L 4 P 5196/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 11 P 3442/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 5196/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 14. August 2007 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Klägerin begehrt Pflegegeld ab 01. November 2005.

Die am 1949 geborene Klägerin wohnt mit ihrem Lebensgefährten und dessen zwei Kindern im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses. Sie bezieht Rente wegen Erwerbsminderung. Am 07. Oktober 2005 erlitt sie einen akuten Myocardinfarkt, der eine Anschlussheilbehandlung bis 08. November 2005 erforderlich machte. Am 26./27. November 2005 war nochmalige stationäre Behandlung zum Ausschluss eines neuen Infarkts sowie am 01. Februar 2006 eine Bypassoperation mit anschließender Rehabilitationsbehandlung vom 08. Februar bis 08. März 2006 erforderlich. Es besteht ferner ein Diabetes mellitus mit vielfältigen Komplikationen. Die Belastbarkeit des Herzens ist seither eingeschränkt.

Am 14. November 2005 beantragte die Klägerin Geldleistungen der Pflegeversicherung. Pflegefachkraft G. K. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) in V.-S. erstattete das Gutachten vom 01. März 2006. Für die Grundpflege sei Zeitaufwand von 21 Minuten pro Tag erforderlich, und zwar für Ganzkörperwäsche sechs Minuten, mundgerechte Zubereitung der Nahrung zwei Minuten, Aufstehen und Zu-Bett-Gehen eine Minute, Ankleiden acht Minuten und Entkleiden vier Minuten. Die Hauswirtschaft erfordere im Wochendurchschnitt 60 Minuten pro Tag. Durch Bescheid vom 20. März 2006 lehnte die Beklagte den Antrag ab, da ein Zeitaufwand für die Grundpflege von mehr als 45 Minuten nicht erreicht sei.

Die Klägerin erhob Widerspruch. Wegen des Herzschadens könne sie sich nicht mehr allein waschen, Haare und Nägel schneiden, kämmen und anziehen. Ihr sei der ganze Brustkorb aufgeschnitten worden. Sie brauche jeden Tag Tabletten, um sich überhaupt bewegen zu können. Sie müsse sich dreimal täglich und auch bei Nacht waschen. Bereits in der Reha sei dieser gesamte Hilfeaufwand nötig gewesen. Die Klägerin legte den von ihr und dem Lebensgefährten unterschriebenen Hilfebedarfsermittlungsbogen vom 08. April 2006 vor. Sie benötige für die Körperpflege etwa 135 Minuten und für die Mobilität (hauptsächlich An- und Entkleiden) etwa 98 Minuten. Wegen des Schwitzens müsse sie sich etwa zweimal bei Nacht frischmachen lassen. Sie nehme täglich den Pflegedienst der Diakonie Dornhan in Anspruch.

Pflegefachkraft D. vom MDK erstattete das Gutachten nach Aktenlage vom 05. Mai 2006. Der jetzt aktuell angegebene Hilfebedarf sei nicht nachvollziehbar. Außer der eingeschränkten Belastbarkeit des Herzens sowie einer eingeschränkten Beweglichkeit des linken Armes bestünden bezüglich des hier zu prüfenden Aufwands keine weiteren Einschränkungen. Vom Ergebnis des Vorgutachtens könne nicht abgewichen werden. Die Klägerin verblieb dabei (Schreiben vom 02. Juni 2006), sie könne sich wegen der schweren Schmerzen und der Bewegungseinschränkungen nicht allein waschen und anziehen.

Der Widerspruchsausschuss der Beklagten erließ den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 22. Juni 2006. Nach den vorliegenden Gutachten seien die Kriterien der erheblichen Pflegebedürftigkeit zum Zeitpunkt der jeweiligen Begutachtung nicht erfüllt.

Mit Schreiben vom 10. Juli 2006, bei der Beklagten am 13. Juli 2006 eingegangen, erhob die Klägerin erneut "Widerspruch". Es sei unverständlich, dass sie bei ihrer eingeschränkten Belastbarkeit kein Pflegegeld erhalte. Sie könne den linken Arm und die Hand nicht benutzen. Sie müsse für die Pflegeleistungen bezahlen. Nachdem die Beklagte zunächst darauf hingewiesen hatte (Schreiben vom 18. Juli 2006), ein erneuter Widerspruch sei nicht zulässig, ging am 18. September 2006 ein neuer "Widerspruch" beim Sozialgericht Reutlingen (SG) ein. Die Klägerin verblieb dabei, sie sei schwer herzkrank, habe Kreislauf und Diabetes und manches mehr. Sie brauche einfach für alles Hilfe. Sie dürfe sich nicht aufregen und habe einen Rollstuhl. Es müsse ein neues Gutachten erstellt werden. Sie sei am 01. Februar 2006 erneut am Herzen operiert worden.

Die Beklagte trat unter Hinweis auf die bisherigen Ermittlungen der Klage entgegen.

Arzt für Allgemeinmedizin Dr. A. berichtete in der schriftlichen Zeugenaussage vom 03. November 2006 über die Behandlung. Die Klägerin sei nur gering körperlich belastbar. Es finde engmaschige Behandlung manchmal in Tages-, manchmal Wochenabständen statt. Zum Pflegebedarf wollte Dr. A. im Einzelnen nicht Stellung nehmen. Beigefügt war u.a. der Bericht des Herzzentrums L./Baden vom 08. Februar 2006 über die stationäre Behandlung vom 30. Januar bis 08. Februar 2006 sowie der Entlassungsbericht des Kardiologen Dr. W. vom 20. März 2006 über die stationäre Rehabilitationsbehandlung vom 08. Februar bis 08. März 2006.

Pflegefachkraft D. erstattete aufgrund Untersuchung das Gutachten vom 15. Mai 2007. Er ermittelte einen Zeitaufwand von insgesamt 22 Minuten, davon für die Körperpflege elf Minuten (Ganzkörperwäsche acht, Zahnpflege zwei und Kämmen eine Minute), für die Ernährung (mundgerechte Zubereitung) drei Minuten und für die Mobilität acht Minuten (Ankleiden fünf Minuten, Entkleiden drei Minuten). Die Klägerin nahm mit Schreiben vom 17. Juni 2007 Stellung, es würden nicht nur 22 Minuten benötigt; es solle mal einer zeigen, wie man das macht.

Durch Urteil vom 14. August 2007 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung legte es dar, nach dem Gutachten der Pflegefachkraft D. liege der tägliche Hilfebedarf mit 22 Minuten deutlich unter dem Mindestmaß von über 45 Minuten. Der Gutachter D. sei im Ergebnis zu Recht unterhalb der Grenzen der nach den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigen nach dem SGB XI (Begutachtungs-Richtlinien) anzusetzenden Zeitkorridore geblieben, nachdem wesentliche Erschwernisfaktoren nicht vorlägen und die Klägerin weitgehend selbst bei Körperpflege, An- und Entkleiden mithelfen könne. Geringfügige Hilfeleistungen wie nächtliches Frischmachen oder Beruhigen seien nicht eigens zu berücksichtigen.

Gegen das am 27. September 2007 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 26. Oktober 2007 beim SG Berufung eingelegt. Sie trägt vor, sie könne sich nicht nur einmal am Tag waschen dürfen und habe außerdem lange Haare. Bereits beim Atmen habe sie große Probleme. Der Gutachter habe sie lediglich auf dem Sofa liegend aus der Entfernung gesehen. Er habe nicht einmal beachtet, wie ihre Füße aussähen. Sie habe auch zunehmend Panikattacken. Wesentlich sei weiterhin, dass sie ihren linken Arm nicht gebrauchen könne und auch die linke Schulter große Probleme mache.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 14. August 2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 20. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Juni 2006 zu verurteilen, ihr Pflegegeld ab 01. November 2005 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist weiterhin auf die Ergebnisse der eingeholten Gutachten.

Zur weiteren Darstellung wird auf den Inhalt der Berufungsakten, der Klageakten und der von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

II.

Der Senat hat über die Berufung der Klägerin gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch Beschluss entschieden, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten hat. Die Beteiligten sind durch gerichtliches Schreiben vom 06. März 2008 zum beabsichtigten Verfahren gehört worden. Anlass, hiervon abzuweichen, hat sich nicht mehr ergeben.

Die zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache keinen Erfolg. Das Urteil des SG vom 14. August 2007 ist nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat zu Recht Pflegeleistungen auch nach Pflegestufe I abgelehnt.

Nach § 37 Abs. 1 Satz 1 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) können Pflegebedürftige anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen. Pflegebedürftig im Sinne dieser Vorschrift ist, wer einer der drei Pflegestufen zugeordnet ist. Pflegebedürftig sind nach § 14 Abs. 1 SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, die im Einzelnen in § 14 Abs. 4 SGB XI genannt sind, auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate in erheblichem oder höherem Maß (§ 15 SGB XI) der Hilfe bedürfen. Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) sind nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für mindestens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen (§ 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI). Die Grundpflege umfasst die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen aus den Bereichen der Körperpflege (§ 14 Abs. 4 Nr. 1 SGB XI), der Ernährung (Nr. 2) und der Mobilität (Nr. 3). Zur Grundpflege zählt demnach im Einzelnen der Hilfebedarf beim Waschen, Duschen, Baden, bei der Zahnpflege, beim Kämmen, Rasieren sowie bei der Darm- und Blasenentleerung (Körperpflege), beim mundgerechten Zubereiten der Nahrung und bei der Aufnahme der Nahrung (Ernährung) sowie beim selbstständigen Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen sowie beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung (Mobilität).

Der Zeitaufwand für die Grundpflege erreicht hier den für die Pflegestufe I vorausgesetzten Zeitaufwand von über 45 Minuten nicht. Dies hat das SG im Einzelnen zutreffend dargelegt. Auf die Entscheidungsgründe wird gemäß § 153 Abs. 2 SGG in vollem Umfang Bezug genommen. Das Vorbringen der Klägerin im Berufungsverfahren vermag aus den im Folgenden darzulegenden Gründen an diesem Ergebnis nichts zu ändern.

Das Ausmaß des Pflegebedarfs ist nach einem objektiven ("abstrakten") Maßstab zu beurteilen. Denn § 14 SGB XI stellt allein auf den "Bedarf" an Pflege und nicht auf die unterschiedliche Art der Deckung dieses Bedarfs bzw. die tatsächlich erbrachte Pflege ab (vgl. Bundessozialgericht (BSG) SozR 3-3300 § 14 Nr. 19). Für die Ermittlung von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den Pflegestufen kommt es mithin allein auf den Hilfebedarf bei den in § 14 Abs. 4 Nrn. 1 bis 3 SGB XI aufgeführten Verrichtungen der Grundpflege an. Der Katalog des § 14 Abs. 4 SGB XI ist abschließend; sonstige dort nicht genannte Tätigkeiten können keine Berücksichtigung finden. Die Zeitkorridore, die die auf der Ermächtigung des § 17 SGB XI beruhenden Begutachtungs-Richtlinien vom 21. März 1997 in der Fassung vom 11. Mai 2006 enthalten, können für die dem Normalfall entsprechenden Pflegemaßnahmen als "Orientierungswerte" zur Pflegezeitbemessung dienen (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 15). Diese Zeitwerte sind zwar keine verbindlichen Vorgaben; es handelt sich jedoch um Zeitkorridore mit Leitfunktion (Abschnitt F Nr. 1 der Begutachtungs-Richtlinien; vgl. dazu BSG SozR 4-3300 § 23 Nr. 3 m.w.N.). Dabei beruhen die Zeitkorridore auf der vollständigen Übernahme der Verrichtungen durch eine Laienpflegekraft.

Pflegefachkraft D. hat im Gutachten vom 15. Mai 2007 (Untersuchung am 10. Mai 2007) den aktuellen Zustand eingehend beschrieben. Hiernach besteht bei Schmerzen im Brustbereich Unbeweglichkeit des linken Armes seit der Schultererkrankung im Juni 2006 bei unauffälliger Beweglichkeit des rechten Armes und der rechten Hand. Trotz dieser Einschränkungen kann sich die Klägerin in der Wohnung selbstständig ohne Hilfsmittel bewegen. Die Kraft der rechten Hand ist unauffällig. Bei stärkerer Belastung ist die Atmung eingeschränkt. Die Toilettengänge sind in der Regel selbstständig möglich. Panikattacken sind glaubhaft. Eine geistige oder psychische Beeinträchtigung ist nicht erkennbar. Weitere wesentlich ins Gewicht fallende Beeinträchtigungen hat die Klägerin nicht schlüssig geltend gemacht.

Ausgehend von diesem Zustand ist erklärlich, dass die Klägerin mit dem rechten Arm noch aktiv bei der Körperpflege mithelfen kann, wenn die Utensilien zur Zahnpflege bereitgestellt werden und das Kämmen der linken Seite übernommen wird. Der Gutachter nennt für die tägliche Ganzkörperwäsche acht Minuten, für die Zahnpflege aus den dargelegten Gründen zwei Minuten und für das Kämmen eine Minute. Dies ergibt für die Körperpflege zusammen elf Minuten. Für die mundgerechte Zubereitung der Nahrung erscheinen drei Minuten ausreichend angesetzt; die Aufnahme der Nahrung ist mit der gesunden Hand uneingeschränkt gewährleistet. An- und Entkleiden erfordern nach der Einschätzung des Gutachters acht Minuten. Dies sind für die Grundpflege zusammen etwa 22 Minuten. Mithin wird der Mindestaufwand für Pflegestufe I etwa zur Hälfte erreicht. Einen deutlich höheren Aufwand hat die Klägerin auch zuletzt (Schreiben vom 26. März 2008) nicht zu nennen vermocht. Sofern die Pflege der Narbe nach "offenem Bein" überhaupt zu berücksichtigen und nicht bereits der hier nicht anzurechnenden Behandlungspflege zuzuzählen ist, kann dies allenfalls eine geringfügige Erhöhung des Aufwands bedingen. Dass allgemein Probleme mit dem Kreislauf und dem Herzen bestehen, wirkt sich nicht auf den Pflegeaufwand aus, solange, wie dargelegt, zusätzliche funktionale Einschränkungen nicht erkennbar sind und hierdurch der praktische Aufwand der Pflegepersonen nicht merklich erhöht wird. Es mag beim Kämmen wegen der langen Haare ein höherer Hilfeaufwand bestehen, allerdings nur in einem Umfang von einigen zusätzlichen Minuten, sodass sich insgesamt kein Hilfebedarf von 46 Minuten ergeben kann. Die allgemeine Äußerung zum Gutachten, es solle mal einer zeigen, wie man das in den errechneten etwa 22 Minuten mache, genügt nicht, vom hier dargelegten Ergebnis abzuweichen oder in eine neue Begutachtung einzutreten. Im Falle einer nachweislichen Verschlimmerung - auch mit Auswirkungen auf den Zeitaufwand der Pflegepersonen - steht der Klägerin ein neuer Antrag offen.

Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 SGG.

Zur Zulassung der Revision besteht kein Anlass.
Rechtskraft
Aus
Saved