L 3 U 256/79

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 3 U 346/76
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 256/79
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die MdE ist die Beeinträchtigung der Fähigkeit, sich einen Erwerb zu verschaffen. Sie ist im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse und des gesamten Bereichs des Erwerbslebens zum Zeitpunkt der anstehenden Einschätzung festzustellen. Es ist mit den Grundsätzen der abstrakten Schadensbemessung nicht vereinbar, zur MdE-Schätzung auf einzelne Tariflöhne zurückzugreifen.
2. Ein mit Knick, aber stabil ausgeheilten WK-Bruch ohne zusätzliche Funktionseinbußen der Wirbelsäule rechtfertigt nach dem Ablauf von eineinhalb bis zwei Jahren nach dem Arbeitsunfall keine MdE um 20 v.H. mehr.
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 15. Januar 1979 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die beteiligten streiten um die Gewährung der Dauerrente ab dem 1. Oktober 1976.

Der 1939 geborene Kläger erlitt nach einem Durchgangsarztbericht aus dem Städtischen Krankenhaus F.-H. vom 22. Oktober 1974 am gleichen Tage eine Fraktur des 1. Lendenwirbelkörpers – LWK – mit starker Impression, Prellungen und Schürfungen an beiden Unterschenkeln sowie am linken Kniegelenk. In einem Rentengutachten vom 6. Juni 1975 schätzten die Dres. J. und D. (Chirurgische Eil- und Unfallambulanz des Städtischen Krankenhauses F. H.) die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit – MdE – nach Wegfall der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung ab dem 3. Mai 1975 deswegen auf 25 v.H. Unter dem 13. September 1976 erstattete der Unfallchirurg Dr. S. (Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik H.) ein weiteres Rentengutachten in dem er die Unfallfolgen als unter keilartiger Verformung knöchern ausgeheilten Zusammendrückbruch des 1. Lendenwirbels mit leichter Knickbildung in Höhe des der Brust-Lenden-Wirbelsäulenübergangs, leichte Verspannung der Muskulatur beiderseits des Brust-Lenden-Wirbelsäulenübergangs und Bewegungsbehinderung im Übergangsbereich des Brust-Lenden-Wirbelsäule sowie glaubhafte subjektive Beschwerden bezeichnete. Die MdE sei für die Zeit vom 5. Mai 1975 bis zum 4. Juli 1976 auf 20 v. H. und danach bis auf weiteres mit 10 v. H. einzuschätzen. Nach Anhörung des Medizinaldirektors Dr. M. am 14. Oktober 1976 erließ die Beklagte den Bescheid vom 27. Oktober 1976, mit dem sie für die zurückliegende Zeit vom 5. Mai 1975 bis zum 30. September 1976 eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 v. H. feststellte; danach riefen die Unfallfolgen keine rentenberechtigende MdE um mindestens 20 v.H. mehr hervor.

Gegen dieser von ihm am gleichen Tage abgesandten Bescheid hat der Kläger bei den Sozialgericht Frankfurt am Main – GG – am 10. November 1976 Klage erhoben und geltend gemacht, infolge einer schlechten Ausheilung des LWK-Bruchs auf Dauer in seiner Erwerbsfähigkeit um 1/5 eingeschränkt zu sein.

Das SG hat zunächst die Auskunft des Inhabers des Unfallbetriebs K. W. (H.) vom 12. Januar 1977 und von Amts wegen das chirurgische Gutachten des Dr. med. B. mit dem röntgenologischen Zusatzgutachten der Medizinaldirektorin R. (beide F.) vom 25. März 1977 eingeholt. Der Unternehmer W. hat mitgeteilt, daß der Kläger ohne Minderverdienst in seinem Betrieb wieder tätig sei und man bei der Verrichtung schwerer Arbeiten zeitweilig auf ihn Rücksicht nehme. Der Sachverständige Dr. B. hat ausgeführt, daß allenfalls bis zum Ende des 2. Jahres nach dem Arbeitsunfall eine unfallbedingte MdE um 20 v.H. bestanden habe und danach eine solche von 10 v.H. anzunehmen sei. Die Stabilität des Achsenorgans sei trotz deformer Abheilung des LWK-Bruchs wieder hergestellt. Sodann hat das SG antragsgemäß die Beklagte am 15. Januar 1979 verurteilt, dem Kläger ab dem 1. Oktober 1976 Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. zu gewähren und zur Begründung ausgeführt: Es sei üblich, die MdE mit 20 v.H. einzuschätzen, wenn die Statik der Wirbelsäule – wie hier – durch einen Knick aus der Verformung eines gebrochenen Wirbelkörpers gestört sei. Es habe sich zum Ausgleich eines überdurchschnittlich großen Schadens eine Knochenspange zu bilden begonnen. Gerade der vorliegende Rechtsstreit verdeutliche, daß die MdE endlich nach objektiven Maßstäben gefunden werden müsse. Als solche böten sich die Tarifverträge an. Werde der Durchschnitt der Tariflöhne, welche nach den Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes im Jahre 1973 für Bauhilfsarbeiter 7,15 DM, für Arbeiter in Wäschereien 5,53 DM, für Arbeiten im Großhandel 4,80 DM und für solche in der Metallindustrie 4,44 DM betrugen, mit dem verglichen, der für letztere gezahlt worden sei, welche der Kläger trotz seines Wirbelsäulenschadens noch uneingeschränkt verrichten könne, so ergebe sich bei der Verwendung eines Taschenrechners ein Verlust von etwa 19 v.H.

Gegen dieses ihr mit Empfangsbekenntnis am 23. Februar 1979 zugestellte Urteil hat die Beklagte bei dem Hessischen Landessozialgericht schriftlich am 5. März 1979 Berufung eingelegt.

Es ist im Berufungsverfahren die ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. B. vom 14. September 1979 eingeholt worden. In ihr führt er aus: Seine MdE-Einschätzung mit 20 v.H. für die Zeit bis zum Oktober 1976 entspreche nach den erhobenen Befunden den allgemeingültigen Bewertungsmaßstäben. Auch ein Vorschaden im Sinne einer Übergangssituation am Kreuzlendenübergang sowie Verschleißschäden könnten in der Zeit danach zu keiner rentenberechtigenden MdE führen.

Die Beklagte stützt sich auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. B. und bringt zur Begründung der Berufung ergänzend vor: Grundlage für die Bildung der MdE könnten nur medizinische Sachverständigengutachten sein und nicht ein nach Tariflöhnen feststellbarer Minderlohn. Ein solcher liege im übrigen entgegen der Annahme des SG auch nicht vor. Nach der Auskunft des Unternehmens W. vom 12. Januar 1977 habe der Kläger keine Einkommenseinbuße. Aus dem Lohntarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer in Betrieben des Garten- und Landschaftsbaus in Hessen vom 2. April 1973 folge, daß der Tariflohn für Gartenarbeiter 8,44 DM betragen habe. Auch insoweit ergebe sich kein feststellbarer Minderlohn.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 15. Januar 1979 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und die gutachtlichen Äußerungen des Sachverständigen Dr. B. nicht für schlüssig.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Unfall- und Streitakten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt und daher zulässig (§§ 143, 145, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Sie ist auch begründet. Das auf die zulässige Klage ergangene sozialgerichtliche Urteil mußte aufgehoben werden, da das SG ihr zu Unrecht stattgegeben hat. Der angefochtene Bescheid ist nicht rechtswidrig. Der Kläger hat seit dem 1. Oktober 1976 keinen Anspruch auf die Verletztenrente mehr, da die Folgen des Arbeitsunfalls vom 22. Oktober 1974 seitdem keinen rentenberechtigenden Grad der MdE um mindestens 20 v.H. bedingen (§ 581 Abs. 1 Nr. 2 Reichsversicherungsordnung – RVO –).

Auf Grund des Durchgangsarztberichtes und der förmlichen Unfallanzeige stellt der Senat zunächst fest, daß der Kläger bei dem Arbeitsunfall eine Fraktur des 1. LWK mit starker Impression sowie Prellungen und Schürfungen an beiden Unterschenkeln und im linken Kniegelenk erlitt. Hierüber besteht unter den Beteiligten kein Streit. Diese Verletzungen bedingen aber seit dem 1. Oktober 1976 keinen Grad der MdE in rentenberechtigendem Umfange von wenigstens 20 v.H. Das folgt aus den im Verwaltungs- und Streitverfahren eingeholten Gutachten. Danach ergibt sich aus dem Rentengutachten der Dres. J. und D. vom 6. Juni 1975, das auf Grund der Untersuchungen vom 14. Mai und 3. Juni 1975 erstattet ist, daß Folgen der Prellungen und Schürfungen an beiden Unterschenkeln und am linken Kniegelenk nach Wegfall der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung nicht mehr vorlagen. Wie auch die Dres. S. und B. nach den am 8. September 1976 und am 25. März 1977 erhobenen Befunden ausgeführt haben, bestehen die wesentlichen Unfallfolgen seit dem 1. Oktober 1976 nur noch in einem unter keilartiger Verformung knöchern ausgeheilten Zusammendrückbruch des 1. LWK mit leichter Knickbildung in Höhe des Brustlendenwirbelsäulenübergangs, leichten Verspannung der Muskulatur beiderseits sowie Bewegungsbehinderung in diesem Bereich. Dem schließt sich der Senat nach eigener Überprüfung der eingeholten Gutachten an. Auch die Beteiligten gehen davon übereinstimmend aus.

Entgegen der verallgemeinernden Auffassung des SG ist es nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung nicht üblich, diesen Unfallfolgezustand, nämlich die Störung der Statik der Wirbelsäule durch einen Knick nach Verformung eines gebrochenen Wirbelkörpers auf Dauer mit einer MdE um 20 v.H. zu bewerten. Die MdE ist die Beeinträchtigung der Fähigkeit, sich einen Erwerb zu verschaffen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom 4. August 1955 – 2 RU 67/54 – in E 1, 174; 29. April 1964 – 2 RU 155/62 – in E 21, 63; 22. August 197 – 8 RU 66/73 – in ZfS 1974, 314; 18. Dezember 1974 – 2 RU 155/74 – in E 39, 31) und dem herrschenden Schrifttum (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherungskammer, Stand: 51. Nachtraglieferung 1979, Bd. XI, S. 566 y II ff. und 568 b ff.; Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., Stand: 35. Lieferung März 1979, Anm. 3 und 8 zu § 581 RVO sowie Anm. 10 zu § 556 RVO; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl., Stand: 34. Lieferung Juli 1979, Kennzahl 480, 1 und 500, 4 und 4 i mit jeweils weiteren Nachweisen), denen sich der Senat insofern stets angeschlossen hat (vgl. Hess. LSG, Urteil vom 7. Februar 1973 – L-3/U-410/72 –; 17. Mai 1978, L-3/U – 1112/77; 11. Juni 1979 – L-3/U-260/79 –), ist es keine streitige Frage, daß die Festsetzung der MdE unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse und des gesamten Bereichs des Erwerbslebens zum Zeitpunkt der anstehenden Einschätzung vorzunehmen ist. Die Frage, welche MdE vorliegt, ist daher zwar nicht ausschließlich medizinischer Natur, bei ihrer Beantwortung bedarf es aber der Feststellung der bestehenden Gesundheitsstörungen durch ärztliche Prüfung (vgl. BSG, a.a.O.; Brackmann, a.a.O. S. 570 b; Lauterbach und Podzun, a.a.O.). Im Gegensatz zum Recht der Kriegsopferversorgung (vgl. Verwaltungsvorschrift Nr. 4 zu § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz) haben die von der Rechtsprechung für das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung entwickelten MdE-Sätze keinen Rechtsnormcharakter. Es handelt sich daher nicht um feste Entschädigungssätze, insbesondere um keine sogenannte Glieder- oder Knochentaxe. Die Bewertung der MdE in "Unfallbegutachtung” (6. Aufl.) von Günther-Hymmen, "Der Unfallmann” (9. Aufl.) von Liniger-Molineus oder in ähnlichen privaten Zusammenstellungen von MdE-Sätzen bei bestimmten Körperschäden bilden nur einen Anhaltspunkt für die nach den besonderen Verhältnissen des Einzelfalles vorzunehmende Bewertung der unfallbedingten MdE. Die Berechtigung für solche MdE-Sätze ist aus der Notwendigkeit herzuleiten, eine möglichst gerechte und gleichmäßige Bewertung der Unfallfolgen bei allen Verletzten sicherzustellen (vgl. Brackmann, a.a.O., S. 570 c und Lauterbach, a.a.O., Anm. 8 c zu § 581 RVO; Hess. LSG, Urteil vom 7. Februar 1973 – L 3/U-410/72). Es steht außer Frage, daß stets die Anforderungen des allgemeinen Arbeitsfeldes an den Verletzten in Bezug auf seine Verletzungen zu berücksichtigen sind (vgl. dazu auch die Hinweise bei Günther-Hymmen, a.a.O. S. 66 f. und bei Liniger-Molineus, a.a.O., S. 237). Von diesen Grundsätzen ist das SG bei der Bildung der MdE ab dem 1. Oktober 1976 ohne zureichenden Grund abgewichen. Nach den oben getroffenen Feststellungen besteht der Unfallfolgezustand spätestens seitdem in einem deformverheilten Bruch des 1. LWK mit leichter Knickbildung in Höhe des Brust-Lenden-Wirbelsäulenübergangs. Hierdurch wird eine Statikveränderung der Wirbelsäule hervorgerufen, wodurch sich allerdings noch leichte Verspannungen der Muskulatur in Höhe des Verletztenbereichs ergeben. Die Tragfähigkeit und die Stabilität der Wirbelsäule sind aber wieder hergestellt. Auch ist die Wiederertüchtigung der Wirbelsäulenhaltemuskulatur gut. Besondere, ins Gewicht fallende Funktionseinschränkungen liegen nicht mehr vor. Wenn die Dres. S. und B. insoweit ab dem 1. Oktober 1976 bzw. zum Ablauf des 2. Unfalljahres (21. Oktober 1976) die unfallbedingte MdE mit unter 20 v.H. einschätzten, so ist dies nach den im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung allgemein gültigen Bewertungsgrundsätzen nicht zu beanstanden. Danach wird allgemein ein mit Knick, aber stabil ausgeheilter Wirbelkörperbruch ohne zusätzliche Funktionseinbußen – wie hier – nach dem Ablauf von 1 1/2 bis 2 Jahren nach dem Arbeitsunfall mit unter 20 v.H. bewertet (vgl. Günther-Hymmen, a.a.O., S. 72; Liniger-Molineus, a.a.O., S. 161. Erdmann in Bericht über die unfallmedizinische Tagung in Mainz am 4. und 5. November 1978, Heft 36 der Schriftenreihe des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften e. V., Bonn, zu den Unfallmedizinischen Tagungen der Landesverbände der gewerblichen Berufsgenossenschaften, S. 281 ff.). Es liegen dagegen keine besonderen Umstände vor, die eine Höherbewertung der unfallbedingten MdE rechtfertigen können, und zwar auch nicht durch eine bestehende Vorschädigung. Hierzu stellt der Senat weiter fest, daß bei dem Kläger vor dem Arbeitsunfall die Wirbelsäule bereits vorgeschädigt war. Auf Grund der Gutachten des Sachverständigen Dr. B. ist erwiesen, daß unfallunabhängig gewisse Assimilationsstörungen am Kreuzlendenübergang bei Übergangssituation und Verschleißschäden bestanden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG, Urteile vom 25. Juni 1957 – 2 RU 188/55 – in E 5, 232; 29. April 1964 – 2 RU 155/62 – in E 21, 63; 13. Mai 1966 – 5 RKn 30/64 – in BG 1964, 35) und des Senats (vgl. Hess. LSG, Urteil vom 22. September 1976 – L-3/U-790/75) kann eine Vorschädigung unter Berücksichtigung der individuellen Bemessung der verbliebenen Erwerbsfähigkeit zu einem höheren Grad der rein unfallbedingten MdE führen (vgl. auch: Lauterbach a.a.O., Anm. 5 b zu § 581 RVO; Strauch in Soz. Vers. 1966, 180 ff.). Das ist hier aber nicht der Fall. Auch insoweit schließt sich der Senat den überzeugenden Gutachten des Dr. B. an, der eingehend die Auswirkung des Vorschadens auf die unfallbedingte MdE erörtert hat.

Im Rahmen der abstrakten Schadensbemessung ist es auch nicht zulässig, für die Einschätzung der unfallbedingten MdE einzelne Tarifverträge als maßgebliche Vergleichsgrundlagen heranzuziehen. Zunächst hat das SG nicht dargetan, warum es gerade den Durchschnitt der Tariflöhne des Jahres 1973 für Bauhilfs-, Wäscherei-, Großhandels- und Metallindustriearbeiter ausgewählt hat, obwohl der Arbeitsunfall sich im Jahre 1974 ereignete und es auf die Einschätzung im Oktober 1976 ankommt. Auch fehlt die Angabe desjenigen Tariflohns, der dem Kläger – hypothetisch – für diejenigen Arbeiter zu gewähren wäre, die er ab dem 1. Oktober 1976 nach Ansicht des SG noch verrichten kann. Bereits deswegen ist rechnerisch nicht nachvollziehbar, wie das SG mit Hilfe eines Taschenrechners einen "Verlust von etwa 19 v.H.” ermittelt hat. Der Sache nach hat es mit dem willkürlichen Herausgreifen von einigen Tariflöhnen des Jahres 1973 unter Verletzung der oben dargestellten Entschädigungsgrundsätze des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung eine konkrete Schadensberechnung vorgenommen. Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 11. Juni 1979 (L-3/U-260/79) ausgeführt, daß es schon von vornherein unzutreffend ist, nur von den Tarifgefügen einzelner Tarifverträge in der Bundesrepublik Deutschland auszugehen. Stattdessen ist es erforderlich, sämtliche Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens, d.h., sowohl solche selbständiger Art als auch unselbständige Erwerbsmöglichkeiten zu erfassen. Dazu gehören im Bereich der unselbständigen Tätigkeiten aber auch diejenigen, die über- oder untertariflich entlohnt werden. Bereits hieraus wird ersichtlich, daß die von dem SG angewandte systemwidrige Berechnungsart willkürlich, d.h., nicht an objektiven Maßstäben gemessen und alle Verletzten gleichmäßig und gerecht bewertend vorgenommen ist.

Wenn das SG der Auffassung gewesen sein sollte, daß hier die MdE-Einschätzung nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO keine ausreichende Entschädigung biete, so hätte es prüfen müssen, ob im Rahmen der abstrakten Schadensbemessung nach § 581 Abs. 2 RVO (vgl. BSG, Urteil vom 22. August 1974 – 8 RU 66/73 – in ZfS 1974, 314) eine Höherbewertung möglich war. Das ist hier aber nicht der Fall. Nach dieser Vorschrift sind bei der Bemessung der MdE Nachteile zu berücksichtigen, die der Verletzte dadurch erleidet, daß er bestimmte, von ihm erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Unfalls nicht mehr oder nur noch in verminderten Umfange nutzen kann, soweit sie nicht durch sonstige Fähigkeiten, deren Nutzung ihm zugemutet werden kann, ausgeglichen werden. Diese Voraussetzungen sind hier aber nicht erfüllt. Der Kläger, der marokkanischer Staatsangehöriger ist, hat keinen bestimmten Beruf erlernt. Er ist am Unfalltag in den Gartenbaubetrieb W. als Gartenarbeiter tätig gewesen und übte diese Tätigkeit ohne Minderverdienst nach Wegfall der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung ab dem 5. Mai 1975 wieder aus. Das ergibt sich aus der förmlichen Unfallanzeige und der Auskunft des Unternehmers W. vom 21. Januar 1977. Der Kläger behauptet auch nicht, über besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen zu verfügen, die er infolge des Arbeitsunfalles nicht mehr in zumutbarer Weise nutzen könne. Dafür fehlt es an jedem Anhaltspunkt.

Die Kostenentscheidungen beruhen auf §§ 193, 160 SGG.
Rechtskraft
Aus
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