L 4 R 4054/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 19 R 7410/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 R 4054/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 27. Mai 2008 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin erhebt im Zugunstenverfahren Anspruch auf höhere Rente wegen Erwerbsunfähigkeit unter Berücksichtigung einer Beitragszeit vom 01. Mai 1975 bis 31. Mai 1976.

Die am 1960 geborene Klägerin besuchte bis 26. Mai 1977 die S.-Realschule in S. (Zeugnis vom 04. Juni 1977). Vom 08. August 1977 bis Juli 1979 dauerte die Fachschulausbildung zur Staatlich geprüften Wirtschaftsassistentin. Vom 03. September 1979 bis 25. August 1982 war die Klägerin im mittleren Beamtendienst, ab August 1981 als Regierungsassistentin z.A. der Besoldungsgruppe A 5. Für diese Zeit erfolgte später eine Nachversicherung. Nach weiterem Schulbesuch bis 20. Juli 1983 zum Erwerb der Fachhochschulreife und knapp einjähriger Arbeitslosigkeit war die Klägerin vom 01. Juli 1984 bis 17. September 1985 als Verwaltungsangestellte der Vergütungsgruppe BAT VII beschäftigt. Sodann erwarb sie im Juni 1987 die Hochschulreife und besuchte von Oktober 1987 bis August 1988 ohne erreichten Abschluss die Fachhochschule für Sozialwesen. Im weiteren blieb die Klägerin arbeitslos, unterbrochen durch Krankheitszeiten.

Das im Januar 1991 eingeleitete Kontenklärungsverfahren wurde mit dem Bescheid der Beklagten vom 09. Oktober 1991 und Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 1992, später ergänzt durch Bescheide vom 13. Mai 1992 und 11. Mai 1993, abgeschlossen, durch welche Zeiten ab 12. Juni 1976 (Vollendung des 16. Lebensjahres) als Ausbildungs- und Arbeitslosigkeitsanrechnungszeiten anerkannt wurden. Der im Rahmen dieses Verfahrens geprüfte Versicherungsverlauf begann hinsichtlich der Beitragszeiten mit dem 03. September 1979, also den der Nachversicherung unterliegenden Zeiten im mittleren Beamtendienst. Frühere Zeiten wurden bis dahin nicht geltend gemacht.

Während fortdauernder Arbeitslosigkeit beantragte die Klägerin am 29. April 1993 Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. Nach medizinischen Ermittlungen bewilligte die Beklagte durch Bescheid vom 13. August 1993 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 01. Mai 1993 (anfänglicher monatlicher Bruttobetrag DM 1.517,54). Der Versicherungsverlauf begann mit dem 12. Juni 1976, der Anrechnungszeit der Schulausbildung nach vollendetem 16. Lebensjahr. Diesen Bescheid griff die Klägerin nicht an.

Am 19. Juli 2004 ging bei der Beklagten der Antrag der Klägerin ein, bei der Rente eine Zeit von Mai 1975 bis Mai 1976 bei der Firma O. zu berücksichtigen. Dort habe sie weit über der Geringfügigkeitsgrenze in den Schulferien in Vollzeit, während der Schulzeit fast täglich bis abends sowie häufig am Wochenende und an Feiertagen gearbeitet, jedoch nur etwa DM 25,00 monatlich erhalten. Sie sei als billige Arbeitskraft in überdurchschnittlicher Arbeitszeit letztlich mit einem Stundenlohn von etwa DM 0,15 missbraucht worden. Ein Hinweis auf solche Missstände sei Anfang der Achtzigerjahre erfolglos verlaufen. Auch neuerdings habe sie von der Firma keine Antwort mehr erhalten. So ein krasser Fall könne nicht auf sich beruhen bleiben. Es sei billige Kinderarbeit gewesen.

Durch Bescheid vom 02. August 2004 lehnte die Beklagte eine Teilrücknahme des Rentenbescheids vom 13. August 1993 ab. Die Rente sei in zutreffender Höhe festgestellt worden, nachdem weder neue Beweismittel vorgelegt noch neue Tatsachen für eine günstigere Entscheidung vorgetragen seien. Die Klägerin erhob unter Wiederholung ihres Vorbringens Widerspruch. Die Firma O. habe durch billige Kinderarbeit die Versicherungspflicht umgangen. Die Widerspruchsstelle der Beklagten erließ den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 03. November 2004. Soweit eine Beschäftigung bestanden haben sollte, sei diese nach dem seinerzeit geltenden Recht als geringfügige versicherungsfrei gewesen. Im Übrigen seien alle rentenrechtlichen Zeiten berücksichtigt worden.

Mit der am 05. November 2004 beim Sozialgericht Stuttgart (SG) erhobenen Klage trug die Klägerin vor, auf Veranlassung der Mutter habe sie mit 14 Jahren in Stellung gehen sollen. Dementsprechend habe sie, wie bereits dargelegt, von Mai 1975 bis Mai 1976 als Sekretärin nach der Schule sowie häufig an Wochenenden, Feiertagen und in den Schulferien ganztags bei O. gearbeitet. Anfang der Achtzigerjahre habe ihr das Gewerbeaufsichtsamt geantwortet, der Fall sei verjährt. Sie sei als billige Kinderarbeiterin ausgenutzt worden. Man habe den Jugendschutz nicht beachtet. Die Arbeit habe auch im Transport schwerer Prospekte bestanden. Es sei verständlich, dass O. vom Sachverhalt nichts mehr wissen wolle. Man habe die Personalakte anscheinend verschwinden lassen. Wegen dieser Beschäftigung habe sie, die Klägerin, ihre Schulausbildung gefährdet und habe schließlich das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg machen müssen. Die getroffene Lohnvereinbarung sei sittenwidrig gewesen. Die Beitragspflicht zur Rentenversicherung habe sich nach der angemessenen Vergütung für eine unausgebildete Schreibkraft mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden von mindestens DM 1.500,00 brutto zu richten.

Die Beklagte trat der Klage entgegen.

Das SG hörte die Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 27. Mai 2008 an und wies die Klage durch Urteil vom 27. Mai 2008 ab. Zur Begründung legte es im Wesentlichen dar, nach dem Grundsatz der materiellen Feststellungslast trage der Versicherte die nachteiligen Folgen der Nichterweislichkeit der Feststellung einer bestimmten Tatsache. Es (das SG) sei zwar auf Grund der glaubwürdigen Angaben der Klägerin davon überzeugt, dass sie von Mai 1975 bis Mai 1976 bei der Firma O. als Schreibkraft und "Mädchen für Alles" gearbeitet habe. Der Klägerin sei es jedoch nicht gelungen, glaubhaft zu machen, dass die Tätigkeit im Rahmen eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt worden sei. Weder die Ausübung einer versicherungsrechtlichen Beschäftigung noch erst recht die Zahlung von Beiträgen sei glaubhaft gemacht. Jedenfalls seien Meldungen der Einzugsstelle über eine Beitragsentrichtung bei der Beklagten nicht eingegangen. Das Einkommen aus der Beschäftigung sei unter der damaligen Beitragsbemessungsgrenze liegend und damit die Beschäftigung als versicherungsfrei angesehen worden.

Gegen das ihrem damaligen Bevollmächtigten am 15. August 2008 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 24. Juni 2008 beim SG Berufung eingelegt. Sie hat vorgelegt die Postkarte einer damaligen Kollegin vom 12. Juli 1976 in Fotokopie, die ihr auf einen Urlaubsgruß geschrieben habe, dies müsse "ja auch schöner sein, als im Büro bei O. zu schmachten", sowie in Auszügen die Geschäftsbedingungen der damaligen O. Zylinder Vertriebsgesellschaft mbH in S ... Sie macht geltend, sie könne nichts dafür, dass ihre Mutter keinen schriftlichen Arbeitsvertrag geschlossen habe. Die Personalakte sei vorsätzlich verschwunden. Auch bei schlechter Bezahlung entstünden Rentenansprüche. Im Übrigen verbleibe sie dabei, dass sie für einen Stundenlohn von etwa DM 0,15 habe arbeiten müssen. Zuletzt habe ihr die Bezirksgeschäftsstelle Stuttgart der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) mit Schreiben vom 27. November 2008 mitgeteilt, eine nachträgliche Anforderung von Beiträgen könne aufgrund Verjährung nicht erfolgen; es werde empfohlen, sich mit der Beklagten in Verbindung zu setzen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 27. Mai 2008 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 02. August 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03. November 2004 zu verurteilen, nach Teilrücknahme des Bescheids vom 13. August 1993 höhere Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 01. Januar 2000 unter Berücksichtigung einer Beitragszeit vom 01. Mai 1975 bis 31. Mai 1976 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil und ihre Bescheide weiterhin für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zur weiteren Darstellung wird auf den Inhalt der Berufungsakten, der Klageakten und der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin, über die der Senat nach §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, hat in der Sache keinen Erfolg. Das SG hat im angefochtenen Urteil vom 27. Mai 2008 zutreffend entschieden, dass die Beklagte im Bescheid vom 02. August 2004 (Widerspruchsbescheid vom 03. November 2004) die Zahlung einer höheren Rente an die Klägerin unter Berücksichtigung einer weiteren Beitragszeit vom 01. Mai 1975 bis 31. Mai 1976 im Zugunstenverfahren zu Recht abgelehnt hat.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht; bei einer Rücknahme auf Antrag wäre maßgeblich der Beginn des vierten Kalenderjahres vor diesem (vgl. im Einzelnen § 44 Abs. 4 Sätze 1, 2 und 3 SGB X). Mit dem Antrag vom Juli 2004 bestünde demgemäß ein höherer Rentenanspruch ab 01. Januar 2000. Ein solcher Anspruch besteht aus den im Folgenden darzulegenden Gründen für die Klägerin nicht.

Die Höhe einer Rente richtet sich vor allem nach der Höhe der während des Versicherungslebens durch Beiträge versicherten Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen (§ 63 Abs. 1 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuchs - SGB VI -). Das durch Beiträge versicherte Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen wird in Entgeltpunkte umgerechnet (vgl. Abs. 2 Satz 1 der Vorschrift). Gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 SGB VI sind Beitragszeiten Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind. Pflichtbeitragszeiten sind auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten (Satz 2). Beitragszeiten sind demgemäß grundsätzlich nur Zeiten, für welche Beiträge - tatsächlich - "gezahlt worden sind"; sie können - regelmäßig - nur gezahlt werden, solange der Anspruch auf ihre Zahlung noch nicht verjährt ist (vgl. hierzu §§ 197 ff. SGB VI). Bei Beschäftigungszeiten, die den Trägern der Rentenversicherung ordnungsgemäß gemeldet worden sind, wird vermutet, dass während dieser Zeiten ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis mit dem gemeldeten Arbeitsentgelt bestanden hat und der Beitrag dafür wirksam gezahlt worden ist (§ 199 Satz 1 SGB VI).

Dass die Firma O. für die streitige Zeit vom 01. Mai 1975 bis 31. Mai 1976 Beiträge gezahlt habe oder auch nur eine Beschäftigung ordnungsgemäß gemeldet habe, wird von der Klägerin selbst nicht geltend gemacht. Weder im Kontenklärungsverfahren, das auf Antrag der Klägerin vom Januar 1991 mit Bescheid vom 09. Oktober 1991 und Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 1992, später ergänzt durch Bescheide vom 13. Mai 1992 und 11. Mai 1993, abgeschlossen worden ist, noch in dem zum Bewilligungsbescheid vom 13. August 1993 führenden Rentenantragsverfahren ist ein Hinweis auf die behauptete Beschäftigung erfolgt. Den Rentenbescheid mit dem mit 12. Juni 1976 (Schulausbildung nach Vollendung des 16. Lebensjahres, damalige Rechtslage betreffend der Anrechnungszeiten, § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI) beginnenden Versicherungsverlauf hat die Klägerin nicht angegriffen und auch später nicht beanstandet.

Eine Beitragszahlung hätte gegenüber der Einzugsstelle (Krankenkasse) nach den Vorschriften des Vierten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB IV) eingeleitet werden müssen. Insoweit hat sich die DAK in dem von der Klägerin zuletzt vorgelegten Schreiben vom 27. November 2008, dessen rechtliche Qualität hier dahingestellt bleiben kann, auf Verjährung berufen (vgl. zu den Fristen § 25 SGB IV). Wenn die DAK im genannten Schreiben vorsorglich ausführt, über die Anrechnung von Beschäftigungszeiten bei der Rentenberechnung entscheide allein die Rentenversicherung (hier: Beklagte), ist dies insoweit verkürzt oder missverständlich, als nach den dargelegten Bestimmungen eine Berücksichtigung von Zeiten, für welche weder eine Beitragszahlung noch eine Meldung glaubhaft gemacht worden ist, nicht eröffnet ist. Aus welchen möglicherweise zu missbilligenden Gründen die Firma O. eine Meldung oder Beitragsentrichtung nicht getätigt hat, kann nach alledem hier dahinstehen.

Ungeachtet dessen ergeben sich keine Ansätze zu weiteren Ermittlungen, nachdem Unterlagen wie Personalakten nach dem mehrmaligen eigenen Vorbringen der Klägerin nicht mehr vorhanden sind. Versäumnisse der zeitnahen Geltendmachung von Meldungen oder Beitragsentrichtungen können im Leistungsverfahren gegenüber der Beklagten nach alledem nicht kompensiert werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Zur Zulassung der Revision bestand kein Anlass.
Rechtskraft
Aus
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