L 25 B 1969/08 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
25
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 114 AS 21176/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 25 B 1969/08 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 5. September 2008 hinsichtlich der Ablehnung des Antrages auf einstweiligen Rechtsschutz aufgehoben. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig für die Zeit ab dem 27. November 2008 bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens für die Dauer von sechs Monaten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich Kosten der Unterkunft und Heizung nach dem Sozialgesetzbuch/Zweites Buch unter Anrechnung der bereits gezahlten Beträge zu zahlen. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller dessen notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens in vollem Umfang zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 5. September 2008 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig. Soweit der Antragsteller mit dieser Beschwerde nunmehr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich Kosten der Unterkunft und Heizung nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) für die Zeit vom 27. November 2008 bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch für die Dauer von sechs Monaten, begehrt, ist dieses Begehren bei sachdienlicher Auslegung seiner Ausführungen auch schon bei Eingang seiner Beschwerde Gegenstand des Verfahrens gewesen, weil es ihm auch schon seinerzeit ersichtlich darum gegangen ist, die beantragten Leistungen – unter dem Vorbehalt des rechtskräftigen Abschlusses des Hauptsacheverfahrens – (jedenfalls) für die Dauer von sechs Monaten zu erlangen, und zwar beginnend ab dem Zeitpunkt, ab dem der Antragsgegner zur Zahlung vorläufiger Leistungen verpflichtet werden würde. Über dieses Begehren hat das Sozialgericht auf der Grundlage des entsprechend auszulegenden Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auch vollumfänglich entschieden.

Die zulässige Beschwerde des Antragstellers erweist sich darüber hinaus auch als begründet. Insoweit bestehen zunächst hinsichtlich der Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 SGG keine Bedenken. Soweit der Antragsgegner in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen hat, dass sich anhand seiner Verwaltungsvorgänge nicht feststellen lasse, dass der Antragsteller gegen den Bescheid vom 19. Juni 2008, mit dem die nunmehr zuerkannten Leistungen abgelehnt worden sind, Widerspruch erhoben habe, führt dieser Einwand zu keinem anderen Ergebnis. Denn abgesehen davon, dass der Antragsteller durch Vorlage seines Widerspruchsschreibens vom 2. Juli 2008 für das vorläufige Rechtsschutzverfahren in ausreichendem Maße dargelegt hat, dass er dem Bescheid vom 19. Juni 2008 rechtzeitig widersprochen habe, ist hier zu berücksichtigen, dass der Antragsgegner die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ohne jede zeitliche Beschränkung bereits früher mit seinem Bescheid vom 13. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. September 2007 abgelehnt hatte. Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller rechtzeitig Klage zum Sozialgericht Berlin erhoben, die dort unter dem Aktenzeichen nach wie vor anhängig ist. Nach § 96 SGG ist der Bescheid vom 19. Juni 2008 Gegenstand dieses Klageverfahrens geworden, weil er den dort ursprünglich allein angefochtenen Bescheid vom 13. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. September 2007 abändert. Der Durchführung eines nochmaligen Widerspruchsverfahrens bedarf es damit hinsichtlich des Bescheides vom 19. Juni 2008 nicht.

Des Weiteren ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auch begründet. Denn der Antragsteller hat hinsichtlich der ihm nunmehr zuerkannten Leistungen sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht (§ 86b Abs. 2 Satz 2 bis 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung).

Unter Beachtung des sich aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) ergebenden Gebots effektiven Rechtsschutzes erweist sich die Sache zunächst als eilbedürftig. Denn dem Antragsteller ist es nicht zuzumuten, eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren abzuwarten. Er verfügt nach Lage der Akten nicht über finanzielle Mittel, die es ihm erlaubten, sich selbst zu helfen, benötigt die begehrten Leistungen jedoch, um seinen laufenden Lebensunterhalt einschließlich der Kosten der Unterkunft und Heizung zu sichern. Dies gilt im Lichte von Art. 19 Abs. 4 GG insbesondere auch für die durch die Zwischenverfügungen des Senats abgedeckten Leistungen für die Zeit vom 27. November 2008 bis zum 30. Januar 2009. Diese Zeit liegt aus heutiger Sicht zwar in der Vergangenheit, so dass an sich eine gegenwärtige Notlage verneint werden müsste. Hierfür ist jedoch im vorliegenden Fall kein Raum, weil sich die Zwischenverfügungen des Senats nur als vorverlagerte Entscheidungen in der Sache selbst darstellen, mit denen aus damaliger Sicht Leistungen zur Deckung eines zukünftigen Bedarfs zuerkannt worden sind, die nunmehr der Bestätigung durch die Entscheidung in der Sache selbst bedürfen.

Darüber hinaus ist im Fall des Antragstellers ein Anordnungsanspruch zu bejahen, der sich entgegen der Auffassung des Antragsgegners auf die Bestimmungen des SGB II stützen lässt. Insoweit geht der Senat nach Lage der Akten insbesondere davon aus, dass der Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Hilfe im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II bedarf. Soweit das Sozialgericht in diesem Zusammenhang gemeint hat, dem Antragsteller als anspruchsvernichtend entgegenhalten zu können, dass er sich nicht in ausreichendem Maße um Arbeit bemühe, ist dieser Ansatz mit Blick auf die in § 31 SGB II geregelten Sanktionsnormen verfehlt. Denn nach dieser Bestimmung kann der Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II im Falle fehlender Arbeitsbemühungen nach einem abgestuften Sanktionssystem nur dann eingeschränkt werden, wenn die zuständige Behörde derartige Bemühungen zuvor angemahnt hat. Hieran fehlt es im vorliegenden Fall.

Darüber hinaus kann dem Antragsteller entgegen der Auffassung des Antragsgegners auch nicht einer der Ausschlusstatbestände entgegengehalten werden, die in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der hier einschlägigen Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 – EURLAsylUmsG – (BGBl. I S. 1970) geregelt sind. Von diesen Ausschlusstatbeständen ist im Fall des Antragstellers letztlich nur der in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II angesprochene Tatbestand von Interesse. Denn § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II ist nicht anwendbar, weil der Antragsteller, der französischer Staatsangehöriger ist und seit dem 1. Dezember 2005 über eine Freizügigkeitsbescheinigung gemäß § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) verfügt, kein Leistungsberechtigter nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes ist. Ferner greift § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II nicht ein, weil die von dieser Vorschrift betroffenen Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbstständige noch auf Grund des § 2 Abs. 3 des FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, (ebenso wie ihre Familienangehörigen) vom Leistungsbezug nur für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland ausgeschlossen sind, um die es hier jedoch für den bereits seit Ende 2005 in Berlin lebenden Antragsteller nicht mehr geht.

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners sind im Fall des Antragstellers aber auch die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht erfüllt. Soweit hiernach Ausländer – und daran anschließend ihre Familienangehörigen – Leistungen dann nicht erhalten können, wenn sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, lässt sich vorliegend nicht feststellen, dass sich der Antragsteller nur deshalb in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten darf, weil er hier Arbeit suchen möchte. Nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU in der hier einschlägigen Fassung des EURLAsylUmsG vom 19. August 2007 wäre der Antragsteller als Unionsbürger zwar gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt und dürfte sich berechtigterweise in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, hielte er sich hier ausschließlich zur Arbeitssuche auf. Nach Lage der Akten ist jedoch davon auszugehen, dass sich sein Aufenthaltsrecht nicht aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ergibt, sondern nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU deshalb besteht, weil er als Unionsbürger zur Ausübung einer selbständigen Tätigkeit berechtigt ist. Denn nach seiner glaubhaften Einlassung in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat sich der Antragsteller Ende 2005 nach Berlin begeben, um hier als selbständiger Grafiker tätig zu sein. Ausweislich der von ihm erstellten Rechnungen ist es ihm im Jahre 2006 auch gelungen, seinen Lebensunterhalt aus seiner Tätigkeit als selbständiger Grafiker zu bestreiten. Denn er hat in diesem Jahr mit seinen gestalterischen Arbeiten Gewinne in Höhe von insgesamt 5.480 EUR erzielt, die er auch zur Einkommensteuer angemeldet hat. Zudem hat er den Auftraggeber für seine ersten grafischen Arbeiten bereits vor seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland gekannt, was den Schluss darauf zulässt, dass er bei seiner Einreise davon ausgehen konnte, von diesem Auftraggeber Aufträge zu erhalten, die zur Sicherung seines Lebensunterhalts ausreichen würden. Dass sich seine Auftragslage schon im Jahre 2006 sowie in den Jahren danach dergestalt verschlechtert hat, dass er erstmals bereits im Februar 2007 beim Antragsgegner um Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nachsuchen musste, ändert aus Sicht des Senats an dem durch selbständige Erwerbstätigkeit begründeten Aufenthaltsrecht nichts. Denn abgesehen davon, dass bis zur Grenze der Bedeutungslosigkeit selbständig erwerbstätig im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU auch derjenige ist, der mit seiner Tätigkeit ein unter dem Existenzminimum liegendes Arbeitseinkommen erzielt, hat der Antragsteller glaubhaft dargelegt, dass er sich nach wie vor um neue Aufträge und weitere Auftraggeber bemüht und u. a. versucht, durch unentgeltliche Mitarbeit bei kulturellen und sozialen Projekten auf sich aufmerksam zu machen.

Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II griffe hier aber auch dann nicht ein, müsste die Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit für die Zeit ab der ersten Antragstellung beim Antragsgegner im Februar 2007 verneint werden. Denn für diesen Fall könnte sich der Antragsteller nach Lage der Akten auf die Schutzvorschrift des § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU stützen, wonach das Freizügigkeitsrecht als selbständig Erwerbstätiger nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 des vorgenannten Gesetzes unberührt bleibt, wenn der Selbständige infolge von Umständen, auf die er keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr seines Tätigseins die selbständige Tätigkeit einstellen musste.

Davon abgesehen, ergibt sich ein Anordnungsanspruch im vorliegenden Fall aber selbst dann, wenn der Antragsteller sein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU allein aus dem Zweck der Arbeitssuche herleiten würde. Für diesen Fall wäre er zwar nach dem Wortlaut von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungsansprüchen nach dem SGB II ausgeschlossen. Problematisch erscheint jedoch, ob diese Vorschrift auf seinen Fall überhaupt angewandt werden darf. Zweifel hieran bestehen im Hinblick darauf, dass die Vorschrift möglicherweise nicht europarechtskonform ist, weil die für sie maßgebliche Ermächtigungsnorm des Art. 24 Abs. 2 i.V.m. Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG des Rates vom 29. April 2004 (ABl. L 158 vom 30. April 2004 S. 77) möglicherweise gegen Art. 12 (Gleichbehandlungsgebot) und Art. 18 (Unionsbürgerschaft) des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften (EGV) verstößt (so z. B. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. Mai 2008 – L 14 B 282/08 AS ER –; a. A. LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 25. November 2008 – L 5 B 801/08 AS ER, L 5 B 1249/08 AS ER und L 5 B 1425/08 AS ER –, jeweils zitiert nach juris). Des Weiteren ließe sich möglicherweise auch schon aus dem von der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich ratifizierten Europäischen Fürsorgeabkommen vom 11. Dezember 1953 (BGBl. 1956 Teil II S. 564) herleiten, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht auf die Staatsangehörigen eines Mitgliedsstaates des Abkommens angewandt werden kann. Die Klärung dieser Rechtsfragen kann jedoch angesichts ihrer Schwierigkeit und Komplexität nicht in dem hier vorliegenden vorläufigen Rechtsschutzverfahren erfolgen, sondern muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben, in dem die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegebenenfalls gemäß Art. 234 EGV dem Europäischen Gerichtshof zur Vor-abentscheidung vorgelegt werden müsste.

Lässt sich jedoch in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren, das Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts betrifft, die Sach- und Rechtslage nicht abschließend beurteilen, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Fall im Lichte des sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Gebots effektiven Rechtsschutzes auf der Grundlage einer Folgenabwägung zu entscheiden, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat und stattdessen die Folgen abzuwägen sind, die eintreten würden, wenn die begehrte Anordnung nicht erginge, der Rechtsschutzsuchende im Hauptsacheverfahren aber obsiegen würde, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die Anordnung erlassen würde, der Rechtsschutzsuchende im Hauptsacheverfahren indes keinen Erfolg hätte (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 –, zitiert nach juris). Diese Folgenabwägung fällt – soweit man den Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II hier überhaupt für einschlägig erachten wollte – im vorliegenden Fall zu Gunsten des Antragstellers aus, weil ihm bei einer Ablehnung seines Antrags existenzielle Nachteile drohen, die er aus eigener Kraft nicht imstande ist von sich abzuwenden. Diesen Nachteilen stehen auf der Seite des Antragsgegners lediglich finanzielle Interessen gegenüber, die sich in einem für ihn überschaubaren Rahmen halten und dementsprechend hinter den dem Antragsteller drohenden Nachteilen zurückzutreten haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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