Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 3a U 43/78
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 832/79
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Auch im Rechtsstreit über die erstmalige Feststellung der Dauerrente hat das SG die Grundlagen der Rentenfestsetzung im bestandskräftigen Bescheid über die Gewährung einer vorläufigen Verletztenrente zu beachten, will es eine verfahrensfehlerfreie Entscheidung herbeiführen.
2. Das SG darf grundsätzlich nicht von der Festsetzung der MdE im Bescheid des UV-Trägers um 5 v.H. abweichen; Ausnahmen davon hat es unter Feststellung entsprechender Tatsachen darzulegen (Anschluß an BSG, Urt. v. 17.12.1975 – 2 RU 35/75 – in E 41, 99 und 7.12.1976 – 8 RU 14/76 in E 43, 53).
2. Das SG darf grundsätzlich nicht von der Festsetzung der MdE im Bescheid des UV-Trägers um 5 v.H. abweichen; Ausnahmen davon hat es unter Feststellung entsprechender Tatsachen darzulegen (Anschluß an BSG, Urt. v. 17.12.1975 – 2 RU 35/75 – in E 41, 99 und 7.12.1976 – 8 RU 14/76 in E 43, 53).
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil das Sozialgerichts Gießen vom 12. Juni 1979 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Höhe der Dauerrente.
Der im Jahre 1931 geborene Kläger leidet unter einer seit 1968 begonnenen und schweren sowie auch wiederholt rückfälligen Hauterkrankung infolge Sensibilisierung gegenüber Chromaten, Kobalt, Nickel und Alkalien. Nach den Feststellungen des Gewerbemedizinalrates Dr. P. und den Angaben der Firma G. R. KG (F.) vom 11. bzw. 20. März 1969 sowie den Gutachten der Hautfachärzte Dr. H. (H.) und Dr. K. (Allergie- und Hautklinik N.) vom 9. Dezember 1973 und 2. März 1976 bzw. 7. Oktober 1974 beruht diese Sensibilisierung auf dem Kontakt mit Arbeitsstoffen. Sie zwingt zur Aufgabe der beruflichen Beschäftigung. Nachdem der Kläger ab dem 1. November 1975 bei der Firma R. KG innerbetrieblich umgesetzt worden war und seit dem nicht mehr mit den Berufsschadstoffen in Berührung kam, erließ die Beklagte am 14. Mai 1976 einen Bescheid über die Gewährung einer Rente ab dem 1. November 1975 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit –MdE– um 35 v.H. Es handele sich nach Nr. 46 der Anlage 1 zur 7. Berufskrankheitsverordnung –BKVO– vom 20. Juni 1968 (BGH I S. 721) um eine Berufskrankheit –BK–, nämlich eine wiederholt rückfällige Hauterkrankung, die zur Aufgabe der bisherigen beruflichen Beschäftigung gezwungen habe. Der Versicherungsfall sei mit der Aufgabe der beruflichen Beschäftigung zum 1. November 1975 eingetreten. In dem Bescheid hieß es weiter, daß es sich um eine vorläufige Rente handele. Der Bescheid erwuchs in Bestandskraft.
Am 19. August 1977 erstattete Dr. H. ein weiteres Rentengutachten, in dem er die MdE auf 30 v.H. schätzte. Der Hautzustand habe sich, wenn auch nicht wesentlich, d.h., um 10 v.H., so doch etwas gebessert. Hierauf teilte die Beklagte unter dem 12. September 1977 mit, daß sie im Hinblick auf das Gutachten des Dr. H. die Dauerrente nach einer MdE um 30 v.H. feststellen wolle. Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 14. September 1977 erklärt hatte, er lege dagegen "förmlichen Widerspruch” ein, erließ die Beklagte am 28. September 1977 den Bescheid über die Feststellung einer Dauerrente nach einer MdE um 30 v.H. ab dem 1. November 1977. Als Folgen der BK bezeichnete sie eine beruflich erworbene Überempfindlichkeit der Haut gegenüber bestimmten Arbeitsstoffen, die zur Aufgabe der beruflichen Beschäftigung gezwungen habe, eine herabgesetzte Widerstandsfähigkeit des Hautorgans und geringe ekzematöse Veränderungen an Händen und Fingern. Nicht als Folgen der BK sah sie dyshidrotische Hauterscheinungen an Händen und Fußsohlen an.
Gegen diesen ihm am 30. September 1977 zugestellten Bescheid legte der Kläger am 26. Oktober 1977 Widerspruch ein, den die Beklagte mit seiner Zustimmung nach Nichtabhilfe durch ihren Widerspruchsausschuß dem Sozialgericht Gießen –SG– am 15. März 1978 als Klage zuleitete.
Mit Urteil vom 12. Juni 1979 hat das SG unter Abänderung des Bescheides vom 28. September 1977 die Beklagte antragsgemäß verurteilt, dem Kläger über den 31. Oktober 1977 hinaus die Verletztenrente nach einer MdE um 35 v.H. zu gewähren. In den Urteil, in dem es die Berufung nicht zugelassen hat, hat es zur Begründung ausgeführt: Die Beklagte habe mit dem angefochtenen Bescheid nicht mehr die Dauerrente erstmalig gemäß § 1585 Abs. 2 S. 2 Reichsversicherungsordnung –RVO– feststellen können. Bereits mit dem Bescheid vom 14. Mai 1976 sei eine Dauerrente gewährt worden, auch wenn es darin heiße, daß es sich um eine vorläufige Verletztenrente handele. Der Versicherungsfall sei nämlich bereits einige Jahre vor 1974 eingetreten, da der Internist Dr. N. (R. schon 1968 die Anzeige über eine BK nach den zweiten Rückfall erstattet gehabt habe und der Kläger sodann Ende September 1971 von der Montage- in die Verpackungsabteilung versetzt worden sei.
Gegen dieses ihr am 12. Juli 1979 zugestellte Urteil hat die Beklagte schriftlich bei dem Hessischen Landessozialgericht am 25. Juli 1979 Berufung eingelegt. Sie bringt zu ihrer Begründung vor: Das angefochtene Urteil beruhe auf wesentlichen Verfahrensmängeln, die sie ausdrücklich rüge. Das SG habe, obwohl die Klage sich gegen den Bescheid über die Feststellung der Dauerrente vom 28. September 1977 richte, entgegen dem Klageantrag primär eine Entscheidung über den Bescheid vom 14. Mai 1976 getroffen. Dazu sei es nicht befugt gewesen. Es habe gegen die § 123 und 77 Sozialgerichtsgesetz SGG– verstoßen, da es über den erhobenen Klageanspruch hinausgegangen sei und nicht die Bestandskraft des Bescheides vom 14. Mai 1976 beachtet habe. Hierauf beruhe die getroffene Entscheidung, da es andernfalls nicht zu der im übrigen auch sonst unzulässigen Erhöhung der MdE um 5 v.H. gekommen wäre.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 12. Juli 1979 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und meint, daß keine wesentlichen Verfahrensmängel vorlägen. Die Argumentation der Beklagten beziehe sich auf die materielle Rechtslage, aber nicht auf ein etwaiges fehlerhaftes prozessuales Vorgehen des SG auf dem Wege zum Urteil.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Inhalt der Unfall- und Streitakten einschließlich ihrer Verweisungen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte trotz Ausbleibens des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung, in dem er auch nicht vertreten war, entscheiden. Sein persönliches Erscheinen war nicht angeordnet (§ 111 Abs. 1 SGG). Sein ordnungsgemäß geladener Prozeßbevollmächtigter ist außerdem darauf hingewiesen worden, daß auch bei seinem Ausbleiben entschieden werden kann (§ 110 SGG).
Die Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt (§ 151 Abs. 1 SGG).
Sie betrifft nur den Grad der MdE, ohne daß die Schwerbeschädigteneigenschaft oder die Gewährung der Rente davon abhängt oder die Änderung durch ein neu hinzugetretenes Leiden verursacht worden ist, so daß der Berufungsausschließungsgrund nach § 145 Nr. 4 SGG vorliegt. Im Streit steht allein ob die Beklagte dem Kläger ab dem 1. November 1977 die Verletztenrente wegen der anerkannten BK nach einer MdE um 30 v.H. oder 35 v.H. zu gewähren hat.
Die an sich nicht statthafte Berufung ist aber nach § 150 Nr. 2 SGG zulässig, da die Beklagte mit Erfolg einen wesentlichen Mangel im Verfahren des SG rügt. Sie macht zutreffend geltend, daß das SG die Bestandskraftwirkung (§ 77 SGG) des verbindlichen Bescheides vom 14. Mai 1976 unbeachtet gelassen hat (vgl. BSG, Urt. v. 21. Oktober 1958 – 6 RKa 9/58 – in F 8, 185). Mit diesem Bescheid hatte die Beklagte in – in übrigen zutreffender (vgl. BSG, Urt. v. 20. April 1978 – 2 RU 79/77 –) – Anwendung von § 551 Abs. 1 RVO i.V.m. Nr. 46 der Anlage 1 zur 7. BKVO festgestellt, daß dem Kläger wegen einer beruflich bedingten Hauterkrankung als BK ab dem 1. November 1975 eine vorläufige Verletztenrente nach einer MdE um 35 v.H. zustehe. Ausdrücklich sind als Zeitpunkt des Versicherungsfalles der 1. November 1975 und die Rentenart als vorläufige Rente bezeichnet worden. Hierbei handelt es sich um der Bindung fähige Verfügungssätze (vgl. Bichel, das Verwaltungsverfahren, Komm. zur RVO, 6. Buch. Anm. 2 a und 3 b mit weiteren Nachweisen). Nach Eintritt der Bindungswirkung sind hieran nicht nur die Beteiligten, sondern auch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit gebunden. Das SG durfte daher bei der Überprüfung der Rechtsmäßigkeit der erstmaligen Feststellung der Dauerrente durch die Beklagte nicht erneut die Richtigkeit des bindend festgestellten Zeitpunktes des Eintritts des Versicherungsfalles, von dem der Dauerrentenbescheid als unveränderbare Grundlage auszugehen hatte, sachlich überprüfen. Entgegen der Auffassung des Klägers handelt es sich dabei auch nicht nur um eine Entscheidung in der Sache selbst, sondern um einen schweren Mangel im
Verfahren, d.h., auf dem Wege zum Urteil (vgl. BSG, Urt. v. 21. Oktober 1958 – 6 RKa 9/58 – in E 8, 185 – NJW 1959, 743).
Die hiernach insgesamt zulässige Berufung ist auch begründet. Das auf die zulässige Klage ergangene sozialgerichtliche Urteil kann keinen Bestand haben, da der angefochtene Bescheid von dem SG zu Unrecht aufgehoben worden ist. Er ist nicht rechtswidrig. Mit ihm hat die Beklagte rechtsfehlerfrei die Dauerrente erstmalig nach einem MdE um 30 v.H. ab dem 1. November 1977 festgestellt (§§ 1585 Abs. 2 S. 2, 581 Abs. 1 RVO). Gemäß § 1585 Abs. 2 Nr. 2 RVO setzt diese Feststellung keine Änderung der Verhältnisse, und zwar auch nicht eine wesentliche Änderung im Sinne von § 622 RVO, voraus; auch ist für sie die vorher getroffene Feststellung der Grundlagen der individuellen Rentenbemessung für den Rentenbescheid nicht bindend. Insoweit hat das SG ferner übersehen, daß es nach der Rechtsprechung des BSG grundsätzlich unzulässig ist, von der Festsetzung der MdE im Bescheid des Unfallversicherungsträgers um 5 v.H. abzuweichen. Das gilt auch bei der erstmaligen Feststellung der Dauerrente (vgl. BSG, Urt. v. 17. Dezember 1975 – 2 RU 35/75 in E 41, 99 – und vom 7. Dezember 1976 – 8 RU 14/76 – in E 43, 53). Das bedeutet, daß eine Schätzung der MdE durch den Versicherungsträger solange als rechtmäßig anzusehen ist, als eine spätere Schätzung durch das Gericht nicht um mehr als 5 v.H. von der früheren abweicht. Das gilt allerdings nur unter der – selbstverständlichen – Voraussetzung, daß im Verwaltungsverfahren die Schätzungsgrundlagen richtig ermittelt worden sind, ferner alle für die Schätzung wesentlichen Umstände hinreichend gewürdigt sind, die Schätzung selbst nicht auf falschen oder unsachlichen Erwägungen beruht und von dem Versicherungsträger oder von dem von ihm gehörten ärztlichen Sachverständigen allgemeine Erfahrungssätze für die Bewertung bestimmter Verletzungsfolgen beachtet worden sind (vgl. BSG, a.a.O.). Der Senat schließt sich nach erneuter eigener Überprüfung dieser Rechtsprechung des BSG an. Mit ihm vertritt er die Auffassung, daß sich in aller Regel nicht mathematisch exakt festlegen läßt, mit welchem Prozentsatz eine unfallbedingte bzw. berufskrankheitsbedingte MdE zu bewerten ist. Sie kann nur annähernd bestimmt werden, wobei üblicherweise Stufen gewählt werden, die durch die Zahl 10, allenfalls 5 oder 3 teilbar sind. Die Bewertung der MdE ist mithin ihrem Wesen nach eine Schätzung, der – wie jeder Schätzung – eine gewisse Schwankungsbreite eigentümlich ist. Soweit dabei bestimmte Grenzen nicht überschritten werden, ist jede innerhalb der Toleranzspanne liegende Schätzung gleichermaßen rechtmäßig. Als äußerste Grenzen der Spanne sind daher Abweichungen um 5 v.H. nach oben oder unten anzusehen (vgl. BSG a.a.O. unter Hinweis auf E 32, 245; 37, 177).
Die Überprüfung des bisherigen Sachverhalts ergibt, daß sowohl von Dr. H. als auch von der Beklagten keine falschen oder sonst sachfremden Erwägungen für die Festsetzung der MdE ab dem 1. November 1977 mit 30 v.H. maßgebend gewesen sind. Die Schätzungsgrundlagen sind richtig ermittelt und hinreichend gewürdigt. Es ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, daß Dr. N. einen allgemeinen Erfahrungssatz bei seinem MdE Vorschlag unbeachtet gelassen hat. Das folgt aus seinem Gutachten vom 19. August 1977, in dem außerdem dargelegt ist, daß im Vergleich zu dem Vorgutachten auch eine gewisse Besserung im Hautbefund eingetreten ist. Daneben leidet der Kläger, wie aufgrund des überzeugenden Gutachtens in dem angefochtenen Bescheid zutreffend festgehalten ist, an dyshidrotischen Hauterscheinungen an Händen und Füßen, die weder im Sinne der Entstehung noch der Verschlimmerung in ursächlichem Zusammenhang mit der BK stehen. Diese Feststellungen werden von dem Kläger auch nicht angegriffen. Er meint nur zusammen mit dem SG unzutreffend, eine Rentenherabsetzung scheide aus, weil keine wesentliche Änderung im Sinne von § 622 RVO vorliege.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 193, 160 SGG.
II. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Höhe der Dauerrente.
Der im Jahre 1931 geborene Kläger leidet unter einer seit 1968 begonnenen und schweren sowie auch wiederholt rückfälligen Hauterkrankung infolge Sensibilisierung gegenüber Chromaten, Kobalt, Nickel und Alkalien. Nach den Feststellungen des Gewerbemedizinalrates Dr. P. und den Angaben der Firma G. R. KG (F.) vom 11. bzw. 20. März 1969 sowie den Gutachten der Hautfachärzte Dr. H. (H.) und Dr. K. (Allergie- und Hautklinik N.) vom 9. Dezember 1973 und 2. März 1976 bzw. 7. Oktober 1974 beruht diese Sensibilisierung auf dem Kontakt mit Arbeitsstoffen. Sie zwingt zur Aufgabe der beruflichen Beschäftigung. Nachdem der Kläger ab dem 1. November 1975 bei der Firma R. KG innerbetrieblich umgesetzt worden war und seit dem nicht mehr mit den Berufsschadstoffen in Berührung kam, erließ die Beklagte am 14. Mai 1976 einen Bescheid über die Gewährung einer Rente ab dem 1. November 1975 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit –MdE– um 35 v.H. Es handele sich nach Nr. 46 der Anlage 1 zur 7. Berufskrankheitsverordnung –BKVO– vom 20. Juni 1968 (BGH I S. 721) um eine Berufskrankheit –BK–, nämlich eine wiederholt rückfällige Hauterkrankung, die zur Aufgabe der bisherigen beruflichen Beschäftigung gezwungen habe. Der Versicherungsfall sei mit der Aufgabe der beruflichen Beschäftigung zum 1. November 1975 eingetreten. In dem Bescheid hieß es weiter, daß es sich um eine vorläufige Rente handele. Der Bescheid erwuchs in Bestandskraft.
Am 19. August 1977 erstattete Dr. H. ein weiteres Rentengutachten, in dem er die MdE auf 30 v.H. schätzte. Der Hautzustand habe sich, wenn auch nicht wesentlich, d.h., um 10 v.H., so doch etwas gebessert. Hierauf teilte die Beklagte unter dem 12. September 1977 mit, daß sie im Hinblick auf das Gutachten des Dr. H. die Dauerrente nach einer MdE um 30 v.H. feststellen wolle. Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 14. September 1977 erklärt hatte, er lege dagegen "förmlichen Widerspruch” ein, erließ die Beklagte am 28. September 1977 den Bescheid über die Feststellung einer Dauerrente nach einer MdE um 30 v.H. ab dem 1. November 1977. Als Folgen der BK bezeichnete sie eine beruflich erworbene Überempfindlichkeit der Haut gegenüber bestimmten Arbeitsstoffen, die zur Aufgabe der beruflichen Beschäftigung gezwungen habe, eine herabgesetzte Widerstandsfähigkeit des Hautorgans und geringe ekzematöse Veränderungen an Händen und Fingern. Nicht als Folgen der BK sah sie dyshidrotische Hauterscheinungen an Händen und Fußsohlen an.
Gegen diesen ihm am 30. September 1977 zugestellten Bescheid legte der Kläger am 26. Oktober 1977 Widerspruch ein, den die Beklagte mit seiner Zustimmung nach Nichtabhilfe durch ihren Widerspruchsausschuß dem Sozialgericht Gießen –SG– am 15. März 1978 als Klage zuleitete.
Mit Urteil vom 12. Juni 1979 hat das SG unter Abänderung des Bescheides vom 28. September 1977 die Beklagte antragsgemäß verurteilt, dem Kläger über den 31. Oktober 1977 hinaus die Verletztenrente nach einer MdE um 35 v.H. zu gewähren. In den Urteil, in dem es die Berufung nicht zugelassen hat, hat es zur Begründung ausgeführt: Die Beklagte habe mit dem angefochtenen Bescheid nicht mehr die Dauerrente erstmalig gemäß § 1585 Abs. 2 S. 2 Reichsversicherungsordnung –RVO– feststellen können. Bereits mit dem Bescheid vom 14. Mai 1976 sei eine Dauerrente gewährt worden, auch wenn es darin heiße, daß es sich um eine vorläufige Verletztenrente handele. Der Versicherungsfall sei nämlich bereits einige Jahre vor 1974 eingetreten, da der Internist Dr. N. (R. schon 1968 die Anzeige über eine BK nach den zweiten Rückfall erstattet gehabt habe und der Kläger sodann Ende September 1971 von der Montage- in die Verpackungsabteilung versetzt worden sei.
Gegen dieses ihr am 12. Juli 1979 zugestellte Urteil hat die Beklagte schriftlich bei dem Hessischen Landessozialgericht am 25. Juli 1979 Berufung eingelegt. Sie bringt zu ihrer Begründung vor: Das angefochtene Urteil beruhe auf wesentlichen Verfahrensmängeln, die sie ausdrücklich rüge. Das SG habe, obwohl die Klage sich gegen den Bescheid über die Feststellung der Dauerrente vom 28. September 1977 richte, entgegen dem Klageantrag primär eine Entscheidung über den Bescheid vom 14. Mai 1976 getroffen. Dazu sei es nicht befugt gewesen. Es habe gegen die § 123 und 77 Sozialgerichtsgesetz SGG– verstoßen, da es über den erhobenen Klageanspruch hinausgegangen sei und nicht die Bestandskraft des Bescheides vom 14. Mai 1976 beachtet habe. Hierauf beruhe die getroffene Entscheidung, da es andernfalls nicht zu der im übrigen auch sonst unzulässigen Erhöhung der MdE um 5 v.H. gekommen wäre.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 12. Juli 1979 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und meint, daß keine wesentlichen Verfahrensmängel vorlägen. Die Argumentation der Beklagten beziehe sich auf die materielle Rechtslage, aber nicht auf ein etwaiges fehlerhaftes prozessuales Vorgehen des SG auf dem Wege zum Urteil.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Inhalt der Unfall- und Streitakten einschließlich ihrer Verweisungen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte trotz Ausbleibens des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung, in dem er auch nicht vertreten war, entscheiden. Sein persönliches Erscheinen war nicht angeordnet (§ 111 Abs. 1 SGG). Sein ordnungsgemäß geladener Prozeßbevollmächtigter ist außerdem darauf hingewiesen worden, daß auch bei seinem Ausbleiben entschieden werden kann (§ 110 SGG).
Die Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt (§ 151 Abs. 1 SGG).
Sie betrifft nur den Grad der MdE, ohne daß die Schwerbeschädigteneigenschaft oder die Gewährung der Rente davon abhängt oder die Änderung durch ein neu hinzugetretenes Leiden verursacht worden ist, so daß der Berufungsausschließungsgrund nach § 145 Nr. 4 SGG vorliegt. Im Streit steht allein ob die Beklagte dem Kläger ab dem 1. November 1977 die Verletztenrente wegen der anerkannten BK nach einer MdE um 30 v.H. oder 35 v.H. zu gewähren hat.
Die an sich nicht statthafte Berufung ist aber nach § 150 Nr. 2 SGG zulässig, da die Beklagte mit Erfolg einen wesentlichen Mangel im Verfahren des SG rügt. Sie macht zutreffend geltend, daß das SG die Bestandskraftwirkung (§ 77 SGG) des verbindlichen Bescheides vom 14. Mai 1976 unbeachtet gelassen hat (vgl. BSG, Urt. v. 21. Oktober 1958 – 6 RKa 9/58 – in F 8, 185). Mit diesem Bescheid hatte die Beklagte in – in übrigen zutreffender (vgl. BSG, Urt. v. 20. April 1978 – 2 RU 79/77 –) – Anwendung von § 551 Abs. 1 RVO i.V.m. Nr. 46 der Anlage 1 zur 7. BKVO festgestellt, daß dem Kläger wegen einer beruflich bedingten Hauterkrankung als BK ab dem 1. November 1975 eine vorläufige Verletztenrente nach einer MdE um 35 v.H. zustehe. Ausdrücklich sind als Zeitpunkt des Versicherungsfalles der 1. November 1975 und die Rentenart als vorläufige Rente bezeichnet worden. Hierbei handelt es sich um der Bindung fähige Verfügungssätze (vgl. Bichel, das Verwaltungsverfahren, Komm. zur RVO, 6. Buch. Anm. 2 a und 3 b mit weiteren Nachweisen). Nach Eintritt der Bindungswirkung sind hieran nicht nur die Beteiligten, sondern auch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit gebunden. Das SG durfte daher bei der Überprüfung der Rechtsmäßigkeit der erstmaligen Feststellung der Dauerrente durch die Beklagte nicht erneut die Richtigkeit des bindend festgestellten Zeitpunktes des Eintritts des Versicherungsfalles, von dem der Dauerrentenbescheid als unveränderbare Grundlage auszugehen hatte, sachlich überprüfen. Entgegen der Auffassung des Klägers handelt es sich dabei auch nicht nur um eine Entscheidung in der Sache selbst, sondern um einen schweren Mangel im
Verfahren, d.h., auf dem Wege zum Urteil (vgl. BSG, Urt. v. 21. Oktober 1958 – 6 RKa 9/58 – in E 8, 185 – NJW 1959, 743).
Die hiernach insgesamt zulässige Berufung ist auch begründet. Das auf die zulässige Klage ergangene sozialgerichtliche Urteil kann keinen Bestand haben, da der angefochtene Bescheid von dem SG zu Unrecht aufgehoben worden ist. Er ist nicht rechtswidrig. Mit ihm hat die Beklagte rechtsfehlerfrei die Dauerrente erstmalig nach einem MdE um 30 v.H. ab dem 1. November 1977 festgestellt (§§ 1585 Abs. 2 S. 2, 581 Abs. 1 RVO). Gemäß § 1585 Abs. 2 Nr. 2 RVO setzt diese Feststellung keine Änderung der Verhältnisse, und zwar auch nicht eine wesentliche Änderung im Sinne von § 622 RVO, voraus; auch ist für sie die vorher getroffene Feststellung der Grundlagen der individuellen Rentenbemessung für den Rentenbescheid nicht bindend. Insoweit hat das SG ferner übersehen, daß es nach der Rechtsprechung des BSG grundsätzlich unzulässig ist, von der Festsetzung der MdE im Bescheid des Unfallversicherungsträgers um 5 v.H. abzuweichen. Das gilt auch bei der erstmaligen Feststellung der Dauerrente (vgl. BSG, Urt. v. 17. Dezember 1975 – 2 RU 35/75 in E 41, 99 – und vom 7. Dezember 1976 – 8 RU 14/76 – in E 43, 53). Das bedeutet, daß eine Schätzung der MdE durch den Versicherungsträger solange als rechtmäßig anzusehen ist, als eine spätere Schätzung durch das Gericht nicht um mehr als 5 v.H. von der früheren abweicht. Das gilt allerdings nur unter der – selbstverständlichen – Voraussetzung, daß im Verwaltungsverfahren die Schätzungsgrundlagen richtig ermittelt worden sind, ferner alle für die Schätzung wesentlichen Umstände hinreichend gewürdigt sind, die Schätzung selbst nicht auf falschen oder unsachlichen Erwägungen beruht und von dem Versicherungsträger oder von dem von ihm gehörten ärztlichen Sachverständigen allgemeine Erfahrungssätze für die Bewertung bestimmter Verletzungsfolgen beachtet worden sind (vgl. BSG, a.a.O.). Der Senat schließt sich nach erneuter eigener Überprüfung dieser Rechtsprechung des BSG an. Mit ihm vertritt er die Auffassung, daß sich in aller Regel nicht mathematisch exakt festlegen läßt, mit welchem Prozentsatz eine unfallbedingte bzw. berufskrankheitsbedingte MdE zu bewerten ist. Sie kann nur annähernd bestimmt werden, wobei üblicherweise Stufen gewählt werden, die durch die Zahl 10, allenfalls 5 oder 3 teilbar sind. Die Bewertung der MdE ist mithin ihrem Wesen nach eine Schätzung, der – wie jeder Schätzung – eine gewisse Schwankungsbreite eigentümlich ist. Soweit dabei bestimmte Grenzen nicht überschritten werden, ist jede innerhalb der Toleranzspanne liegende Schätzung gleichermaßen rechtmäßig. Als äußerste Grenzen der Spanne sind daher Abweichungen um 5 v.H. nach oben oder unten anzusehen (vgl. BSG a.a.O. unter Hinweis auf E 32, 245; 37, 177).
Die Überprüfung des bisherigen Sachverhalts ergibt, daß sowohl von Dr. H. als auch von der Beklagten keine falschen oder sonst sachfremden Erwägungen für die Festsetzung der MdE ab dem 1. November 1977 mit 30 v.H. maßgebend gewesen sind. Die Schätzungsgrundlagen sind richtig ermittelt und hinreichend gewürdigt. Es ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, daß Dr. N. einen allgemeinen Erfahrungssatz bei seinem MdE Vorschlag unbeachtet gelassen hat. Das folgt aus seinem Gutachten vom 19. August 1977, in dem außerdem dargelegt ist, daß im Vergleich zu dem Vorgutachten auch eine gewisse Besserung im Hautbefund eingetreten ist. Daneben leidet der Kläger, wie aufgrund des überzeugenden Gutachtens in dem angefochtenen Bescheid zutreffend festgehalten ist, an dyshidrotischen Hauterscheinungen an Händen und Füßen, die weder im Sinne der Entstehung noch der Verschlimmerung in ursächlichem Zusammenhang mit der BK stehen. Diese Feststellungen werden von dem Kläger auch nicht angegriffen. Er meint nur zusammen mit dem SG unzutreffend, eine Rentenherabsetzung scheide aus, weil keine wesentliche Änderung im Sinne von § 622 RVO vorliege.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 193, 160 SGG.
Rechtskraft
Aus
Login
HES
Saved