Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 14 AS 1477/06
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 5 B 401/07 AS
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Gründe:
I.
Die Beklagte wendet sich gegen die Ablehnung ihres Aussetzungsantrags im erstinstanzlichen Klageverfahren durch das Sozialgericht Dessau-Roßlau (SG).
Der Kläger hatte von der Beklagten Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) bezogen. Mit Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 27. Juli 2006 forderte die Beklagte den Kläger auf, überzahlte Leistungen in Höhe von 3.240,- EUR zurückzuzahlen. Dagegen legte der Kläger am 31. Juli 2006 Widerspruch ein. Am 2. November 2006 erhob der Kläger beim SG Untätigkeitsklage und führte aus, die Beklagte habe nach mehr als drei Monaten seinen Widerspruch nicht beschieden, obwohl dafür kein zureichender Grund im Sinne von § 88 Abs. 1 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vorliege.
Dazu erklärte die Beklagte mit Schriftsatz vom 15. Januar 2007 zunächst, sie habe bislang noch nicht entschieden, weil erforderliche Erklärungen und Nachweise vom Kläger noch fehlten. Mit Schreiben vom 6. Juni 2007 wies das SG darauf hin, dass rechtlich tragfähige Gründe für die unterbliebene Bescheidung nicht vorliegen dürften, und empfahl die Abgabe eines Anerkenntnisses. Im Schriftsatz vom 7. August 2007 führte die Beklagte aus, die Abgabe eines Anerkenntnisses komme nicht in Betracht, und beantragte ausdrücklich die Aussetzung des Verfahrens analog § 114 Abs. 1 SGG. Denn es sei beim Bundessozialgericht (BSG) ein Revisionsverfahren zu der Rechtsfrage anhängig, ob der Existenzgründungszuschuss als Einkommen anrechenbar sei. Diese Frage sei noch nicht höchstrichterlich geklärt. Im anhängigen Widerspruchsverfahren komme es auf die Entscheidung dieser Rechtsfrage an.
Dazu hat der Kläger angemerkt, verwaltungsorganisatorische Erwägungen der Beklagten seien unbeachtlich. Es handele sich um eine Untätigkeitsklage.
Mit Beschluss vom 24. September 2007 hat das SG den Aussetzungsantrag der Beklagten abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, die Voraussetzungen des § 114 SGG lägen nicht vor. Zudem gehe die Untätigkeitsklage nach § 88 SGG der Aussetzungsmöglichkeit nach § 114 Abs. 2 S. 2 SGG vor und sei mit dieser nicht zu vereinbaren.
Dagegen hat die Beklagte am 24. Oktober 2007 Beschwerde eingelegt und zur Begründung ausgeführt, Untätigkeitsklage und Aussetzung nach § 114 SGG seien vereinbar. Es sei § 114 Abs. 2 SGG analog anwendbar. Die Aussetzung sei erforderlich wegen der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der Sozialgerichte. In anderen Streitverfahren beim SG seien Klageverfahren wegen anhängiger Revisionsverfahren beim Bundessozialgericht ausgesetzt worden.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 24. September 2007 zu Ziffer 1. aufzuheben und das Klageverfahren analog § 114 Abs. 1 SGG bis zu einer Entscheidung des Bundessozialgerichts in dem Revisionsverfahren B 7b 16/06 R auszusetzen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Gerichtsakte des SG ergänzend Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der Entscheidungsfindung des Senats.
II.
Die Beschwerde ist gemäß § 172 SGG in der bis zum 31. März 2008 geltenden Fassung zulässig. Der angegriffene Beschluss, mit dem die von der Beklagten begehrte Aussetzung des Verfahrens abgelehnt wurde, ist eine beschwerdefähige Entscheidung, denn er stellt weder ein Urteil noch einen Gerichtsbescheid dar. Die Beschwerde ist statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 173 SGG) und auch sonst zulässig.
Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht Dessau-Roßlau hat zu Recht die Aussetzung der Untätigkeitsklage abgelehnt.
Nach § 88 Abs. 1 S. 1, 2 i.V.m. Abs. 2 SGG ist eine Klage zulässig, wenn über ein Widerspruch innerhalb einer Frist von drei Monaten nicht entschieden worden ist. Liegt ein zureichender Grund dafür vor, dass eine Entscheidung über den Widerspruch noch nicht getroffen wurde, so setzt das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer bestimmten Frist aus. Ob ein zureichender Grund vorliegt, muss unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls beurteilt werden, wobei insbesondere die Garantie des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz) zu berücksichtigen ist. Dabei sind einerseits der Anspruch auf die Entscheidung binnen angemessener Frist und andererseits das Recht der Behörde auf Einräumung einer angemessenen Zeit zur Entscheidung abzuwägen (vgl. Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 88 RN 7a, 8). Die Regelung des § 88 Abs. 1 S. 2 SGG ist bei Untätigkeitsklagen lex specialis gegenüber der Aussetzungsmöglichkeit nach § 114 SGG für sozialgerichtliche Streitigkeiten im Allgemeinen (vgl. LSG Niedersachsen, Beschluss v. 01.09.1959, Az. L 11 S 71/59, zitiert nach Juris).
Ein zureichender Grund für die Beklagte, über den Widerspruch des Klägers vom 31. Juli 2006 bis zum 7. August 2007 (Stellung des Aussetzungsantrags) nicht entschieden zu haben, liegt nicht vor. Die Rechtshängigkeit eines Verfahrens beim BSG, bei dem es ebenfalls um die Anrechenbarkeit des Existenzgründungszuschusses als Einkommen im Rahmen der Leistungsgewährung nach dem SGB II geht, ist kein zureichender Grund, über einen Widerspruch im Rahmen einer Untätigkeitsklage nach § 88 Abs. 2 SGG nicht zu entscheiden.
Zwar ist grundsätzlich umstritten, ob das Abwarten des Ausgangs eines Musterprozesses ein zureichender Grund sein kann, über einen Widerspruch nicht zu entscheiden (verneinend: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Juli 2005, Az.: L 13 KN 1757/05 zit. nach Juris; bejahend: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 31. August 2006, Az.: II B 141/05, zu § 46 Finanzgerichtsordnung, zitiert nach Juris). Teilweise wird vertreten, dass es nur dann ein zureichender Grund sein kann, wenn die Beteiligten mit der Verfahrensverzögerung einverstanden sind (vgl. Kopp/Schenke: VwGO, 14. Aufl. 2005, § 75 RN 13; Leitherer, a.a.O., § 88 RN 7b).
Entscheidend ist jedoch nach der Überzeugung des Senats im vorliegenden Verfahren, dass es im Bereich der Leistungsverwaltung nach dem SGB II aufgrund der bisherigen relativ kurzen Geltungsdauer des Regelungssystems, das erst seit dem 1. Januar 2005 in Kraft ist, noch eine Vielzahl von obergerichtlich bislang ungeklärten Rechtsfragen gibt. Würden Klageverfahren und im Wege der Untätigkeitsklage auch Widerspruchsverfahren immer schon dann ausgesetzt, wenn eine Rechtsfrage noch nicht geklärt ist, führte dies dazu, dass die Verwaltung ihre Aufgaben nicht erfüllte. Die Garantie des effektiven Rechtsschutzes liefe in diesem Bereich weitgehend leer. Das Rechtsschutzsystem, nach dem zunächst die Verwaltung entscheidet und dann eine gerichtliche Kontrolle der Verwaltungsentscheidung erfolgt, würde umgekehrt.
Bestandteil der Garantie des effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz ist auch, dass jeder Prozessbeteiligte Anspruch auf eine Entscheidung seines Rechtsstreits hat und nicht an einen fremden Prozess gebunden wird. Dieser Anspruch kann nur durch die in § 114 SGG vorgesehenen Fälle und darüber hinaus – wenn überhaupt – nur dann eine Einschränkung erfahren, wenn dies durch schwerwiegende prozessökonomische Gründe gerechtfertigt erscheint.
Im Rahmen der Untätigkeitsklage nach § 88 SGG sind jedoch die Aussetzungsgründe nach § 114 SGG nicht – auch nicht im Wege der analogen Anwendung – heranzuziehen, denn die zugrunde liegende Verfahrenskonstellation und Interessenlage der Beteiligten sind nicht vergleichbar. Durch die Erhebung der Untätigkeitsklage hat der Rechtsuchende deutlich gemacht, dass er eine baldige Entscheidung seiner Angelegenheit wünscht und eine weitere Verzögerung nicht akzeptieren möchte. Der Umstand, dass bei einer (zeitgerechten) Entscheidung über den Widerspruch des Klägers die Widerspruchsentscheidung der Beklagten nach Vorliegen eines bundessozialgerichtlichen Urteils möglicherweise abzuändern sein könnte, ist demgegenüber kein schwerwiegender prozessökonomischer Grund.
Daher ist dem prozessualen Recht des Rechtsuchenden an einer zeitnahen behördlichen Entscheidung im Rahmen der Abwägung der Vorrang zu geben gegenüber dem Interesse der Verwaltung, von einer Arbeitsbelastung verschont zu bleiben, die (gegebenenfalls) dadurch entstehen kann, dass nach Ergehen der obergerichtlichen Entscheidung eigene Entscheidungen zu korrigieren sind.
Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass das BSG die zwischen den Beteiligten streitige Rechtsfrage mit Urteil vom 6. Dezember 2007 (Az.: B 14/7b AS 16/06 R, FEVS 59, 546) entschieden hat. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats über die Beschwerde liegt daher erst recht kein Grund mehr für die von der Beklagten begehrte Aussetzung des Verfahrens vor. Da Nachfragen des Senats bei der Beklagten und Beschwerdeführerin zur Erledigung der Beschwer unbeantwortet blieben, war in der Sache zu entscheiden und die Beschwerde zurückzuweisen.
Wegen der Einheit der Prozesskostenentscheidung erfolgt im Beschwerdeverfahren keine eigene Kostenentscheidung. Die Kosten dieses Beschwerdeverfahren, das noch kein selbständiger Verfahrensabschnitt, sondern nur ein Zwischenstreit in einem noch anhängigen Rechtsstreit (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 22.08.2006, Az. L 8 AL 2352/06 B, zitiert nach Juris) ist, sind Teil derjenigen Kosten des Rechtsstreits, über die das SG nach § 193 SGG zu entscheiden hat.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Gründe:
I.
Die Beklagte wendet sich gegen die Ablehnung ihres Aussetzungsantrags im erstinstanzlichen Klageverfahren durch das Sozialgericht Dessau-Roßlau (SG).
Der Kläger hatte von der Beklagten Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) bezogen. Mit Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 27. Juli 2006 forderte die Beklagte den Kläger auf, überzahlte Leistungen in Höhe von 3.240,- EUR zurückzuzahlen. Dagegen legte der Kläger am 31. Juli 2006 Widerspruch ein. Am 2. November 2006 erhob der Kläger beim SG Untätigkeitsklage und führte aus, die Beklagte habe nach mehr als drei Monaten seinen Widerspruch nicht beschieden, obwohl dafür kein zureichender Grund im Sinne von § 88 Abs. 1 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vorliege.
Dazu erklärte die Beklagte mit Schriftsatz vom 15. Januar 2007 zunächst, sie habe bislang noch nicht entschieden, weil erforderliche Erklärungen und Nachweise vom Kläger noch fehlten. Mit Schreiben vom 6. Juni 2007 wies das SG darauf hin, dass rechtlich tragfähige Gründe für die unterbliebene Bescheidung nicht vorliegen dürften, und empfahl die Abgabe eines Anerkenntnisses. Im Schriftsatz vom 7. August 2007 führte die Beklagte aus, die Abgabe eines Anerkenntnisses komme nicht in Betracht, und beantragte ausdrücklich die Aussetzung des Verfahrens analog § 114 Abs. 1 SGG. Denn es sei beim Bundessozialgericht (BSG) ein Revisionsverfahren zu der Rechtsfrage anhängig, ob der Existenzgründungszuschuss als Einkommen anrechenbar sei. Diese Frage sei noch nicht höchstrichterlich geklärt. Im anhängigen Widerspruchsverfahren komme es auf die Entscheidung dieser Rechtsfrage an.
Dazu hat der Kläger angemerkt, verwaltungsorganisatorische Erwägungen der Beklagten seien unbeachtlich. Es handele sich um eine Untätigkeitsklage.
Mit Beschluss vom 24. September 2007 hat das SG den Aussetzungsantrag der Beklagten abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, die Voraussetzungen des § 114 SGG lägen nicht vor. Zudem gehe die Untätigkeitsklage nach § 88 SGG der Aussetzungsmöglichkeit nach § 114 Abs. 2 S. 2 SGG vor und sei mit dieser nicht zu vereinbaren.
Dagegen hat die Beklagte am 24. Oktober 2007 Beschwerde eingelegt und zur Begründung ausgeführt, Untätigkeitsklage und Aussetzung nach § 114 SGG seien vereinbar. Es sei § 114 Abs. 2 SGG analog anwendbar. Die Aussetzung sei erforderlich wegen der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der Sozialgerichte. In anderen Streitverfahren beim SG seien Klageverfahren wegen anhängiger Revisionsverfahren beim Bundessozialgericht ausgesetzt worden.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 24. September 2007 zu Ziffer 1. aufzuheben und das Klageverfahren analog § 114 Abs. 1 SGG bis zu einer Entscheidung des Bundessozialgerichts in dem Revisionsverfahren B 7b 16/06 R auszusetzen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Gerichtsakte des SG ergänzend Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der Entscheidungsfindung des Senats.
II.
Die Beschwerde ist gemäß § 172 SGG in der bis zum 31. März 2008 geltenden Fassung zulässig. Der angegriffene Beschluss, mit dem die von der Beklagten begehrte Aussetzung des Verfahrens abgelehnt wurde, ist eine beschwerdefähige Entscheidung, denn er stellt weder ein Urteil noch einen Gerichtsbescheid dar. Die Beschwerde ist statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 173 SGG) und auch sonst zulässig.
Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht Dessau-Roßlau hat zu Recht die Aussetzung der Untätigkeitsklage abgelehnt.
Nach § 88 Abs. 1 S. 1, 2 i.V.m. Abs. 2 SGG ist eine Klage zulässig, wenn über ein Widerspruch innerhalb einer Frist von drei Monaten nicht entschieden worden ist. Liegt ein zureichender Grund dafür vor, dass eine Entscheidung über den Widerspruch noch nicht getroffen wurde, so setzt das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer bestimmten Frist aus. Ob ein zureichender Grund vorliegt, muss unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls beurteilt werden, wobei insbesondere die Garantie des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz) zu berücksichtigen ist. Dabei sind einerseits der Anspruch auf die Entscheidung binnen angemessener Frist und andererseits das Recht der Behörde auf Einräumung einer angemessenen Zeit zur Entscheidung abzuwägen (vgl. Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 88 RN 7a, 8). Die Regelung des § 88 Abs. 1 S. 2 SGG ist bei Untätigkeitsklagen lex specialis gegenüber der Aussetzungsmöglichkeit nach § 114 SGG für sozialgerichtliche Streitigkeiten im Allgemeinen (vgl. LSG Niedersachsen, Beschluss v. 01.09.1959, Az. L 11 S 71/59, zitiert nach Juris).
Ein zureichender Grund für die Beklagte, über den Widerspruch des Klägers vom 31. Juli 2006 bis zum 7. August 2007 (Stellung des Aussetzungsantrags) nicht entschieden zu haben, liegt nicht vor. Die Rechtshängigkeit eines Verfahrens beim BSG, bei dem es ebenfalls um die Anrechenbarkeit des Existenzgründungszuschusses als Einkommen im Rahmen der Leistungsgewährung nach dem SGB II geht, ist kein zureichender Grund, über einen Widerspruch im Rahmen einer Untätigkeitsklage nach § 88 Abs. 2 SGG nicht zu entscheiden.
Zwar ist grundsätzlich umstritten, ob das Abwarten des Ausgangs eines Musterprozesses ein zureichender Grund sein kann, über einen Widerspruch nicht zu entscheiden (verneinend: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Juli 2005, Az.: L 13 KN 1757/05 zit. nach Juris; bejahend: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 31. August 2006, Az.: II B 141/05, zu § 46 Finanzgerichtsordnung, zitiert nach Juris). Teilweise wird vertreten, dass es nur dann ein zureichender Grund sein kann, wenn die Beteiligten mit der Verfahrensverzögerung einverstanden sind (vgl. Kopp/Schenke: VwGO, 14. Aufl. 2005, § 75 RN 13; Leitherer, a.a.O., § 88 RN 7b).
Entscheidend ist jedoch nach der Überzeugung des Senats im vorliegenden Verfahren, dass es im Bereich der Leistungsverwaltung nach dem SGB II aufgrund der bisherigen relativ kurzen Geltungsdauer des Regelungssystems, das erst seit dem 1. Januar 2005 in Kraft ist, noch eine Vielzahl von obergerichtlich bislang ungeklärten Rechtsfragen gibt. Würden Klageverfahren und im Wege der Untätigkeitsklage auch Widerspruchsverfahren immer schon dann ausgesetzt, wenn eine Rechtsfrage noch nicht geklärt ist, führte dies dazu, dass die Verwaltung ihre Aufgaben nicht erfüllte. Die Garantie des effektiven Rechtsschutzes liefe in diesem Bereich weitgehend leer. Das Rechtsschutzsystem, nach dem zunächst die Verwaltung entscheidet und dann eine gerichtliche Kontrolle der Verwaltungsentscheidung erfolgt, würde umgekehrt.
Bestandteil der Garantie des effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz ist auch, dass jeder Prozessbeteiligte Anspruch auf eine Entscheidung seines Rechtsstreits hat und nicht an einen fremden Prozess gebunden wird. Dieser Anspruch kann nur durch die in § 114 SGG vorgesehenen Fälle und darüber hinaus – wenn überhaupt – nur dann eine Einschränkung erfahren, wenn dies durch schwerwiegende prozessökonomische Gründe gerechtfertigt erscheint.
Im Rahmen der Untätigkeitsklage nach § 88 SGG sind jedoch die Aussetzungsgründe nach § 114 SGG nicht – auch nicht im Wege der analogen Anwendung – heranzuziehen, denn die zugrunde liegende Verfahrenskonstellation und Interessenlage der Beteiligten sind nicht vergleichbar. Durch die Erhebung der Untätigkeitsklage hat der Rechtsuchende deutlich gemacht, dass er eine baldige Entscheidung seiner Angelegenheit wünscht und eine weitere Verzögerung nicht akzeptieren möchte. Der Umstand, dass bei einer (zeitgerechten) Entscheidung über den Widerspruch des Klägers die Widerspruchsentscheidung der Beklagten nach Vorliegen eines bundessozialgerichtlichen Urteils möglicherweise abzuändern sein könnte, ist demgegenüber kein schwerwiegender prozessökonomischer Grund.
Daher ist dem prozessualen Recht des Rechtsuchenden an einer zeitnahen behördlichen Entscheidung im Rahmen der Abwägung der Vorrang zu geben gegenüber dem Interesse der Verwaltung, von einer Arbeitsbelastung verschont zu bleiben, die (gegebenenfalls) dadurch entstehen kann, dass nach Ergehen der obergerichtlichen Entscheidung eigene Entscheidungen zu korrigieren sind.
Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass das BSG die zwischen den Beteiligten streitige Rechtsfrage mit Urteil vom 6. Dezember 2007 (Az.: B 14/7b AS 16/06 R, FEVS 59, 546) entschieden hat. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats über die Beschwerde liegt daher erst recht kein Grund mehr für die von der Beklagten begehrte Aussetzung des Verfahrens vor. Da Nachfragen des Senats bei der Beklagten und Beschwerdeführerin zur Erledigung der Beschwer unbeantwortet blieben, war in der Sache zu entscheiden und die Beschwerde zurückzuweisen.
Wegen der Einheit der Prozesskostenentscheidung erfolgt im Beschwerdeverfahren keine eigene Kostenentscheidung. Die Kosten dieses Beschwerdeverfahren, das noch kein selbständiger Verfahrensabschnitt, sondern nur ein Zwischenstreit in einem noch anhängigen Rechtsstreit (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 22.08.2006, Az. L 8 AL 2352/06 B, zitiert nach Juris) ist, sind Teil derjenigen Kosten des Rechtsstreits, über die das SG nach § 193 SGG zu entscheiden hat.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
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