L 4 V 134/73

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 V 134/73
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Auch Schwerbeschädigten, die wegen Ereichens der Altersgrenze, also nicht vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheiden, steht Berufsschadensausgleich zu, wenn ihr Renteneinkommen aus Schädigungsgründen geringer ist als das auf 75 % herabgesetzte Durchschnittseinkommen der Berufsgruppe, der sie ohne die Schädigung angehört hätten (Fortsetzung der Rechtsprechung des BSG Urteil vom 17. Oktober 1974 – 9/8 RV 593/72).
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 23. Januar 1973 dahin abgeändert, daß bei der Berechnung des Vergleichseinkommens 75 % des Durchschnittseinkommens der Arbeitsgruppe Vollgeselle im Malerhandwerk zugrunde gelegt wird. Die darüber hinausgehende Klage wird abgewiesen.

Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger 2/3 der durch die zweckentsprechende Rechtsverfolgung entstandenen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der 72-jährige Kläger erlernte nach dem Volksschulbesuch das Malerhandwerk, legte die Gesellenprüfung und 1927 die Meisterprüfung ab. Er arbeitete ab 1922 in unselbständiger Stellung und danach auch als Meister weiter bei der Firma S. in B. Am 10. April 1945 wurde er durch Granatsplitter am rechten Bein verwundet, weshalb es amputiert werden mußte. Der Beklagte gewährte ihm aufgrund des Umanerkennungsbescheides vom 19. Mai 1952 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. wegen Verlustes des rechten Beines im mittleren Unterschenkeldrittel. Seit 1949 war er selbständiger Malermeister. Ab 1. Juni 1949 bis 31. Dezember 1954, also innerhalb von 5 1/2 Jahren, führte er 44 Monatsbeiträge der Klasse 4 und 16 der Klasse 5 zur Handwerker-Versicherung ab 1955 und 1956 leistete er je 12 Pflichtbeiträge Klasse 7 und einen freiwilligen Beitrag Klasse 11. Fünf Jahre danach zahlte er keine Beiträge aufgrund Artikel 2 § 52 Abs. 3 Angestelltenversicherungsneuregelungsgesetz (AnVNG). Erst 1965 führte er weitere 3 freiwillige Beiträge Klasse 11, 1964 4 freiwillige Beiträge Klasse 11, 1965 4 freiwillige Beiträge Klasse 11, 1966 3 freiwillige Beiträge Klasse 11 und 1967 2 freiwillige Beiträge Klasse 11 ab. Die Landesversicherungsanstalt H. gewährte ihm ab 1. November 1967 Altersruhegeld von damals 296,80 DM monatlich.

Der Kläger beantragte am 14. Oktober 1969 die Gewährung von Berufsschadensausgleich mit der Begründung, daß er bei Fortsetzung seiner Tätigkeit als Malergeselle ein Mehrfaches seiner jetzigen Rente erhalten würde.

Der Beklagte gewährte dem Kläger durch Bescheid vom 27. November 1970 Rente wegen einer MdE um 60 v.H. ab 1. Februar 1965.

Den Antrag auf Gewährung von Berufsschadensausgleich lehnte er mit Bescheid vom 13. Juli 1971 mit der Begründung ab, daß ein schädigungsbedingter Einkommensverlust nicht festgestellt werden könne. Er habe den Antrag auf Berufsschadensausgleich erst nach Vollendung des 65. Lebensjahres gestellt. Nach diesem Zeitpunkt müsse aber angenommen werden, daß er keine auf Erwerb gerichtete Arbeit wegen seines Alters mehr verrichtet habe.

Der Widerspruch hiergegen blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 30. August 1971).

Auf seine Klage hob das Sozialgericht Kassel mit Urteil vom 23. Januar 1973 die Bescheide des Beklagten vom 13. Juli 1971 und vom 30. August 1971 auf und verurteilte ihn, dem Kläger ab 1. September 1969 einen Berufsschadensausgleich nach einem Vergleichseinkommen von 75 % des Endgrundgehaltes der Besoldungsgruppe A 9 Bundesbesoldungsgesetz zu zahlen. Ihm stehe deshalb ab 1. September 1969 ein Berufsschadensausgleich zu, weil er durch die Schädigungsfolgen einen Einkommensverlust habe. Der wirtschaftliche Schaden bestehe in der geringen Altersversorgung des Klägers. Nach der Überzeugung des Gerichtes sei die anerkannte Schädigungsfolge eine wesentliche Bedingung für die geringe Altersversorgung. Es müsse davon ausgegangen werden, daß der Kläger seinen Beruf als Malermeister nur im beschränkten Umfang habe ausführen können und demzufolge nur ein geringes Einkommen erzielt habe. Dies habe ihn daran gehindert, höhere Beiträge zur Rentenversicherung zu zahlen. Die Tatsache, daß es am Wohnort des Klägers weitere 5 selbständige Malermeister gebe, stehe der Annahme eines schädigungsbedingten Einkommensverlustes nicht entgegen, da davon ausgegangen werden könne, daß im Malerhandwerk wegen der herrschenden Baukonjunktur großer Bedarf an Malern bestehe, die auch höhere Einkünfte erzielten.

Gegen dieses dem Beklagten am 2. Februar 1973 zugestellte Urteil legte er am 7. Februar 1973 Berufung ein. Das Sozialgericht habe ihn zu Unrecht verurteilt, dem Kläger Berufsschadensausgleich nach einem Vergleichseinkommen von 75 % des Endgrundgehaltes der Besoldungsgruppe A 9 Bundesbesoldungsgesetz zu zahlen. Die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils hätten auf die Behauptung des Klägers einen Einkommensverlust unterstellt. Die Steuerbescheide seien für einen Einkommensverlust unbeachtlich, da sich allein aufgrund dieser Unterlagen kein Einkommensverlust bei einem selbständigen Malermeister feststellen lasse. Dessen Einkommen sei nämlich von den verschiedensten schädigungsunabhängigen Umständen abhängig. Da ein wirtschaftlicher Schaden durch die Schädigungsfolgen nicht festgestellt werden könne, habe das Sozialgericht zu Unrecht den Beklagten verurteilt.

Der Beklagte beantragte,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 23. Januar 1973 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragte,
die Berufung zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, daß das Urteil des Sozialgerichts Kassel zutreffend sei.

Der Senat zog die Akten der Landesversicherungsanstalt H. bei, aus denen sich ergibt, daß der Kläger nach Vollendung des 65. Lebensjahres Altersruhegeld erhielt. G. H. H., E. und E. Ho., E., teilten mit, daß der Kläger sich bei ihnen nach dem Krieg als Maler angeboten habe. Sie hätten ihn wegen der Kriegsbeschädigung nicht genommen. Herr Ho. begründete die Nichteinstellung mit der erhöhten Unfallgefahr des Klägers. K. M., E. und H. M., R., bestätigten, daß sich der Kläger bei ihren Vätern um Arbeit als Maler bemüht habe.

Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Behörden- und Gerichtsakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden. Sie ist statthaft, denn es stehen ihr keine Berufungsausschließungsgründe entgegen.

Die Berufung ist teilweise begründet. Das Sozialgericht ist zu Unrecht davon ausgegangen, daß der Kläger den Beruf eines Malermeisters angestrebt und in diesem Beruf wegen der Schädigungsfolgen einen Einkommensverlust erlitten habe. Für die Frage, in welcher Weise der Einkommensverlust eines Beschädigten zu berechnen ist und in welche vergleichbare Berufs- oder Wirtschaftsgruppe er deshalb eingestuft werden muß, ist der vom Beschädigten begonnene oder geplante Berufsweg vor der Schädigung nachzuzeichnen. Das Sozialgericht geht dabei ohne Berücksichtigung des eigenen Vortrages des Klägers und seines Berufsweges davon aus, daß er ohne Schädigung den Beruf eines selbständigen Malermeisters angestrebt hätte. Abgesehen davon, daß das Sozialgericht nicht hätte mit Unterstellungen zu seinen Feststellungen kommen dürfen (BSG im Urteil vom 26.1.1972 – 10 RV 216/70 –), treffen sie im Endergebnis auch nicht zu. Zwar hat der Kläger diese Berufsstellung erreicht und kann auch beim Verbleib in einem früher ausgeübten oder angestrebten Beruf Berufsschadensausgleich gewährt werden, wenn der Beschädigte aus Schädigungsgründen ein geringeres Einkommen erzielen würde (so auch Urteil des Bundessozialgerichtes vom 23. Juli 1970 – 8 RV 50/70). Indessen hat die Überprüfung des Berufsweges des Klägers ergeben, daß er eine selbständige Tätigkeit als Malermeister vor der Schädigung gar nicht angestrebt hat. Nach den Ermittlungen war er schon seit 1922 bei der Firma S. in B. zunächst als Malergeselle, nach Ablegung der Meisterprüfung als Vorarbeiter tätig gewesen. Damit hatte sich abgezeichnet, daß er auch bei gesunder Rückkehr seine dortige Tätigkeit wieder aufgenommen hätte. Dieses Verhalten entspricht auch einem Erfahrungssatz, den der erkennende Senat in seinem Urteil vom 13. Juli 1971 – L-4/V-866/70 – abgedruckt in Breithaupt 1972 S. 689 – festgestellt hat. Wie sich aus den schriftlichen Auskünften von G. H. H. und E. Ho. ergibt, hat sich der Kläger auch entsprechend nach dem Kriege, allerdings vergeblich, um Einstellung bei diesen Malerbetrieben als Maler beworben. Insbesondere hat ihn Herr Ho. wegen der durch die Amputation vorhandenen erhöhten Unfallgefahr nicht eingestellt. K. M., E. und H. M., R., konnten bestätigen, daß die Arbeitsersuchen des Klägers von ihren Vätern wegen der Kriegsverletzung abgelehnt worden seien.

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, daß der Kläger aus Schädigungsgründen eine abhängige Tätigkeit nicht mehr leisten konnte. Als angestrebter Beruf ist deshalb hier die Tätigkeit als Vollgeselle im Malerhandwerk anzusehen und hieraus das Durchschnittseinkommen gemäß § 30 Abs. 4 Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu entnehmen. Zur Feststellung eines Einkommensverlustes ist nach herrschender Auffassung (so u.a. Bundessozialgericht Band 33 S. 60) dem tatsächlichen Einkommen dieses Durchschnittseinkommen gegenüberzustellen. Allerdings ist als solches tatsächliches Einkommen nicht nur das Einkommen aus Erwerbstätigkeit, sondern auch das Renteneinkommen anzusehen. Der entgegenstehenden Entscheidung des Bundessozialgerichtes vom 9. Mai 1972 (8 RV 715/71) konnte sich der Senat nicht anschließen. Aus dem Wortlaut des § 30 Abs. 3 und 4 BVG ergibt sich, daß auch das Einkommen aus früherer Tätigkeit dem Durchschnittseinkommen gegenüberzustellen ist. Gerade die große Anzahl der Rentner, die früher eine Tätigkeit ausgeübt haben und nunmehr aufgrund dieser früheren Tätigkeit eine Rente, z.B. aus der Sozialversicherung, erhalten, sollen vom Erhalt von Berufsschadensausgleich nicht ausgeschlossen sein (so auch Bundessozialgericht, Entscheidung vom 16. Oktober 1974 – 10 RV 615/73 –). Diese Gesichtspunkte gelten nach Auffassung des erkennenden Senates aber nicht nur dann, wenn der Beschädigte aus Nichtschädigungsgründen vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheidet, sondern auch dann, wenn er wegen Erreichens des 65. Lebensjahres mit Erhalt von Altersruhegeld den Beruf aufgibt. Damit ist mit der Aufgabe des Berufes wegen Erreichens der Altersgrenze die Geltendmachung von Berufsschadensausgleich nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Es ist jedoch erforderlich, daß ein schädigungsbedingter Einkommensverlust festgestellt wird (so auch Urteil BSG vom 15. Dezember 1970 – 10 RV 780/69).

Das dem Renteneinkommen gegenüberzustellende Durchschnittseinkommen ist allerdings gemäß § 3 Abs. 6 a.F. bzw. § 8 Verordnung zur Durchführung des § 30 Abs. 3 und 4 BVG auf 75 v.H. herabzusetzen, da der Kläger in der Zeit, für die er Berufsschadensausgleich begehrt, bereits das 65. Lebensjahr vollendet hatte. Angesichts der geringen Höhe seines Altersruhegeldes besteht beim Kläger also ein schädigungsbedingter Einkommensverlust. Ihm ist daher Berufsschadensausgleich unter Zugrundelegung von 75 v.H. des Durchschnittseinkommens der Arbeitergruppe Vollgeselle im Malerhandwerk zu gewähren.

Da der Beklagte mit Berufung nur teilweise Erfolg hatte, sind dem Kläger 2/3 der durch die zweckentsprechende Rechtsverfolgung entstandenen Kosten zu erstatten.

Die Revision war deshalb zuzulassen, weil die Anwendung der vom Bundessozialgericht aufgestellten Auslegungsgrundsätze auf Altersrentner eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung betrifft.
Rechtskraft
Aus
Saved