L 11 R 4857/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 4857/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Es wird festgestellt, dass das Berufungsverfahren L 11 R 5476/05 durch den gerichtlichen Vergleich vom 14. Oktober 2008 beendet ist.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten war die Berücksichtigung einer Zurechnungszeit, die Gewährung eines Zuschusses zur Kranken- und Pflegeversicherung sowie die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente streitig. Nunmehr geht es zunächst um die Frage, ob der Rechtsstreit durch Abschluss eines Vergleichs in mündlichen Verhandlung beendet worden ist.

Der am 4. November 1966 geborene Kläger absolvierte von 1982 bis 1985 eine Ausbildung zum Schornsteinfeger und war in diesem Beruf bei mehreren Arbeitgebern tätig. Am 15.12.1987 erlitt er bei einem Verkehrsunfall, den die Bau-Berufsgenossenschaft (BG) als Arbeitsunfall (Wegeunfall) anerkannte, ein schweres Schädelhirntrauma mit globalem Hirnödem mit Einengung der äußeren und inneren Liquorräume. Aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalls bezieht er von der BG eine Verletztenrente (ab 1. Mai 1993 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit [MdE] von 20 v.H, zuvor von 30 v.H.). Vom 17. Februar bis 30. März 1988 führte der Kläger ein stationäres Heilverfahren in den Kliniken für Rehabilitation W. und D. durch. Im April 1988 nahm er dann zunächst seine Tätigkeit als Schornsteinfegergeselle wieder auf, konnte aber nach seinen Angaben die geforderten Leistungen nicht erbringen. In der Zeit vom 2. November 1988 bis 5. Juli 1989 besuchte der Kläger die Meisterschule für Schonsteinfeger und erlangte den Abschluss als Schornsteinfegermeister (Meisterbrief vom 16. November 1989). Aus gesundheitlichen Gründen war er jedoch nicht in der Lage, in diesem Beruf zu arbeiten.

Bei einer von der BG veranlassten Untersuchung und Begutachtung durch die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. R. (Gutachten vom 22. September 1989, Bl. 439 ff der Verwaltungsakte der Beklagten) standen beim Kläger psychopathologische Auffälligkeiten mit Antriebsminderung, Einengung der emotionalen Schwingungsfähigkeit, affektiver Nivellierung sowie deutlicher Verlangsamung bei guter Anstrengungs- und Mitgehensbereitschaft im Vordergrund. Die Gutachterin stellte eine deutliche Verlangsamung beim Kläger fest, sobald die Aussensteuerung wegfiel. In neurologischer Hinsicht konnte noch eine latente Halbseitensymptomatik rechts diagnostiziert werden. Die Ärztin empfahl ein stationäres Leistungstraining, welches der Kläger vom 12. Dezember 1989 bis 28. Februar 1990 in den Neurologischen Kliniken Dr. S. durchführte. Dort konnte der Kläger im Verlaufe der Trainingsmaßnahmen sein Arbeitstempo steigern, jedoch blieb die Belastbarkeit bei länger anhaltender Belastung eingeschränkt (Bericht der Kliniken S. vom 14. März 1990, Bl. 485 ff der Verwaltungsakte der Beklagten).

Danach war der Kläger bis 11. Juni 1990 ohne versicherungspflichtige Beschäftigung. Vom 12. Juni 1990 bis 9. Juli 1990 nahm er im Berufsförderwerk H. an einer Berufsfindung und Arbeitserprobung teil. Die bei der dort vorgenommenen psychologischen Eingangsuntersuchung erzielten Testergebnisse sprachen für eine durchschnittliche intellektuelle Leistungsfähigkeit. Im Übrigen waren jedoch die Leistungsmöglichkeiten noch derart eingeschränkt, dass dem Berufsausbildungswerk eine Ausbildung zum damaligen Zeitpunkt verfrüht erschien. Vielmehr wurde ein mehrmonatiges berufsbezogenes Training für sinnvoll erachtet. Danach erschien als Ausbildungsziel Bürokaufmann erreichbar (Stellungnahme des Berufsförderungswerk H. vom 4. September 1990, Bl. 389 ff der Verwaltungsakte der Beklagten). Bei der Grunderprobung zeigte sich, dass der für die Erledigung der Aufgaben benötigte Zeitaufwand - bei guter Ausarbeitungsqualität - in der Regel einer Verdopplung der durchschnittlichen Zeitwerte entsprach. Eine Steigerung der Tempoleistung war möglich, wenn der Arbeitsablauf weitgehend vorstrukturiert war, dh wenig eigenproduktive Denkabläufe erforderlich machte (Stellungnahme der Dipl.-Psychologin R. vom 24. August 1990, Bl. 399 ff der Verwaltungsakte der Beklagten).

Im Anschluss daran besuchte der Kläger die Gewerblich-technische Berufsaufbauschule in F., wo er am 26. Juni 1991 die Fachschulreife erlangte. Nach dem Besuch des Berufskollegs in der Zeit vom 26. August 1991 bis 19. Juni 1992 erwarb der Kläger schließlich die Fachhochschulreife. Danach war er bis 1994 arbeitslos. Ab dem 01. März 1994 nahm er ein Studium an der Fachhochschule P. im Studiengang Steuer und Revisionswesen auf. Wegen Überschreitens der Regelstudienzeit wurde er, ohne ein Abschlussdiplom erreicht zu haben, zum 31. August 1999 exmatrikuliert. Er besuchte jedoch weiterhin Vorlesungen an der Fachhochschule, reichte am 23. Dezember 1999 eine schriftliche Diplomarbeit ein und nahm am 29. Juni 2000 an einer mündlichen Diplomprüfung teil. Die Teilnahme an dieser Prüfung erfolgte jedoch wegen eines anhängigen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens über die Wiederholung eines Leistungsnachweises und die Verlängerung der Studienzeit unter Vorbehalt. Nachdem eine Klage des Klägers vom Verwaltungsgericht K. rechtskräftig abgewiesen worden war und somit feststand, dass seine Zulassung zum Studium zum Zeitpunkt der Teilnahme an der mündlichen Prüfung endgültig erloschen war, wurde das Ergebnis der mündlichen Diplomprüfung nicht gewertet. Vom 1. August bis 30. September 2001 absolvierte er ein freiwilliges Praktikum bei einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und vom 25. Oktober 2001 bis 23. Juli 2002 besuchte er die Fachschule für Betriebswirtschaft an der Kaufmännischen Schule S.-N., wo er einen Abschluss als staatlich geprüfter Betriebswirt erlangte. Seit 24. Juli 2002 ist der Kläger wieder arbeitslos.

Am 25. Juni 2002 beantragte er die Erstellung eines Versicherungsverlaufs. Mit Feststellungsbescheid vom 3. Juli 2002 wurden dem Kläger Zeiten bis 31. Dezember 1995 verbindlich mitgeteilt. Der Kläger erhob dagegen wegen Nichtberücksichtigung verschiedener Zeiten am 23. Juli 2002 Widerspruch. Am 28. April 2003 erließ die Beklagte im Rahmen des Widerspruchsverfahrens einen weiteren Feststellungsbescheid mit verbindlicher Feststellung von Zeiten bis 31. Dezember 1996.

Am 09. Mai 2003 beantragte der Kläger die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Er könne wegen seiner Unfallverletzung in seinem erlernten Handwerk gar nicht mehr und im Übrigen nur leichte Tätigkeiten verrichten. Die Beklagte legte den Sachverhalt ihrem Sozialmedizinischen Dienst vor. Dieser kam am 2. Oktober 2003 unter Berücksichtigung verschiedener ärztlicher Unterlagen zu dem Ergebnis, der Kläger könne als Betriebswirt und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mehr als 6 Stunden täglich arbeiten. Es bestehe ein Zustand nach schwerem Schädelhirntrauma mit Contusio cerebri, Hirnödem sowie weitgehend abgeklungenem hirnorganischen Psychosyndrom und eine Struma nodosa. Dennoch sei der Kläger in der Lage gewesen, die Prüfung zum Schornsteinfegermeister abzulegen und sich auf eigene Kosten zum staatlich geprüften Betriebswirt umzuschulen. Darauf gestützt lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 9. Oktober 2003 den Rentenantrag ab. Sie führte zudem aus, die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien nicht erfüllt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18. März 2004 wies die Beklagte die vom Kläger erhobenen Widersprüche zurück. Weitere vom Kläger geltend gemachte rentenrechtliche Zeiten könnten nicht berücksichtigt werden. Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente seien nicht gegeben.

Am 5. April 2004 hat der Kläger beim Sozialgericht Reutlingen (SG) Klage erhoben.

Ein Teil der vom Kläger bei Klageerhebung geltend gemachten Zeiten ist nach weiterer Aufklärung, insbesondere nach Befragung der Fachhochschule P., von der Beklagten anerkannt worden. Mit Schreiben vom 26. September 2005 (Bl. 163 der SG-Akte S 3 R 983/04) hat die Beklagte die Zeit vom 24. Dezember 1999 (Tag nach der Abgabe der schriftlichen Diplomarbeit) bis zum 29. Juni 2000 (mündliche Diplomprüfung) als Anrechnungszeittatsache gem. § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI anerkannt. Im Übrigen hat der Kläger auf die weitere Geltendmachung ursprünglich vorgetragener Zeiten in der mündlichen Verhandlung vor dem SG verzichtet.

Der Kläger hat zur Begründung seiner Klage vorgetragen, es sei eine Zurechnungszeit wegen der BG-Rente zu berücksichtigen. Diese Rente sei mit einer Rente der gesetzlichen Rentenversicherung gleichzustellen. Ferner sei ihm ein Zuschuss zur Kranken- und Pflegeversicherung unabhängig von der Gewährung einer Rente der gesetzlichen Rentenversicherung zu gewähren. Er sei durch diese Beiträge erheblich wirtschaftlich belastet. Der Zuschuss sei angesichts der gewährten Verletztenrente auch gerechtfertigt. Im Übrigen hat der Kläger bemängelt, dass von der Beklagten und auch vom Gericht keine Sachverhaltsaufklärung im Hinblick auf die beantragte Erwerbsminderungsrente vorgenommen worden sei. Der Kläger hat detailliert die Auswirkung einer bei ihm bestehenden Harnblasenentleerungsstörung erläutert und eine Nierenschädigung geltend gemacht.

Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vor dem SG darauf hingewiesen, dass die Gewährung der Erwerbsminderungsrente nach den im Gerichtsverfahren erfolgten Anerkenntnissen nun nicht mehr am Fehlen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen scheitere. Allerdings läge keine Erwerbsminderung vor. Eine Zurechnungszeit könne bei Gewährung einer Verletztenrente nicht anerkannt werden. Ein Zuschuss zur Kranken- und Pflegeversicherung könne nur gewährt werden, wenn eine Rente der gesetzlichen Rentenversicherung geleistet werde.

Mit Urteil vom 9. November 2005 hat das SG die Klage abgewiesen. Das SG ist zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger noch mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein könne. Eine Leistungseinschränkung auf psychiatrischem Gebiet sei vom Kläger selbst nicht geltend gemacht worden. Auch die Kammer sehe keine Notwendigkeit, in dieser Hinsicht weitere Ermittlungen vorzunehmen. Das SG hat sich auf Berichte des Prof. Dr. K. und des Diplompsychologen S. gestützt.

Mit einem am 9. Dezember 2005 beim SG eingegangenen Schreiben hat der Kläger Berufung eingelegt (L 11 R 5476/05). Im Berufungsverfahren hat der Kläger zunächst die Anerkennung von Anrechnungszeiten, eine Zurechnungszeit, einen Zuschuss zur Kranken- und Pflegeversicherung, Pflichtbeitragszeiten wegen der Pflege seiner pflegebedürftigen Mutter und eine Erwerbsminderungsrente geltend gemacht. Zur Begründung der Erwerbsminderungsrente hat er sich vor allem auf eine seiner Meinung nach bestehenden Nierenfunktionsstörung und eine Blasenentleerungsstörung berufen. Der Kläger hat seine Berufung ausführlich begründet und zahlreiche Unterlagen vorgelegt, was dazu geführt hat, dass allein die Berufungsakte zwischenzeitlich mehr als 1000 Seiten umfasst. So hat z. B. die Stellungnahme des Klägers vom 5. Dezember 2007 einen Umfang von 49 Seiten (ohne Anlagen) bzw. 182 Seiten (mit Anlagen). Dabei sind die zwei Ordner, die der Kläger einem seiner Schreiben als Anlage beigefügt hat, noch nicht mitgezählt.

In einem von der Berichterstatterin mit den Beteiligten am 6. Dezember 2007 durchgeführten Erörterungstermin hat der Kläger nach eingehender Erörterung der Sach- und Rechtslage erklärt, dass es ihm im vorliegenden Berufungsverfahren nur noch um die Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung gehe und er seine übrigen Anträge nicht mehr aufrechterhalte (Niederschrift Bl. 585/588 der LSG-Akte).

Mit Bescheid vom 6. Dezember 2005 (Bl. 70/78 der LSG-Akten) hat die Beklagte die Zeit vom 1. Oktober 2001 bis 14. Juli 2002 und vom 7. August 2002 bis zum 31. Dezember 2004 als Anrechnungszeit vorgemerkt und mit Schreiben vom 14. März 2006 (Bl. 104/105) hat sie unter Vorlage einer Wartezeitaufstellung erklärt, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente bezogen auf den Tag der Rentenantragstellung erfüllt seien.

Der den Kläger behandelnde Facharzt für Innere Krankheiten Dr. E. hat auf Nachfrage des Senats am 20. März 2006 (Bl. 106ff der LSG-Akte) mitgeteilt, der Kläger habe in den letzten Jahren immer wieder diffuse Beschwerden im Bereich des Magens und des Dickdarms geäußert, mehrfache urologische und nephrologische Untersuchungen hätten jedoch keinen krankhaften Befund ergeben. Der Gesundheitszustand des Klägers habe sich in den letzten Jahren nicht verschlechtert, lediglich sein psychischer Zustand sei schlechter geworden. Das hirnorganische Psychosyndrom belaste den Kläger und schränke seine Leistungsfähigkeit ein. Aus seiner Sicht könne der Kläger noch leichtere Tätigkeiten bis zu sechs Stunden an fünf Arbeitstagen in der Woche verrichten, ohne Zeitdruck und ohne psychischen Druck.

Auf Antrag des Klägers gem. § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist Prof. Dr. G. gutachtlich gehört worden. In seinem Gutachten vom 1. September 2006 (Bl. 270/300 der LSG-Akte) hat der Sachverständige beim Kläger keine eine Leistungsminderung begründende Gesundheitsstörung festgestellt. Er hat aber ausführlich dargestellt, weshalb sich für ihn Hinweise auf ein psychopathologisches Krankheitsbild ergäben.

Daraufhin hat der Senat das in einem Rechtsstreit gegen die BG vom SG eingeholte neurologisch-psychiatrische Gutachten des Prof. Dr. Dr. W. vom 29. Oktober 2006 beigezogen und zu den Akten genommen (Bl. 342/362 der LSG-Akte). In diesem Gutachten hat Prof. W. das Vorliegen einer neurogenen Blasenstörung als Unfallfolge ausgeschlossen, aber eine depressive Anpassungsstörung infolge der bestehenden organischen Wesensänderung diagnostiziert. Dagegen hat der vom Senat befragte Ärztliche Direktor der Klinik für Urologie der Universität T. Prof. Dr. S. eine Blasenentleerungsstörung diagnostiziert und eine neurologische Ursache im Zusammenhang mit dem erlittenen Schädelhirntrauma vermutet (Schreiben vom 11. April 2007, Bl. 440/449 der LSG-Akte). Anschließend hat der Senat Prof. W. mit der Erstattung eines Gutachtens nach Aktenlage beauftragt. Darin hat dieser ausgeführt, auf neurologischem Fachgebiet bestehe eine minimale Halbseitensymptomatik und auf psychiatrischem Fachgebiet ein leichtgradiges organisches Psychosyndrom nach stattgehabtem Schädelhirntrauma. Zusätzlich bestehe eine organisch determinierte depressive Anpassungsstörung auf die unbefriedigenden Lebensumstände, die sich in einer paranoid anmutenden Fixierung auf Blasenstörungen ausdrücke, ohne dass eindeutig psychotische Erlebnisweisen deutlich würden. Bei dieser krankhaften Fixierung handele es sich ohne Frage um eine seelische Störung und nicht nur um eine bloße Krankheitsvorstellung. Eine Simulation oder Aggravation sei auszuschließen. Er könne sich nicht davon überzeugen, dass der Kläger - bei Beachtung gewisser Einschränkungen - nicht in der Lage wäre, Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt 6 Stunden und mehr an fünf Tagen in der Woche auszuüben. Um genauere Einsichten über das psychiatrische Fachgebiet betreffende Leistungseinschränkungen zu erhalten, sei jedoch eine stationäre psychiatrische Begutachtung erforderlich (Gutachten vom 16. August 2007, Bl. 567/580 der LSG-Akte). Auf eine erneute Anfrage des Senats hat Dr. E. im Januar 2008 mitgeteilt, neue Erkenntnisse gebe es seit März 2006 nicht. Aus seiner Sicht sei der Kläger durchaus in der Lage, eine Halbtagsstelle auszufüllen, d.h. zwischen drei bis weniger als sechs Stunden täglich (Schreiben vom 10. Januar 2008, Bl. 782/783 der LSG-Akte).

Der Kläger hat u.a. die ergänzende Stellungnahme des Prof. W. vom 29. Mai 2008 vorgelegt, die dieser in dem beim 6. Senat des LSG anhängigen Berufungsverfahren (L 6 U 880/08) gegen die BG erstellt hat (Bl. 858 ff der LSG-Akte). Darin bekräftigt der Sachverständige noch einmal, dass aus seiner Sicht die organische Wesensänderung (Frontalhirnsyndrom) dadurch gekennzeichnet sei, dass bei erhaltener Grundintelligenz und gleichermaßen unbeeinträchtigten kognitiven Funktionen Störungen des zielgerichteten Denkens und Handelns, häufig verbunden mit Störungen des Affekts, der Triebimpulse sowie mit überwertigen Ideen aufträten. Im Rahmen dieser Wesensänderung habe sich der Kläger zum einen die Verfolgung körperlicher Symptome und zum anderen die Verfolgung von Rechtstreitigkeiten als Ausdruck seiner organischen Persönlichkeitsstörung "herausgesucht."

Vor der mündlichen Verhandlung hat der Senatsvorsitzende die Beklagte mit Schreiben vom 1. Oktober 2008 darauf aufmerksam gemacht, dass er beim derzeitigen Stand der Sach- und Rechtslage die Absicht habe, dem Senat vorzuschlagen, der Berufung des Klägers teilweise stattzugeben. Die vorliegenden Stellungnahmen von Prof. Dr. W. ließen aus seiner Sicht den Schluss zu, dass der Kläger seit der Rentenantragstellung nicht mehr in der Lage sei, wenigstens drei Stunden täglich einer geregelten Arbeit nachzugehen. Diese Auffassung ist im Hinblick darauf, dass nicht verkannt werde, dass eine derartige Leistungsbeurteilung von keinem der gehörten Gutachter explizit vertreten worden sei, in dem Schreiben näher begründet worden; hierauf wird Bezug genommen.

In der mündlichen Verhandlung am 14. Oktober 2008 hat die Beklagte ergänzend ausgeführt, dass aus ihrer Sicht die Voraussetzungen für eine Rentengewährung nicht erfüllt seien. Sie hat sich jedoch bereit erklärt, dem Kläger eine 4-wöchige Rehabilitationsmaßnahme zu gewähren. Nach Erörterung der Sach- und Rechtslage haben die Beteiligten folgenden Vergleich geschlossen:

"Vergleich:

1. Die Beklagte erklärt sich bereit, dem Kläger eine 4-wöchige medizinische Rehabilitationsmaßnahme zu gewähren und anschließend über berufsfördernde Maßnahmen oder erneut über den Rentenantrag vom 9. Mai 2003 zu entscheiden.

2. Die Beteiligten erklären den vorliegenden Rechtsstreit für erledigt.

3. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten."

Der Vergleich ist nach vorläufiger handschriftlicher Aufzeichnung vorgelesen und vom Kläger sowie vom Vertreter der Beklagten genehmigt worden.

Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung das persönliche Erscheinen des Klägers, das nicht angeordnet worden war, nachträglich für geboten erachtet.

Mit einem am 16. Oktober 2008 beim Senat eingegangen Schreiben vom 15. Oktober 2008 hat der Kläger den Vergleich widerrufen bzw. seine Zustimmung zu diesem Vergleich angefochten und Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens gestellt. Zur Begründung hat er u. a. ausgeführt, er habe dem Vergleich trotz erheblicher Bedenken, welche er in der etwa 20 Minuten dauernden mündlichen Verhandlung zum Ausdruck gebracht habe, auf Drängen des Vorsitzenden zugestimmt, dies aber nicht, weil er vom Vergleich überzeugt gewesen sei, sondern weil das LSG entgegen dem Gesetzestext die beiden Gutachten nach § 109 SGG nicht in Auftrag gegeben habe, er nach dem jetzigen Stand der Sachverhaltsaufklärung den Prozess verliere und in die Revision mit Anwaltspflicht gezwungen werde. Nach nochmaligem Überlegen über den Ablauf der mündlichen Verhandlung komme er zu dem Ergebnis, dass er hinsichtlich der Voraussetzungen zu seiner Zustimmung zu dem Vergleich von Seiten der Beklagten und des Gerichts getäuscht worden sei. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf das 13 Seiten umfassende Schreiben des Klägers (Bl. 1 bis 13 der LSG-Akte) verwiesen.

Am 24. Oktober 2008 hat der Kläger außerdem noch eine Anhörungsrüge gegen den gerichtlichen Vergleich erhoben. Auf Bl. 16 bis 48 der LSG-Akte wird wegen der Einzelheiten verwiesen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 9. November 2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. Oktober 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. März 2004 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung ab 1. Mai 2003 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

festzustellen, dass der Rechtsstreit durch den gerichtlichen Vergleich vom 14. Oktober 2008 beendet ist, hilfsweise die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 9. November 2005 zurückzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, dass der am 14. Oktober 2008 geschlossene Vergleich das Verfahren erledigt, und Anfechtungsgründe ihres Erachtens nicht gegeben sind.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz, die Renten- und Reha-Akte der Beklagten sowie die beigezogenen Vorakten (L 10 U 3750/03 ER-B, L 11 KR 3450/04) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Fortsetzung des Berufungsverfahrens L 11 R 5476/05, denn dieses ist durch den gerichtlichen Vergleich vom 14. Oktober 2008 beendet (vgl. § 101 Abs. 1 SGG). Die am 16. Oktober 2008 schriftlich erklärte Anfechtung bzw. der Widerruf dieses Prozessvergleichs greift nicht durch. Es liegen weder prozess- noch materiell-rechtliche Gründe vor, die diesen Prozessvergleich unwirksam machen.

Der Prozessvergleich hat eine Doppelnatur: Er ist einerseits ein materiell-rechtlicher Vertrag und andererseits eine Prozesshandlung, die den Rechtsstreit unmittelbar beendet und dessen Wirksamkeit sich nach den Grundsätzen des Prozessrechts richtet (vgl. BSG, Urteil vom 24. Januar 1991, 2 RU 51/90, in juris; BSG in SozR 1500 § 101 Nr. 8; BVerwG in NJW 1994, 2306, 2307 f.; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. August 2008, L 3 U 226/08, in juris). Prozesshandlungen - wie die Zustimmung zu einem gerichtlichen Vergleich - können nur unter engen Voraussetzungen, z. B. beim Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes im Sinne von § 179 SGG, §§ 578 ff ZPO, widerrufen werden oder dann, wenn aus dem Grundsatz von Treu und Glauben sich ein Festhalten an der Prozesshandlung verbietet (BGH in BGHZ 33, 73; BVerwG in NVwZ 1997, 1210, 1211; LSG Berlin-Brandenburg a. a. O.).

Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die Behauptung des Klägers, er sei sowohl von der Beklagten als auch vom Gericht getäuscht worden, genügt für eine Anfechtung nicht, da unklar bleibt, worin die Täuschung bestanden haben soll. Der Kläger führt zwar aus, dass er auf mehrmaliges Nachfragen, um was für eine Rehabilitation es sich handele, weder von der Beklagten noch vom Gericht eine befriedigende Auskunft erhalten habe. Damit lässt sich aber der Vorwurf einer Täuschung nicht begründen. Aus dem Wortlaut des Vergleichs ergibt sich, dass die Beklagte sich bereit erklärt hat, dem Kläger eine 4-wöchige medizinische Rehabilitationsmaßnahme zu gewähren. Die Regelung weiterer Einzelheiten (Beginn der Maßnahme, Art der Einrichtung usw) ist nicht vereinbart worden. Dem Kläger sind insoweit auch keine Zusagen gemacht worden. Daher ist nicht erkennbar, worin die Täuschung liegen soll.

Soweit der Kläger vorträgt, er habe unter Druck gestanden und nur dem Drängen des Vorsitzenden nachgegeben, ist darauf hinzuweisen, dass der Vorschlag, den Rechtsstreit durch Vergleich zu beenden, von Seiten der Beklagten gekommen ist. Wie sich aus den Ausführungen des Klägers selbst ergibt, ist dieser Vorschlag in der 42 Minuten dauernden mündlichen Verhandlung "auf mehrmaliges Nachfragen" des Klägers besprochen worden. Die Behauptung des Klägers, dass das Gericht in der mündlichen Verhandlung dem Kläger aufgezeigt habe, dass es seine Berufung abweisen werde und der Vergleich noch das Beste wäre (Seite 5 des Schreibens vom 15. Oktober 2008), ist unzutreffend.

Die Erhebung einer Anhörungsrüge gegen den gerichtlichen Vergleich ist nicht statthaft. Es handelt sich bei dem Vergleich nicht um eine gerichtliche Entscheidung (vgl. § 178a Abs. 1 SGG).

Die Wiederaufnahme eines durch Prozessvergleich beendeten Verfahrens nach § 179 SGG i.V.m. den Vorschriften der Zivilprozessordnung scheidet ebenfalls aus (BSG, Urteil vom 28. November 2007, B 7 AL 26/02 R, zit. nach juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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