Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 3 P 210/04
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 32/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 P 3/09 B
Datum
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 22. Mai 2006 wird zurückgewiesen.
Auf die Anschlussberufung der Klägerin wird die Beklagte in Abänderung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts München vom 22. Mai 2008 verurteilt, ab 1. Juli 2008 Pflegegeld nach Stufe I in Höhe von 215 EUR anstatt 205 EUR monatlich jeweils ab Ersten eines jeden Monats nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz jeweils seit dem Ersten eines Monats zu zahlen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin Leistungen der privaten Pflegeversicherung nach Stufe I zustehen.
Die 1925 geborene Klägerin ist bei der Beklagten, einem privaten Unternehmen der Krankenversicherung, gegen Krankheit und Pflegebedürftigkeit versichert. Sie beantragte am 7. Dezember 2003 Leistungen der Pflegeversicherung. Die Beklagte beauftragte die Gesellschaft für medizinische Gutachten - M. (nachfolgend M.) mit einer Begutachtung im Rahmen eines Hausbesuchs. Dr. W. besuchte die Klägerin am
29. Januar 2004 und kam zum Ergebnis, dass diese keinerlei Hilfe für Grundpflege bedürfe. Auf die Einwände der Klägerin holte die Beklagte ein Obergutachten durch Dr. H. ein. Dieser bewertete den Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege im Gutachten vom
16. Juni 2004 mit 15 Minuten. Die Klägerin könne sich mit ihrem Rollstuhl in der Wohnung selbstständig fortbewegen. Der Gebrauch von Armen und Händen sei nicht eingeschränkt. Lediglich für zweimal wöchentliches Haare waschen und gelegentlich beim Kämmen benötige sie Hilfe. Ein Pflegedienst komme dreimal die Woche. Er versorge die Wundgeschwüre und helfe beim Waschen der Füße. Ansonsten komme die Klägerin alleine zurecht. Hilfe brauche sie vor allem für hauswirtschaftliche Verrichtungen. Die Beklagte blieb bei ihrer ablehnenden Haltung und stützte sich auf die von ihr eingeholten Gutachten. Danach werde die für Pflegestufe I notwendige Hilfe von mehr als 45 Minuten pro Tag bei weitem nicht erreicht.
Am 11.10.2004 erhob die Klägerin beim Sozialgericht München Klage und beantragte, die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. Dezember 2003 Leistungen wegen Pflegebedürftigkeit zu gewähren. Sie leide an den Folgen einer Schenkelhalsfraktur, einem Zustand nach Ulcus cruris, einem Morbus Bechterew, an Depressionen mit psychotischen Symptomen und einer Kniebeugekontraktur. Sie könne sich nur im Rollstuhl innerhalb ihrer Wohnung bewegen. Zeitweilig sei sie örtlich und zeitlich nicht orientiert. Deshalb bedürfe sie der Pflege, die täglich ca. 90 Minuten betrage. Sie werde durch einen ambulanten Pflegedienst versorgt.
Das Sozialgericht beauftragte Dr. S. mit der Erstattung eines Gutachtens. Im Gutachten vom 5. August 2005 kam die Sachverständige zum Ergebnis, die Klägerin sei geh- und stehunfähig nach Schenkelhalsbruch im September 2003. Sie leide an Morbus Bechterew in weit fortgeschrittenem Stadium. Es bestünden eine Bewegungseinschränkung beider Schultern besonders links, ein Ulcus Cruris an beiden Füßen, ein körperlicher und geistiger Aufbrauch und eine schwere Depression. Der Gebrauch beider Arme sei infolge der Schultergelenksarthrose eingeschränkt. Hinzu komme ein ausgeprägtes Zittern der Hände. Hilfe werde nicht nur für das Waschen das Unterkörpers sondern auch des Oberkörpers benötigt. Psychopathologische Symtome, wie fehlende Krankheitseinsicht, führten zu einem Pflegedefizit. Die Sachverständige hielt Hilfe für Körperpflege von 29 Minuten, für Ernährung von 7 Minuten und Mobilität von 22 Minuten, und damit insgesamt Hilfe für Verrichtungen der Grundpflege im Umfang von 58 Minuten sowie für hauswirtschaftliche Versorgung von 45 Minuten für nötig. In diesem Ausmaß habe, dem Attest des behandelnden Arztes Dr. F. zufolge, Pflegebedarf bereits seit Juli 2004 bestanden.
Die Beklagte wandte ein, das Sozialgericht hätte kein Gutachten einholen dürfen. Dies sei nur zulässig, wenn die von ihr eingeholten Gutachten " offensichtlich fehlerhaft " wären, was nicht der Fall sei. Es werde zwar für möglich gehalten, dass sich die Pflegesituation seit der letzten Begutachtung durch M. verschlechtert habe. Die früheren Gutachten seien damit nicht offensichtlich unrichtig geworden. Es habe sich lediglich die Pflegesituation geändert. Das Gutachten der Dr. S. sei zudem nicht schlüssig, so weit bereits für das Jahr 2004 ein Hilfebedarf im selben Umfang wie zur Zeit der Begutachtung im August 2005 bestanden haben solle. Die Sachverständige beschreibe nur den Ist-Zustand und eindeutige Veränderungen des Gesundheitszustandes im Verlauf des Jahres 2004. Die Beklagte habe von diesen Veränderungen erstmals im Gutachten vom 5. August 2005 erfahren. Entgegenkommender Weise sehe sie dies als Neuantrag an und biete eine entsprechende Überprüfung und Begutachtung an.
Die Klägerin erklärte hierzu am 8. Dezember 2005, sie halte die Rechtsmeinung der Beklagten, die von ihr eingeholten Gutachten könnten nur auf offensichtliche Unrichtigkeit überprüft werden, für falsch. Zum Angebot auf Überprüfung und Begutachtung äußerte sie sich nicht.
Im Schreiben vom 21. Februar 2006 bzw. 22. Februar 2006 änderte die Klägerin ihren Klageantrag dahin, die Beklagte zu verurteilen, an sie seit 1. Juli 2004, dem Gutachten der Dr. S. entsprechend, zu jedem ersten eines Monats 205 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozent über dem jeweiligen Basiszinssatz zu zahlen. Hilfsweise hielt sie ihren ursprünglichen Antrag aufrecht.
Nach Anhörung verurteilte das Sozialgericht die Beklagte mit Gerichtsbescheid vom
22. Mai 2006, der Klägerin ab 1. Juli 2004 Pflegegeld der Pflegestufe I in Höhe von 205 EUR monatlich nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozent über dem jeweiligen Basiszinssatz jeweils seit dem ersten eines Monats aus jeweils 205 EUR monatlich zu zahlen und die Kosten zu erstatten. Grundlage der Entscheidung sei das Gutachten von Dr. S ... Danach seien die Voraussetzungen für Pflegestufe I im Verlaufe des Jahres 2004 und damit entgegen dem Gutachten der M. vom 16. Juni 2004 eingetreten. Bereits damals hätten eine erhebliche Depression und eine psychotische Grundhaltung bestanden, daneben die seit Antragstellung bekannten überwiegend körperlichen Behinderungen.
Dagegen legte die Beklagte Berufung ein. Es handle sich um ein unzulässiges Feststellungsurteil. Das Sozialgericht habe mit keinem Wort festgestellt, dass die im Jahr 2004 von ihr eingeholten ärztlichen Schiedsgutachten "ersichtlich fehlerhaft " gewesen seien. Es reiche nicht aus, die Ergebnisse eines vom Gericht eingeholten Gutachtens heranzuziehen und festzustellen, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe I vorliegen. Vielmehr hätte das Sozialgericht im Einzelnen prüfen müssen, ob eine Fehlerhaftigkeit vorgelegen habe und sich diese einem sachkundigen Beobachter hätte aufdrängen müssen. Wenn erst ab 1. Juli 2004 die Voraussetzungen für Pflegestufe I erfüllt gewesen seien, wovon das Sozialgericht ausgegangen sei, hätte die Klägerin erst einen neuen Antrag stellen und das Überprüfungs- und Begutachtungsverfahren, für das die Beklagte und nicht das Gericht zuständig sei, abwarten müssen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) müsse in einem derartigen Fall das Gericht den Versicherer hinweisen, dass eine neue Begutachtung notwendig sei. Die Beklagte habe darüber hinaus am 18. Oktober 2005 freiwillig eine Begutachtung angeboten. Die Tochter der Klägerin habe dies nach Mitteilung der beauftragten Gutachterin Dr. S. abgelehnt. Auf die Folgen der verweigerten Begutachtung sei die Klägerin am 14. Dezember 2005 hingewiesen worden. Da sich die Beklagte, nicht aber die Klägerin vertragsgemäß verhalten habe, bestünden keine Leistungsansprüche.
Die Klägerin ließ vortragen, von dem angeblichen Gutachtensauftrag vom 18. Oktober 2005 nichts erfahren zu haben. Die Beklagte hätte in Schriftform darauf hinweisen müssen, dass die Begutachtung unabhängig vom vorliegenden Rechtsstreit erfolge.
Die Beklagte bezog sich erneut auf ihr Recht auf Leistungsverweigerung bzw. Leistungskürzung bei Verletzung vertraglicher Obliegenheiten des Versicherungsnehmers. Um einen solchen Fall handle es sich hier. Außerdem bleibe sie dabei, dass das in erster Instanz erstellte Gutachten gar nicht hätte eingeholt werden dürfen. Eine offensichtliche Fehlerhaftigkeit der Gutachten der M. habe nicht bestanden und sei von Dr. S. auch nicht festgestellt worden. Hierzu hätte es des Nachweises bedurft, dass bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung (gemeint Dez. 2003) die Voraussetzungen für Pflegestufe I vorgelegen hätten und nicht erst später.
Die Beklagte beantragt,
auf ihre Berufung das Urteil des Sozialgerichts München vom 22. Mai 2006
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München
vom 22. Mai 2006 zurückzuweisen.
Mit Schreiben vom 23. September 2008 erweitert sie ihre Klage dahin,
die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. Juli 2008 Pflegegeld in Höhe
von 215 EUR monatlich nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozent über dem
jeweiligen Basiszinssatz jeweils seit dem Ersten eines jeden Monats zu
zahlen.
Durch das Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vom 28. Mai 2008) sei das Pflegegeld mit Wirkung zum 1. Juli 2008 auf monatlich 215 EUR heraufgesetzt worden.
Die Beklagte hat sich hierzu nicht geäußert.
Im Übrigen wird gem. § 136 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf den Inhalt der beigezogenen Akten sowie den Schriftwechsel in erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), sie ist jedoch nicht begründet.
Zutreffend hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 1. Juli 2004 Pflegegeld nach Stufe I in Höhe von monatlich 205 EUR nebst Zinsen zu zahlen.
Richtige Klageart ist die allgemeine Leistungsklage, da die Beklagte als Versicherer der privaten Pflegeversicherung zur Feststellung ihrer Leistungspflicht keine Verwaltungsakte erlassen kann. Dass es sich um einen - unzulässigen - Feststellungsantrag handeln solle, vermag der Senat nicht zu erkennen. Die Klage ist auf Zahlung von Pflegegeld und zwar als Dauerleistung gerichtet. Richtige Klageart ist hierfür die allgemeine Leistungsklage (BSG vom 13.05.2004 - B 3 P 7/03 R Rn 34 u. 35). Die Klage ist fristgemäß am
11. Oktober 2004 und damit vor Ablauf von sechs Monaten nach dem ablehnenden Schreiben vom 25. Juni 2004 entsprechend der vertraglichen Vereinbarungen in § 12 Abs. 3 Versicherungsvertragsgesetz (VVG a.F.) und § 17 Abs. 1 der Musterbedingungen der privaten Pflegeversicherung (MB PPV 1996) erhoben worden.
Die Klägerin hat einen vertraglichen Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung in Höhe von monatlich 205 EUR ab 01.07.2004 gem. § 178b Abs. 4 VVG a.F. i.V.m. §§ 1 f MB PPV 1996.
Entgegen der Meinung der Beklagten konnte das Sozialgericht Veränderungen des maßgeblichen Lebenssachverhalts nach der Antragstellung im Dezember 2003 und nach der ablehnenden Entscheidung vom 25. Juni 2004 berücksichtigen. Dies hat das BSG bereits mehrfach entschieden (BSG a.a.O. und Urteil vom 22. Juli 2004 - B 3 P 6/03 R). Der Antrag des Versicherungsnehmers ist demnach durch die ablehnende Entscheidung des Versicherers weder erloschen noch endgültig erledigt. Er besteht fort. Spätere Änderungen der Sachlage, wie hier die Änderung des Gesundheitszustands, sind bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung zu berücksichtigen. Dies gilt auch dann, wenn ein dem Privatrecht unterliegender Anspruch zu prüfen ist und sich ergibt, dass die Entscheidung des privaten Versicherungsunternehmens zum Zeitpunkt der endgültigen Leistungsablehnung zutreffend gewesen und der Anspruch erst später infolge Änderung der Sachlage entstanden ist.
Die Klägerin hat ab 1. Juli 2004 Anspruch auf Zahlung von Pflegegeld nach Pflegestufe I. Der Senat schließt sich dem Gutachten der Dr. S. an. Danach haben jedenfalls ab
1. Juli 2004 die Voraussetzungen für Leistungen nach der Pflegestufe I vorgelegen. Nach den Feststellungen der Sachverständigen benötigte die Klägerin ab diesem Zeitpunkt im Bereich der Grundpflege Hilfe im Umfang von 58 Minuten. Anders als Dres. W. und H. stellte die Sachverständige eine erhebliche Einschränkung im Gebrauch der oberen Extremitäten beidseits fest. Die Ursache dafür liegt in der beidseitigen Schultergelenksarthrose und dem Zittern der Hände. Dadurch benötigt die Klägerin Hilfe für alle Verrichtungen, die den Einsatz von Armen und Händen erfordern. Hierher gehören das Waschen, Kämmen, An- und Auskleiden und nicht bloß zweimal wöchentliches Haare waschen, wie von den Gutachtern der M. angenommen. Mit zu berücksichtigen war auch der fortschreitende körperliche und geistige Aufbrauch sowie eine psychische Fehlhaltung. Demgegenüber ging Dr. H. davon aus, Kraft und Geschicklichkeit von Armen und Händen seien weitgehend erhalten. Nahezu alle Verrichtungen der Körperpflege und der Ernährung könnten ohne Hilfe bewältigt werden. Im Bereich der Mobilität bestehe keine Einschränkung. Der Vergleich der von Dres. W. und H. festgestellten Behinderungen mit denen, die Dr. S. in ihrem Gutachten aufführt, zeigt eine offensichtliche Diskrepanz. Die Abweichungen sind allein schon deshalb erheblich, weil nach der Beurteilung von Dr. S. der zeitliche Hilfebedarf für Pflegestufe I nach § 1 Abs 8a MBPPV 1996 erreicht wird. Er beträgt 58 Minuten gegenüber 15 Minuten, wie von Dr. H. konstatiert.
Der Senat durfte sich auf das vom Sozialgericht eingeholte Gutachten stützen. Die gegenteilige Meinung der Beklagten, dass nur bei offensichtlicher Unrichtigkeit ein Gutachten durch das Gericht eingeholt werden dürfe, ist zwar zutreffend. Dies folgt aus § 64 Abs. 1 Satz 1 VVG a. F. Danach sind Versicherer und Versicherungsnehmer an die Feststellungen des ärztlichen Sachverständigen zu den Anspruchsvorrausetzungen und zur Schadenshöhe grundsätzlich gebunden. Die gerichtliche Kontrolle ist insoweit eingeschränkt. Sie setzt erst ein, wenn eine offensichtliche Fehlentscheidung des Sachverständigen vorliegt. Eine derartige offenbare Unrichtigkeit besteht dann, wenn sich die Abweichung von der tatsächlichen Sachlage für einen fachkundigen und unbefangenen Beurteiler bei gewissenhafter Prüfung offen und klar darstellt (Praxiskommentar ZAP zum VVG, 2008, zu § 84 VVG n.F. Rn 16). Offensichtliche Unrichtigkeit bedeutet nicht, dass die Unrichtigkeit einem medizinischen Laien quasi ins Gesicht springen müsste.
Die Klägerin wies von Anfang an auf das Attest ihres behandelnden Arztes Dr. F. hin. Darin war neben den im Gutachten von M. aufgeführten pflegerelevanten Erkrankungen unter anderem eine schwere Depression bescheinigt worden. Es bestand somit für das Gericht die Notwendigkeit, zu überprüfen, ob die Diagnose stimmte und einen entsprechenden Pflegebedarf auslöste. Außerdem führte die Klägerin an, Morbus Bechterew und die Beugekontraktur im rechten Knie schränkten ihre Beweglichkeit erheblich ein, was von M. nicht gesehen worden war. Dem sachkundigen Beurteiler drängt sich auf, dass wesentliche Gesundheitsstörungen, die Einfluss auf den Pflegebedarf haben können, von M. überhaupt nicht festgestellt worden waren. Die von der Klägerin behauptete erhebliche Diskrepanz zwischen dem Gutachten von M. und der wirklichen Sachlage war anders als durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens nicht festzustellen. Damit kann der Senat das Gutachten der Dr. S. verwerten.
Der Senat schließt sich der Beurteilung der Sachverständigen an. Danach besteht ein Pflegebedarf von 58 Minuten im Grundpflegebereich. Die Klägerin ist geh- und stehunfähig und zudem durch weit fortgeschrittenen Morbus Bechterew und einer Bewegungseinschränkung beider Schultern bei den notwendigen täglichen Verrichtungen auf Hilfe angewiesen.
Ob das Gutachten nicht verwertbar gewesen wäre, wenn darin nur eine unerhebliche Abweichung bescheinigt worden wäre, kann dahinstehen.
Der Senat stimmt dem Sozialgericht insoweit zu, dass die Klägerin ab 1. Juli 2004 - ob ein früherer Zeitpunkt in Betracht käme, ist nicht zu prüfen, weil die Klägerin keine Berufung eingelegt hat - Anspruch auf Zahlung von Leistungen nach Pflegestufe I von monatlich 205 EUR hat. Damit ersetzt das Gutachten der Dr. S. das unrichtige Gutachten von M. mit der Folge, dass die Beklagte nunmehr an dieses gebunden ist und zwar solange, wie sie an ein Gutachten von M. gebunden wäre, wenn dieses richtig gewesen wäre, d.h. der Sachlage entsprochen hätte. Die Bindung der Beklagten besteht infolgedessen solange, bis eine Änderung der Verhältnisse eintritt. Erst dann und nicht zu jeder beliebigen Zeit ist sie berechtigt, eine neue Begutachtung durchzuführen und erst dann wäre die Klägerin verpflichtet an einer Untersuchung mitzuwirken (vgl. BSGE 88, 262).
Es kann dahinstehen, ob eine Obliegenheit der Klägerin bestanden hätte, wenn sie während des laufenden gerichtlichen Verfahrens selbst eine Verschlimmerung ihres Pflegezustandes geltend gemacht und sie sich einer von der Beklagten angebotenen Begutachtung entzogen hätte. Ob sie dann einen neuen Antrag hätte stellen und an einer von der Beklagten angebotenen Untersuchung durch M. hätte mitwirken müssen, braucht der Senat nicht zu entscheiden. Einen solchen Antrag hat die Klägerin nicht gestellt. Eine wesentliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustands nach der Untersuchung durch Dr. S. wurde nicht geltend gemacht. Damit kommt es nicht darauf an, ob eine Weigerung der Klägerin, sich durch M. untersuchen zu lassen, eine derartige Obliegenheitsverletzung darstellen würde, die die Beklagte zur Leistungsverweigerung oder Leistungsminderung berechtigen würde.
Der Senat kommt damit zum Ergebnis, dass das Urteil des Sozialgerichts München vom 22. Mai 2006 der Sach- und Rechtslage entspricht. Mit dem Einwand einer angeblichen Obliegenheitsverletzung kann die Beklagte dem Zahlungsanspruch der Klägerin nicht entgegentreten. Ihre Berufung gegen das vorgenannte Urteil war daher zurückzuweisen.
Der Antrag der Klägerin vom 23. September ist als Anschlussberufung aufzufassen, mit der eine zulässige Erweiterung der Klage gem. § 99 Abs. 3 Nr. 3 SGG vorgenommen wurde. Der Antrag ist zulässig und begründet, weil das Elfte Buch des Sozialgesetzbuches zum 1. Juli 2008 durch das Pflegeerweiterungsgesetz geändert wurde. Das Pflegegeld nach Stufe I beträgt ab 1. Juli 2008 monatlich 215 EUR. Dementsprechend wurde der Tarif der Privaten Pflegeversicherung angepasst. Da sich die Beklagte zum geänderten Klageantrag nicht geäußert hat, bestand ein Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin zur entsprechenden Ergänzung des Tenors der sozialgerichtlichen Entscheidung.
Die Kostenfolge beruht auf § 193 SGG.
Es liegen keine Gründe vor, die Revision gem. § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG zuzulassen.
Auf die Anschlussberufung der Klägerin wird die Beklagte in Abänderung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts München vom 22. Mai 2008 verurteilt, ab 1. Juli 2008 Pflegegeld nach Stufe I in Höhe von 215 EUR anstatt 205 EUR monatlich jeweils ab Ersten eines jeden Monats nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz jeweils seit dem Ersten eines Monats zu zahlen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin Leistungen der privaten Pflegeversicherung nach Stufe I zustehen.
Die 1925 geborene Klägerin ist bei der Beklagten, einem privaten Unternehmen der Krankenversicherung, gegen Krankheit und Pflegebedürftigkeit versichert. Sie beantragte am 7. Dezember 2003 Leistungen der Pflegeversicherung. Die Beklagte beauftragte die Gesellschaft für medizinische Gutachten - M. (nachfolgend M.) mit einer Begutachtung im Rahmen eines Hausbesuchs. Dr. W. besuchte die Klägerin am
29. Januar 2004 und kam zum Ergebnis, dass diese keinerlei Hilfe für Grundpflege bedürfe. Auf die Einwände der Klägerin holte die Beklagte ein Obergutachten durch Dr. H. ein. Dieser bewertete den Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege im Gutachten vom
16. Juni 2004 mit 15 Minuten. Die Klägerin könne sich mit ihrem Rollstuhl in der Wohnung selbstständig fortbewegen. Der Gebrauch von Armen und Händen sei nicht eingeschränkt. Lediglich für zweimal wöchentliches Haare waschen und gelegentlich beim Kämmen benötige sie Hilfe. Ein Pflegedienst komme dreimal die Woche. Er versorge die Wundgeschwüre und helfe beim Waschen der Füße. Ansonsten komme die Klägerin alleine zurecht. Hilfe brauche sie vor allem für hauswirtschaftliche Verrichtungen. Die Beklagte blieb bei ihrer ablehnenden Haltung und stützte sich auf die von ihr eingeholten Gutachten. Danach werde die für Pflegestufe I notwendige Hilfe von mehr als 45 Minuten pro Tag bei weitem nicht erreicht.
Am 11.10.2004 erhob die Klägerin beim Sozialgericht München Klage und beantragte, die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. Dezember 2003 Leistungen wegen Pflegebedürftigkeit zu gewähren. Sie leide an den Folgen einer Schenkelhalsfraktur, einem Zustand nach Ulcus cruris, einem Morbus Bechterew, an Depressionen mit psychotischen Symptomen und einer Kniebeugekontraktur. Sie könne sich nur im Rollstuhl innerhalb ihrer Wohnung bewegen. Zeitweilig sei sie örtlich und zeitlich nicht orientiert. Deshalb bedürfe sie der Pflege, die täglich ca. 90 Minuten betrage. Sie werde durch einen ambulanten Pflegedienst versorgt.
Das Sozialgericht beauftragte Dr. S. mit der Erstattung eines Gutachtens. Im Gutachten vom 5. August 2005 kam die Sachverständige zum Ergebnis, die Klägerin sei geh- und stehunfähig nach Schenkelhalsbruch im September 2003. Sie leide an Morbus Bechterew in weit fortgeschrittenem Stadium. Es bestünden eine Bewegungseinschränkung beider Schultern besonders links, ein Ulcus Cruris an beiden Füßen, ein körperlicher und geistiger Aufbrauch und eine schwere Depression. Der Gebrauch beider Arme sei infolge der Schultergelenksarthrose eingeschränkt. Hinzu komme ein ausgeprägtes Zittern der Hände. Hilfe werde nicht nur für das Waschen das Unterkörpers sondern auch des Oberkörpers benötigt. Psychopathologische Symtome, wie fehlende Krankheitseinsicht, führten zu einem Pflegedefizit. Die Sachverständige hielt Hilfe für Körperpflege von 29 Minuten, für Ernährung von 7 Minuten und Mobilität von 22 Minuten, und damit insgesamt Hilfe für Verrichtungen der Grundpflege im Umfang von 58 Minuten sowie für hauswirtschaftliche Versorgung von 45 Minuten für nötig. In diesem Ausmaß habe, dem Attest des behandelnden Arztes Dr. F. zufolge, Pflegebedarf bereits seit Juli 2004 bestanden.
Die Beklagte wandte ein, das Sozialgericht hätte kein Gutachten einholen dürfen. Dies sei nur zulässig, wenn die von ihr eingeholten Gutachten " offensichtlich fehlerhaft " wären, was nicht der Fall sei. Es werde zwar für möglich gehalten, dass sich die Pflegesituation seit der letzten Begutachtung durch M. verschlechtert habe. Die früheren Gutachten seien damit nicht offensichtlich unrichtig geworden. Es habe sich lediglich die Pflegesituation geändert. Das Gutachten der Dr. S. sei zudem nicht schlüssig, so weit bereits für das Jahr 2004 ein Hilfebedarf im selben Umfang wie zur Zeit der Begutachtung im August 2005 bestanden haben solle. Die Sachverständige beschreibe nur den Ist-Zustand und eindeutige Veränderungen des Gesundheitszustandes im Verlauf des Jahres 2004. Die Beklagte habe von diesen Veränderungen erstmals im Gutachten vom 5. August 2005 erfahren. Entgegenkommender Weise sehe sie dies als Neuantrag an und biete eine entsprechende Überprüfung und Begutachtung an.
Die Klägerin erklärte hierzu am 8. Dezember 2005, sie halte die Rechtsmeinung der Beklagten, die von ihr eingeholten Gutachten könnten nur auf offensichtliche Unrichtigkeit überprüft werden, für falsch. Zum Angebot auf Überprüfung und Begutachtung äußerte sie sich nicht.
Im Schreiben vom 21. Februar 2006 bzw. 22. Februar 2006 änderte die Klägerin ihren Klageantrag dahin, die Beklagte zu verurteilen, an sie seit 1. Juli 2004, dem Gutachten der Dr. S. entsprechend, zu jedem ersten eines Monats 205 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozent über dem jeweiligen Basiszinssatz zu zahlen. Hilfsweise hielt sie ihren ursprünglichen Antrag aufrecht.
Nach Anhörung verurteilte das Sozialgericht die Beklagte mit Gerichtsbescheid vom
22. Mai 2006, der Klägerin ab 1. Juli 2004 Pflegegeld der Pflegestufe I in Höhe von 205 EUR monatlich nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozent über dem jeweiligen Basiszinssatz jeweils seit dem ersten eines Monats aus jeweils 205 EUR monatlich zu zahlen und die Kosten zu erstatten. Grundlage der Entscheidung sei das Gutachten von Dr. S ... Danach seien die Voraussetzungen für Pflegestufe I im Verlaufe des Jahres 2004 und damit entgegen dem Gutachten der M. vom 16. Juni 2004 eingetreten. Bereits damals hätten eine erhebliche Depression und eine psychotische Grundhaltung bestanden, daneben die seit Antragstellung bekannten überwiegend körperlichen Behinderungen.
Dagegen legte die Beklagte Berufung ein. Es handle sich um ein unzulässiges Feststellungsurteil. Das Sozialgericht habe mit keinem Wort festgestellt, dass die im Jahr 2004 von ihr eingeholten ärztlichen Schiedsgutachten "ersichtlich fehlerhaft " gewesen seien. Es reiche nicht aus, die Ergebnisse eines vom Gericht eingeholten Gutachtens heranzuziehen und festzustellen, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe I vorliegen. Vielmehr hätte das Sozialgericht im Einzelnen prüfen müssen, ob eine Fehlerhaftigkeit vorgelegen habe und sich diese einem sachkundigen Beobachter hätte aufdrängen müssen. Wenn erst ab 1. Juli 2004 die Voraussetzungen für Pflegestufe I erfüllt gewesen seien, wovon das Sozialgericht ausgegangen sei, hätte die Klägerin erst einen neuen Antrag stellen und das Überprüfungs- und Begutachtungsverfahren, für das die Beklagte und nicht das Gericht zuständig sei, abwarten müssen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) müsse in einem derartigen Fall das Gericht den Versicherer hinweisen, dass eine neue Begutachtung notwendig sei. Die Beklagte habe darüber hinaus am 18. Oktober 2005 freiwillig eine Begutachtung angeboten. Die Tochter der Klägerin habe dies nach Mitteilung der beauftragten Gutachterin Dr. S. abgelehnt. Auf die Folgen der verweigerten Begutachtung sei die Klägerin am 14. Dezember 2005 hingewiesen worden. Da sich die Beklagte, nicht aber die Klägerin vertragsgemäß verhalten habe, bestünden keine Leistungsansprüche.
Die Klägerin ließ vortragen, von dem angeblichen Gutachtensauftrag vom 18. Oktober 2005 nichts erfahren zu haben. Die Beklagte hätte in Schriftform darauf hinweisen müssen, dass die Begutachtung unabhängig vom vorliegenden Rechtsstreit erfolge.
Die Beklagte bezog sich erneut auf ihr Recht auf Leistungsverweigerung bzw. Leistungskürzung bei Verletzung vertraglicher Obliegenheiten des Versicherungsnehmers. Um einen solchen Fall handle es sich hier. Außerdem bleibe sie dabei, dass das in erster Instanz erstellte Gutachten gar nicht hätte eingeholt werden dürfen. Eine offensichtliche Fehlerhaftigkeit der Gutachten der M. habe nicht bestanden und sei von Dr. S. auch nicht festgestellt worden. Hierzu hätte es des Nachweises bedurft, dass bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung (gemeint Dez. 2003) die Voraussetzungen für Pflegestufe I vorgelegen hätten und nicht erst später.
Die Beklagte beantragt,
auf ihre Berufung das Urteil des Sozialgerichts München vom 22. Mai 2006
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München
vom 22. Mai 2006 zurückzuweisen.
Mit Schreiben vom 23. September 2008 erweitert sie ihre Klage dahin,
die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. Juli 2008 Pflegegeld in Höhe
von 215 EUR monatlich nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozent über dem
jeweiligen Basiszinssatz jeweils seit dem Ersten eines jeden Monats zu
zahlen.
Durch das Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vom 28. Mai 2008) sei das Pflegegeld mit Wirkung zum 1. Juli 2008 auf monatlich 215 EUR heraufgesetzt worden.
Die Beklagte hat sich hierzu nicht geäußert.
Im Übrigen wird gem. § 136 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf den Inhalt der beigezogenen Akten sowie den Schriftwechsel in erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), sie ist jedoch nicht begründet.
Zutreffend hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 1. Juli 2004 Pflegegeld nach Stufe I in Höhe von monatlich 205 EUR nebst Zinsen zu zahlen.
Richtige Klageart ist die allgemeine Leistungsklage, da die Beklagte als Versicherer der privaten Pflegeversicherung zur Feststellung ihrer Leistungspflicht keine Verwaltungsakte erlassen kann. Dass es sich um einen - unzulässigen - Feststellungsantrag handeln solle, vermag der Senat nicht zu erkennen. Die Klage ist auf Zahlung von Pflegegeld und zwar als Dauerleistung gerichtet. Richtige Klageart ist hierfür die allgemeine Leistungsklage (BSG vom 13.05.2004 - B 3 P 7/03 R Rn 34 u. 35). Die Klage ist fristgemäß am
11. Oktober 2004 und damit vor Ablauf von sechs Monaten nach dem ablehnenden Schreiben vom 25. Juni 2004 entsprechend der vertraglichen Vereinbarungen in § 12 Abs. 3 Versicherungsvertragsgesetz (VVG a.F.) und § 17 Abs. 1 der Musterbedingungen der privaten Pflegeversicherung (MB PPV 1996) erhoben worden.
Die Klägerin hat einen vertraglichen Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung in Höhe von monatlich 205 EUR ab 01.07.2004 gem. § 178b Abs. 4 VVG a.F. i.V.m. §§ 1 f MB PPV 1996.
Entgegen der Meinung der Beklagten konnte das Sozialgericht Veränderungen des maßgeblichen Lebenssachverhalts nach der Antragstellung im Dezember 2003 und nach der ablehnenden Entscheidung vom 25. Juni 2004 berücksichtigen. Dies hat das BSG bereits mehrfach entschieden (BSG a.a.O. und Urteil vom 22. Juli 2004 - B 3 P 6/03 R). Der Antrag des Versicherungsnehmers ist demnach durch die ablehnende Entscheidung des Versicherers weder erloschen noch endgültig erledigt. Er besteht fort. Spätere Änderungen der Sachlage, wie hier die Änderung des Gesundheitszustands, sind bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung zu berücksichtigen. Dies gilt auch dann, wenn ein dem Privatrecht unterliegender Anspruch zu prüfen ist und sich ergibt, dass die Entscheidung des privaten Versicherungsunternehmens zum Zeitpunkt der endgültigen Leistungsablehnung zutreffend gewesen und der Anspruch erst später infolge Änderung der Sachlage entstanden ist.
Die Klägerin hat ab 1. Juli 2004 Anspruch auf Zahlung von Pflegegeld nach Pflegestufe I. Der Senat schließt sich dem Gutachten der Dr. S. an. Danach haben jedenfalls ab
1. Juli 2004 die Voraussetzungen für Leistungen nach der Pflegestufe I vorgelegen. Nach den Feststellungen der Sachverständigen benötigte die Klägerin ab diesem Zeitpunkt im Bereich der Grundpflege Hilfe im Umfang von 58 Minuten. Anders als Dres. W. und H. stellte die Sachverständige eine erhebliche Einschränkung im Gebrauch der oberen Extremitäten beidseits fest. Die Ursache dafür liegt in der beidseitigen Schultergelenksarthrose und dem Zittern der Hände. Dadurch benötigt die Klägerin Hilfe für alle Verrichtungen, die den Einsatz von Armen und Händen erfordern. Hierher gehören das Waschen, Kämmen, An- und Auskleiden und nicht bloß zweimal wöchentliches Haare waschen, wie von den Gutachtern der M. angenommen. Mit zu berücksichtigen war auch der fortschreitende körperliche und geistige Aufbrauch sowie eine psychische Fehlhaltung. Demgegenüber ging Dr. H. davon aus, Kraft und Geschicklichkeit von Armen und Händen seien weitgehend erhalten. Nahezu alle Verrichtungen der Körperpflege und der Ernährung könnten ohne Hilfe bewältigt werden. Im Bereich der Mobilität bestehe keine Einschränkung. Der Vergleich der von Dres. W. und H. festgestellten Behinderungen mit denen, die Dr. S. in ihrem Gutachten aufführt, zeigt eine offensichtliche Diskrepanz. Die Abweichungen sind allein schon deshalb erheblich, weil nach der Beurteilung von Dr. S. der zeitliche Hilfebedarf für Pflegestufe I nach § 1 Abs 8a MBPPV 1996 erreicht wird. Er beträgt 58 Minuten gegenüber 15 Minuten, wie von Dr. H. konstatiert.
Der Senat durfte sich auf das vom Sozialgericht eingeholte Gutachten stützen. Die gegenteilige Meinung der Beklagten, dass nur bei offensichtlicher Unrichtigkeit ein Gutachten durch das Gericht eingeholt werden dürfe, ist zwar zutreffend. Dies folgt aus § 64 Abs. 1 Satz 1 VVG a. F. Danach sind Versicherer und Versicherungsnehmer an die Feststellungen des ärztlichen Sachverständigen zu den Anspruchsvorrausetzungen und zur Schadenshöhe grundsätzlich gebunden. Die gerichtliche Kontrolle ist insoweit eingeschränkt. Sie setzt erst ein, wenn eine offensichtliche Fehlentscheidung des Sachverständigen vorliegt. Eine derartige offenbare Unrichtigkeit besteht dann, wenn sich die Abweichung von der tatsächlichen Sachlage für einen fachkundigen und unbefangenen Beurteiler bei gewissenhafter Prüfung offen und klar darstellt (Praxiskommentar ZAP zum VVG, 2008, zu § 84 VVG n.F. Rn 16). Offensichtliche Unrichtigkeit bedeutet nicht, dass die Unrichtigkeit einem medizinischen Laien quasi ins Gesicht springen müsste.
Die Klägerin wies von Anfang an auf das Attest ihres behandelnden Arztes Dr. F. hin. Darin war neben den im Gutachten von M. aufgeführten pflegerelevanten Erkrankungen unter anderem eine schwere Depression bescheinigt worden. Es bestand somit für das Gericht die Notwendigkeit, zu überprüfen, ob die Diagnose stimmte und einen entsprechenden Pflegebedarf auslöste. Außerdem führte die Klägerin an, Morbus Bechterew und die Beugekontraktur im rechten Knie schränkten ihre Beweglichkeit erheblich ein, was von M. nicht gesehen worden war. Dem sachkundigen Beurteiler drängt sich auf, dass wesentliche Gesundheitsstörungen, die Einfluss auf den Pflegebedarf haben können, von M. überhaupt nicht festgestellt worden waren. Die von der Klägerin behauptete erhebliche Diskrepanz zwischen dem Gutachten von M. und der wirklichen Sachlage war anders als durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens nicht festzustellen. Damit kann der Senat das Gutachten der Dr. S. verwerten.
Der Senat schließt sich der Beurteilung der Sachverständigen an. Danach besteht ein Pflegebedarf von 58 Minuten im Grundpflegebereich. Die Klägerin ist geh- und stehunfähig und zudem durch weit fortgeschrittenen Morbus Bechterew und einer Bewegungseinschränkung beider Schultern bei den notwendigen täglichen Verrichtungen auf Hilfe angewiesen.
Ob das Gutachten nicht verwertbar gewesen wäre, wenn darin nur eine unerhebliche Abweichung bescheinigt worden wäre, kann dahinstehen.
Der Senat stimmt dem Sozialgericht insoweit zu, dass die Klägerin ab 1. Juli 2004 - ob ein früherer Zeitpunkt in Betracht käme, ist nicht zu prüfen, weil die Klägerin keine Berufung eingelegt hat - Anspruch auf Zahlung von Leistungen nach Pflegestufe I von monatlich 205 EUR hat. Damit ersetzt das Gutachten der Dr. S. das unrichtige Gutachten von M. mit der Folge, dass die Beklagte nunmehr an dieses gebunden ist und zwar solange, wie sie an ein Gutachten von M. gebunden wäre, wenn dieses richtig gewesen wäre, d.h. der Sachlage entsprochen hätte. Die Bindung der Beklagten besteht infolgedessen solange, bis eine Änderung der Verhältnisse eintritt. Erst dann und nicht zu jeder beliebigen Zeit ist sie berechtigt, eine neue Begutachtung durchzuführen und erst dann wäre die Klägerin verpflichtet an einer Untersuchung mitzuwirken (vgl. BSGE 88, 262).
Es kann dahinstehen, ob eine Obliegenheit der Klägerin bestanden hätte, wenn sie während des laufenden gerichtlichen Verfahrens selbst eine Verschlimmerung ihres Pflegezustandes geltend gemacht und sie sich einer von der Beklagten angebotenen Begutachtung entzogen hätte. Ob sie dann einen neuen Antrag hätte stellen und an einer von der Beklagten angebotenen Untersuchung durch M. hätte mitwirken müssen, braucht der Senat nicht zu entscheiden. Einen solchen Antrag hat die Klägerin nicht gestellt. Eine wesentliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustands nach der Untersuchung durch Dr. S. wurde nicht geltend gemacht. Damit kommt es nicht darauf an, ob eine Weigerung der Klägerin, sich durch M. untersuchen zu lassen, eine derartige Obliegenheitsverletzung darstellen würde, die die Beklagte zur Leistungsverweigerung oder Leistungsminderung berechtigen würde.
Der Senat kommt damit zum Ergebnis, dass das Urteil des Sozialgerichts München vom 22. Mai 2006 der Sach- und Rechtslage entspricht. Mit dem Einwand einer angeblichen Obliegenheitsverletzung kann die Beklagte dem Zahlungsanspruch der Klägerin nicht entgegentreten. Ihre Berufung gegen das vorgenannte Urteil war daher zurückzuweisen.
Der Antrag der Klägerin vom 23. September ist als Anschlussberufung aufzufassen, mit der eine zulässige Erweiterung der Klage gem. § 99 Abs. 3 Nr. 3 SGG vorgenommen wurde. Der Antrag ist zulässig und begründet, weil das Elfte Buch des Sozialgesetzbuches zum 1. Juli 2008 durch das Pflegeerweiterungsgesetz geändert wurde. Das Pflegegeld nach Stufe I beträgt ab 1. Juli 2008 monatlich 215 EUR. Dementsprechend wurde der Tarif der Privaten Pflegeversicherung angepasst. Da sich die Beklagte zum geänderten Klageantrag nicht geäußert hat, bestand ein Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin zur entsprechenden Ergänzung des Tenors der sozialgerichtlichen Entscheidung.
Die Kostenfolge beruht auf § 193 SGG.
Es liegen keine Gründe vor, die Revision gem. § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG zuzulassen.
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