1939 an, kurz nach dem deutschen Einmarsch, eine Beschäftigung bei der Straßenreinigung aus eigenem Willensentschluss aufgenommen hat und dafür entlohnt worden ist.

Ebenso wenig kommt die von der Beklagten mit dem angegriffenen Bescheid vom 30.09.2005 abgelehnte Anerkennung von Beitragszeiten nach den Vorschriften des FRG und des WGSVG in Betracht. Denn diese Vorschriften würden ein versicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis voraussetzen, das, wie ausgeführt, nicht glaubhaft gemacht ist.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.

Der Senat läßt die Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG mit Blick auf die zitierte Rechtsprechung des 4. Senats des Bundessozialgerichts zum Begriff des eigenen Willensentschlusses zu ( vgl. BSG, 4. Senat, Beschluss v. 20.12.2007 - B 4 R 85/06), der er wegen der Entstehung des ZRBG aus der bis zum Jahr 2002 ergangenen Ghettorechtsprechung des 5. und 13. Senats des BSG (vgl. BSG, Urteil v. 18.06.1997 - 5 RJ 66/95, BSGE 80, 250, 252 sowie BT-Drs. 14/8583, S. 1 u. 6) nicht folgt.
Rechtskraft
Aus
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