L 12 An 1256/87

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 1 An 274/87
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 12 An 1256/87
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Es liegt kein Verstoß gegen Verfassungsrecht darin, daß das Hinterbliebenenrenten- und Erziehungsgesetz (HEZG) die Übertragung von Kindererziehungszeiten beim allein- oder überwiegend erziehenden Vater von einer entsprechenden übereinstimmenden Erklärung von Vater und Mutter abhängig macht.
Die Abgabe einer solchen rechtsgestaltenden Erklärung nach dem Tode des Vaters ist einseitig durch die Mutter rechtswirksam nicht mehr möglich.
Tenor: Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 23. September 1987 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Hinterbliebenenrenten.

Die 1954 geborene Klägerin zu 1) ist die Witwe und der am 30. Januar 1984 geborene Kläger zu 2) ist die Halbwaise des am 29. Juni 1957 geborenen und am 19. November 1986 verstorbenen Versicherten L. J. B ... Dieser hatte nach Beendigung des Schulbesuchs in der Zeit vom 1. Oktober 1976 bis 30. September 1979 und vom 1. November 1979 bis 31. Oktober 1980 als Krankenpfleger gearbeitet. Vom 17. September 1980 bis zu seinem Tode studierte er Medizin. Am 9. Dezember 1986 beantragte die Klägerin zu 1) Feststellung von Zeiten der Kindererziehung zu Gunsten des verstorbenen Versicherten für die Erziehung des Klägers zu 2) sowie Hinterbliebenenrente für sich und den Kläger zu 2).

Mit Bescheid vom 5. Februar 1987 lehnte die Beklagte die Anerkennung von Kindererziehungszeiten für den Versicherten und die Anträge auf Hinterbliebenenrente ab, weil die Wartezeit von 60 Monaten nicht erfüllt sei und für die Anerkennung von Kindererziehungszeiten die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorlägen.

Dagegen haben die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) am 18. Februar 1987 Klage vor dem Sozialgericht Gießen erhoben. Das Sozialgericht hat Beweis erhoben zur Frage, ob der verstorbene Versicherte den Kläger zu 2) überwiegend erzogen hat durch Vernehmung der Frau M., des Herrn W., der Frau M. und der Frau M. als Zeugen. Mit Urteil vom 23. September 1987 hat das Sozialgericht die Beklagte zur Gewährung von Witwen- und Halbwaisenrente verurteilt, weil die Wartezeit von 60 Monaten für die Gewährung von Hinterbliebenenrente zurückgelegt sei. Dem Versicherten sei eine Kindererziehungszeit von 12 Monaten zuzurechnen. Dies ergebe sich aus § 28 a Abs. 2 AVG, der bei nachgewiesener überwiegender Erziehung durch den Vater eine Anrechnung der Kindererziehungszeit als Wartezeit auch dann zulasse, wenn wegen des Todes des Vaters eine entsprechende übereinstimmende Erklärung beider Elternteile nicht mehr möglich sei.

Gegen das ihr am 12. Oktober 1987 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 9. November 1987 Berufung bei dem Hessischen Landes Sozialgericht eingelegt. Sie ist der Ansicht, daß nach dem Tode des Versicherten eine Erklärung nach § 28 Abs. 2 AVG nicht mehr nachgeholt oder durch tatsächliche Ermittlungen ersetzt werden könne.

Sie beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 23. September 1987 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2), die das angefochtene Urteil für zutreffend halten, beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.

Wegen Einzelheiten der Beweiserhebung des Sozialgerichts und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den übrigen Akteninhalt, insbesondere den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –). Sachlich ist sie auch begründet, denn der angefochtene Bescheid ist zu Recht ergangen. Das Urteil des Sozialgerichts war deshalb aufzuheben.

Nach § 40 Abs. 2 i.V.m. § 23 Abs. 3 AVG werden Hinterbliebenenrenten gewährt, wenn der Verstorbene zur Zeit seines Todes eine Versicherungszeit von 60 Monaten zurückgelegt hat. Dies ist hier nicht der Fall. Für den Versicherten sind als Versicherungszeiten lediglich 48 Monate Beitragszeit anzurechnen. Eine zusätzliche Anrechnung von Kindererziehungszeiten ist nicht möglich. Nach § 28 a AVG können Zeiten der Kindererziehung dem Vater nur angerechnet werden, wenn Mutter und Vater gegenüber den zuständigen Rentenversicherungsträgern übereinstimmend erklärt haben, daß der Vater das Kind überwiegend erzogen hat. Eine solche Erklärung ist vor dem Tod des Versicherten nicht abgegeben worden, nach dem Tod des Versicherten ist sie nicht mehr möglich. Das Gesetz sieht keine einseitige Erklärung durch die Mutter vor.

Der Senat sieht es nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor dem Sozialgericht und aus dem gesamten Verfahren als erwiesen an, daß der Versicherte den Kläger zu 2) auch überwiegend erzogen hat. Hierüber besteht unter den Beteiligten auch kein Streit.

Entgegen der Ansicht des Sozialgerichtes reicht aber auch der Beweis dar überwiegenden Erziehung durch den Vater nicht für eine nachträgliche Anerkennung von Kindererziehungszeiten aus. Das Gesetz regelt in § 28 a AVG 3 Fallkonstellationen für die Anrechnung von Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 für die Erfüllung der Wartezeit von Müttern und Vätern, die nach dem 31. Dezember 1920 geboren sind. Hat ein Elternteil ein Kind allein erzogen, wird ihm nach Abs. 1 der Vorschrift die Kindererziehungszeit angerechnet. Haben Mutter und Vater ihr Kind – wie hier – gemeinsam erzogen, werden die Zeiten der Kindererziehung grundsätzlich der Mutter angerechnet, unabhängig davon, ob sie das Kind überwiegend erzogen hat. Hat jedoch der Vater das Kind überwiegend erzogen und erklären die Eltern dies gegenüber dem zuständigen Rentenversicherungsträger übereinstimmend, dann wird die gesamte Zeit der Kindererziehung für dieses Kind dem Vater angerechnet. Eine Verpflichtung für eine solche Erklärung besteht jedoch nicht. Daraus folgt, daß die übereinstimmende Erklärung rechtsgestaltende Wirkung hat. Die tatsächliche, überwiegende Erziehung durch den Vater reicht zur Übertragung der Kindererziehungszeiten nicht aus, sie ist nur eine Tatbestandsvoraussetzung, hinzu kommen muß die in die Disposition der Eltern gestellte Erklärung. Die objektive Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzung "überwiegende Erziehung durch den Vater” hat ohne die übereinstimmende Erklärung von Vater und Mutter noch keine rechtliche Wirkung. Das Gesetz will entsprechend der herkömmlichen Rollenverteilung in der Familie die Rechtsposition der Mutter stärken, sodaß ohne ihre Mitwirkung eine Übertragung der Kindererziehungszeiten auf den Vater unmöglich ist. Die fehlende übereinstimmende Erklärung eines Elternteils kann deshalb nicht durch den Beweis der tatsächlichen Erziehung ersetzt werden.

Die Zulässigkeit einer einseitigen Erklärung durch die hinterbliebene Mutter läßt sich entgegen der Ansicht der Klägerin nicht damit begründen, daß das Gesetz dem hinterbliebenen Vater nach § 28 a Abs. 2 Satz 2 AVG eine solche Möglichkeit einräumt. Diese Vorschrift ist notwendig, um eine Gleichbehandlung zwischen Mutter und Vater zu gewährleisten. Der Mutter kann nach ihrem Tod eine Anrechnung der Kindererziehungszeiten nicht mehr zugute kommen, ohne eine nachträgliche Erklärung wäre die Zeit aber auch für den Vater verloren, die Kindererziehung bliebe versicherungsrechtlich wirkungslos. Es besteht dann auch keine Notwendigkeit mehr, die Rechtsposition der Mutter dadurch zu stärken, daß eine Übertragung der Kindererziehungszeiten auf den Vater nur möglich ist, wenn sie selbst mitgewirkt hat, ihr Schutzbedürfnis kann nicht mehr verletzt werden. Im umgekehrten Fall kann für die überlebende Mutter ein Verlust der Kindererziehungszeit nicht eintreten, denn diese werden ihr durch Gesetz automatisch zugerechnet. Die rentenrechtliche Situation der hinterbliebenen Elternteile ist nicht vergleichbar, so daß eine analoge Anwendung der Vorschrift des § 28 a Abs. 2 Satz 2 AVG auf die hier vorliegende Fallgestaltung ausscheidet.

Der Senat sieht in der Bestimmung des § 28 a Abs. 2 AVG auch keinen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) oder den Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG. Ferner ist nicht das Sozialstaatsgebot aus Art. 20 Abs. 1 GG verletzt. Der Senat war daher nicht verpflichtet, das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen (Art. 100 Abs. 1 GG).

Die Vorschrift des § 28 a AVG ist durch das Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetz – HEZG – vom 11. Juli 1985 in das AVG eingefügt worden. Das Gesetz geht entsprechend der sozialen Wirklichkeit davon aus, daß die nachteiligen Folgen für die Altersversicherung, die Zeiten der Kindererziehung mit sich bringen, in der Regel die Mutter treffen. Es rechnet deshalb grundsätzlich die "rentenrechtliche” Kindererziehungszeit der Mutter zu. Die im Einzelfall möglichen negativen Auswirkungen dieser "formalen Bevorzugung” der Mutter vor dem Vater gleicht das Gesetz durch die Möglichkeit aus, durch eine gemeinsame Erklärung – im Falle des vorzeitigen Todes der Mutter durch eine einseitige Erklärung – die Kindererziehungszeiten auch dem Vater anzurechnen. Hinsichtlich ihrer jeweils eigenen Versicherung ist damit die Gleichbehandlung von Mann und Frau gewahrt, denn beide können die Kindererziehungszeiten erwerben. Für den speziellen, hier vorliegenden Fall ergibt sich allerdings bei dem Anspruch auf Hinterbliebenenrente eine unterschiedliche Behandlung zwischen Vater und Mutter, die jedoch verfassungsrechtlich unbedenklich ist.

Für den Ausnahmefall, daß der innerhalb der Frist des § 28 a Abs. 5 AVG verstorbene Vater das Kind tatsächlich überwiegend erzogen hat, die Eltern keine übereinstimmende Erklärung darüber abgegeben haben und die Wartezeit für die Hinterbliebenenrente nur bei Anrechnung der Kindererziehungszeiten zurückgelegt ist, führt die Konstruktion des Gesetzes, die die Kindererziehungszeiten grundsätzlich der Mutter zuordnet, dazu, daß für sie ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente nicht entsteht. Für den überlebenden Vater würde sich bei gleicher Fallgestaltung ein solcher Nachteil nicht ergeben, denn die Kindererziehungszeit würde automatisch als Wartezeit bei der verstorbenen Mutter berücksichtigt und damit für die Hinterbliebenenrente wirksam. Diese unterschiedlichen versicherungsrechtlichen Folgen sind für den hier im Streite stehenden Fall allein dadurch bedingt, daß das Gesetz die Kindererziehungszeiten grundsätzlich der Mutter anrechnet, ohne daß es eines Zutuns des überlebenden Elternteiles bedarf. Die negativen Folgen für den Anspruch auf Hinterbliebenenrente der Mutter ergeben sich aus ihrer grundsätzlichen Bevorzugung durch die vom Gesetzgeber gewählte Konstruktion der Anrechnung der Kindererziehungszeiten. Weder der hinterbliebene Vater noch die hinterbliebene Mutter kann nach dem Tode des anderen Elternteils durch eine einseitige Erklärung die Wartezeit für die Hinterbliebenenrente positiv beeinflussen. Insoweit besteht kein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes.

Nach Auffassung des Senates bestehen aber auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken wegen der unterschiedlichen Auswirkungen, die das Gesetz auf die Anspruchsvoraussetzungen für Hinterbliebenenrente haben kann. Im Normalfall gewährleistet das Gesetz nicht nur eine Gleichbehandlung der Geschlechter, sondern gleicht sogar die gesellschaftlich bedingten Nachteile der Kindererziehung für die Mutter aus. Negative Folgen für die Mutter treten, nur ganz ausnahmsweise auf. Allerdings bleibt dann die Kindererziehungszeit für ihre eigene Altersversorgung wirksam.

Der Senat sieht aus verfassungsrechtlichen Gründen keine Notwendigkeit, die Gestaltungsmöglichkeiten der hinterbliebenen Mutter für ihre Rentenversicherung dadurch zu vergrößern, daß ihr die Möglichkeit eingeräumt wird, eine einseitige Erklärung über die tatsächliche Erziehung des Kindes abzugeben. Dies würde zunächst dazu führen, daß die Mutter noch weitergehend bevorzugt würde, denn sie könnte durch eine einseitige Erklärung die Kindererziehungszeit auf das abgeschlossene Rentenkonto des Vaters übertragen und so Einfluß auf einen schon eingetretenen Versicherungsfall nehmen. Die einseitige Erklärung des Vaters hingegen wirkt sich auf die eigene Versicherung, also einen in der Zukunft liegenden, Ungewissen Versicherungsfall aus. Vor allem besteht aber kein Verfassungsverstoß, weil § 28 a AVG nur abgeschlossene Fälle in der Vergangenheit regelt und ein Übergangsrecht zu den für die Gegenwart geltenden Regelungen des § 2 a AVG darstellt. Betroffen sind zudem nur Todesfälle innerhalb der Frist des § 28 a Abs. 5 AVG. Wenn es bei der rückwirkenden Verbesserung der rentenrechtlichen Situation der Frau für einen begrenzten Zeitraum zu gesetzessystematischen Ungereimtheiten in Einzelfällen kommt, kann dies nicht zu einer Verfassungswidrigkeit des das Sozialstaatsprinzip weiter verwirklichenden Gesetzes führen.

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG.

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache ist die Revision zugelassen worden (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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