L 4 KR 466/07

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 4 KR 517/06
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KR 466/07
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 23. Oktober 2007 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand:


Streitig ist, ob die Beklagte verpflichtet ist, den Kläger mit einer Rollstuhl-Fahrradkombination, versehen mit Elektroschiebeantrieb, zu versorgen bzw. die Kosten hierfür zu erstatten.

Der 1995 geborene Kläger ist bei der Beklagten versichert. Er leidet an einem Down-Syndrom mit schwerer psychomotorischer und mentaler Retardierung sowie Sprachunfähigkeit. Er ist rollstuhlpflichtig und in Pflegestufe III eingestuft. Der Facharzt für Kinderkrankheiten R. Z. hat dem Kläger am 28.10.2005 einen Rollstuhl mit Elektrofahrradschiebeantrieb verordnet. Es wurde hierzu ein Kostenvoranschlag durch den Sanitätsfachhandel S. erstellt, wonach für einen125 Rollfiets`e-bikeH´Rollstuhl mit Elektrofahrrad-Schiebeantrieb Typ Heinzmann Kosten in Höhe von 7.343,93 EUR entstehen sollten. Die Beklagte hat mit Bescheid vom 14.12.2005 den Antrag auf Kostenübernahme mit der Begründung abgelehnt, bei dem beantragten Produkt handle es sich nicht um ein Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung. Hiergegen legten die Bevollmächtigten des Klägers mit Schreiben vom 01.02.2006 Widerspruch ein. Der behandelnde Arzt habe mit der Auswahl der technischen Komponenten eines Hilfsmittels einen speziellen therapeutischen Nutzen für den einzelnen Patienten bezweckt, deshalb sei in diesem Einzelfall der Anspruch auf die beantragte Versorgung gegeben. Der von der Beklagten angehörte Medizinische Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg kam zu dem Ergebnis, die medizinischen Voraussetzungen für die Leistung seien nicht erfüllt. Beim Kläger bestehe ein erheblicher psychomotorischer Entwicklungsrückstand, außerdem ein postoperatives Anfallsleiden nach Herzoperation 1996. Steh- oder Gehfähigkeit sei nicht gegeben, der Kläger sei zur selbständigen Fortbewegung im Rollstuhl nicht in der Lage, auch einen Elektrorollstuhl könne er aufgrund der erheblichen geistigen Einschränkungen nicht führen. Es sei somit nicht nachvollziehbar, dass das beantragte Rollfiets mit Elektrofahrradantrieb geeignet sei, eine Behinderung auszugleichen oder die Krankenbehandlung zu sichern. Auch zur Teilnahme an Aktivitäten anderer Kinder sei das Hilfsmittel im Fall des Klägers nicht geeignet. Es könne allenfalls von den Eltern bedient werden, um Ausflüge zu machen. Dies reiche nicht aus, eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung zu begründen. Der Widerspruch wurde daraufhin mit Widerspruchsbescheid vom 07.04.2006 zurückgewiesen.
Die hiergegen erhobene Klage ging am 27.04.2006 beim Sozialgericht Würzburg ein. Zur Begründung führten die Bevollmächtigten des Klägers aus, der Kläger sei geistig auf dem Stand eines eineinhalbjährigen Kindes. Ihm sei es nur über die Versorgung mit einem Rollfiets möglich, mit seiner Familie und mit gleichaltrigen Freunden und Bekannten am gesellschaftlichen Leben sowohl durch Ausflüge als auch durch spielerische Fahrten in der Nachbarschaft teilzunehmen. Das beantragte Hilfsmittel sei besonders geeignet, den Erfahrungsraum des Klägers bedeutend zu erweitern und seine Lebensqualität zu erhöhen. Diese Angaben werden bestätigt durch das Förderzentrum A. Schulhaus A ... Der Facharzt Z. bescheinigte im Sozialgerichtsverfahren, bei entscheidender Verminderung der hohen Belastung der Eltern sei eine Rollstuhl-/Fahrradkombination eine Erweiterung des Erfahrungsbereichs des Kindes mit Verbesserung seiner Lebensqualität.

Das Sozialgericht Würzburg hat am 23.10.2007 die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Abänderung des Bescheides vom 14.12.2005 und des Widerspruchsbescheides vom 07.04.2006 ein Rollfiets ohne E-Motor als Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen. Aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ergebe sich, dass zum Behinderungsausgleich die Erfüllung des Grundbedürfnisses eines "Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraums" gehöre. Die Eltern des Klägers könnten den Kläger im Rollstuhl im Nahbereich schieben und somit entsprechende Grundbedürfnisse der Mobilität sicherstellen. Durch die Rechtsprechung sei jedoch anerkannt, dass im Falle minderjähriger Behinderter zusätzliche Aspekte rechtlich zu berücksichtigen seien. Der Kläger gehöre zu dem Kreis von Personen unter 15 Jahren, die sich noch voll in der Entwicklungsphase befinden und bei denen sich die verschiedenen Lebensbereiche nicht in gleicher Weise wie bei Erwachsenen trennen lassen. Es sei eine möglichst weitgehende Eingliederung des behinderten Kindes in den Kreis Gleichaltriger anzustreben. Im Fall des Klägers werde durch das begehrte Hilfsmittel dem Kläger zwar nicht ermöglicht, unmittelbar und eigenständig den Kontakt mit Gleichaltrigen herzustellen. Er sei auch hierzu weiterhin auf die Unterstützung von Hilfspersonen angewiesen. Jedoch werde die Kontaktaufnahme durch die Ermöglichung einer größeren Mobilität leichter gemacht. Eine Förderung der Kontaktmöglichkeiten führe dazu, dass die gleichberechtigte Teilhabe am Leben der Gemeinschaft gefördert werde. Es sei aus der Entwicklungspsychologie allgemein bekannt, dass eine Reizverarmung als Entwicklungshemmnis anzusehen sei. Die beantragte Rollstuhl-Fahrradkombination sei einem Elektrorollstuhl zu vergleichen. Dennoch könne aus dieser Gleichsetzung nicht abgeleitet werden, dass dem Kläger auch ein elektrobetriebenes Rollfiets zur Verfügung gestellt werden müsste. Im Wesentlichen sei auf soziale Kontaktmöglichkeiten abzustellen, nicht etwa auf die Teilnahme an längeren Fahrradausflügen. Deshalb sei aus der Sicht des Gerichts eine Rollstuhl-Fahrradkombination ohne Zusatzantrieb als ausreichendes Hilfsmittel anzusehen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die am 17.12.2007 beim Bayer. Landessozialgericht eingegangene Berufung der Beklagten. Die Argumentation des Sozialgerichts könne nicht überzeugen, die Erforderlichkeit eines Hilfsmittels sei grundsätzlich nur dann anzunehmen, wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt werde. Das Rollfiets werde hierzu nicht benötigt. Der Kläger sei bereits mit einem Rollstuhl und einer Ergoline-Sitzeinheit versorgt, so dass die Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums gewährleistet sei. Das Rollfiets ermöglicht dem Kläger auch keine größere Selbständigkeit, da der Fahrradteil von einer Begleitperson zu bedienen sei und fördere deswegen nicht die soziale Integration in den Kreis Gleichaltriger. Die Teilnahme an Familienausflügen gehöre nicht zu den Grundbedürfnissen. Es sei auch nicht ersichtlich, dass sich durch die Benutzung dieses Hilfsmittels die gesundheitlichen Einschränkungen kompensieren ließen. Schließlich weist die Beklagte darauf hin, dass nach dem Gutachten zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit vom 23.01.2007 der Kläger sich in seinem Rollstuhl teilweise selbständig fortbewege. Im Termin zur mündlichen Verhandlung gibt der Bevollmächtigte des Klägers an, ihm sei nicht bekannt, ob die Eltern das begehrte Hilfsmittel bereits beschafft haben.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 23.10.2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen

Sie beruft sich auf das Urteil des Sozialgerichts.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten der Beklagten sowie der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.



Entscheidungsgründe:


Die gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten, die nicht der Zulassung nach § 144 SGG bedarf, ist zulässig und begründet.

Der Senat hält die Auffassung des Sozialgerichts und der Klägerbevollmächtigten für nicht zutreffend, dass die sozialen Kontaktmöglichkeiten des Klägers durch eine Rollstuhl-Fahrradkombination ohne Zusatzantrieb erweitert werden können. Es handelt sich damit nicht um ein Hilfsmittel, auf das gemäß § 33 Abs.1 Satz 1 SGB V ein Anspruch besteht. Nach dieser Norm haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs.4 SGB V ausgeschlossen sind. Im vorliegenden Fall ist nicht streitig, dass durch das beantragte Hilfsmittel weder ein Erfolg der Krankenbehandlung gesichert werden kann noch einer drohenden Behinderung vorgebeugt werden kann.

Das Bundessozialgericht hat jedoch entschieden, dass ein Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung auch dann vorliegt, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Nach ständiger Rechtsprechung gehören zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, die Ausscheidung, die elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie das ‚Erschließen eines körperlichen und geistigen Freiraums (BSG, Urteil vom 26.03.2003, SozR 4-2500 § 33 Nr.2). Dieser Freiraum umfasst z.B. die Bewegung im Nahbereich der Wohnung sowie die Aufnahme von Informationen und die Kommunikation mit anderen zur Vermeidung von Vereinsamung (BSG, Urteil vom 22.07.2004; SozR 4-2500 § 33 Nr.6). Maßstab ist stets der gesunde Mensch, zu dessen Grundbedürfnissen der kranke oder behinderte Mensch durch die medizinische Reha und mit Hilfe der von der Krankenkasse gelieferten Hilfsmittel wieder aufschließen soll (BSG a.a.O.). Nach Auffassung des Senats ist das beantragte Hilfsmittel nicht geeignet, zur Erfüllung von Grundbedürfnissen des Klägers beizutragen. Der Kläger ist nicht in der Lage, sich mit Hilfe eines Rollfiets allein, d.h. ohne Unterstützung seiner Eltern oder anderer Erwachsener, fortzubewegen. Das Grundbedürfnis des Klägers, ohne Kontrolle von Erwachsenen in den Bereich gleichaltriger Kinder integriert zu werden, ist damit nicht erreichbar. Hinzu kommt, dass die Rechtsprechung das jeweils in Betracht kommende Grundbedürfnis nach Fortbewegung bislang immer nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst und nicht im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten des Gesunden verstanden hat (BSG, Urteil vom 16.09.2004, SozR 4-2500 § 33 Nr.7). Genau wie ein herkömmlicher Rollstuhl ist für das Fiets eine Person für die Fortbewegung nötig. Der Unterschied liegt allein in der größeren Wegstrecke, die sich damit zurücklegen lässt. Dieser Vorteil geht aber über die Befriedigung von Grundbedürfnissen hinaus.

Schließlich ergibt die vom Kinder- und Jugendarzt Z. zur Begründung der Verordnung genannte Möglichkeit, bei entscheidender Verminderung der hohen Belastung der Eltern die Erweiterung des Erfahrungsbereichs des Klägers und eine Verbesserung seiner Lebensqualität zu erreichen, nicht die Notwendigkeit der Übernahme der Kosten des Hilfsmittels durch die Beklagte. Der Senat übersieht dabei nicht, dass es sowohl für den Kläger wie für seine Familie wichtig ist, sich gemeinsam außerhalb des Nahbereichs der Wohnung in der Natur zu bewegen, die strikten Vorgaben der Rechtsprechung verhindern jedoch eine Kostenübernahme durch die Versichertengemeinschaft.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG und entspricht dem Verfahrensausgang.

Gründe, die Revision gemäß § 160 SGG zuzulassen, sind nicht gegeben. Es handelt sich insbesondere nicht gemäß § 160 Abs.2 Nr.1 um eine Rechtssache grundsätzlicher Bedeutung.
Rechtskraft
Aus
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