S 20 SO 45/08

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 45/08
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 SO 12/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger 50.740,18 EUR zu zahlen. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte. Der Streitwert wird auf 50.740,18 EUR festgesetzt.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Aufwendungen für die stationäre Betreuung des am 00.00.0000 geborenen T. M. (im Folgenden: Hilfeempfänger) in Einrichtungen in der Zeit vom 01.06.2005 bis 20.11.2006 in Höhe von 50.740,18 EUR.

Bei dem Hilfeempfänger bestehen - jedenfalls seit Juni 2005 - eine dissoziale Persönlichkeitsstörung und eine Intelligenzminderung (Lernbehinderung) mit deutlicher Verhaltensstörung. Er ist als Schwerbehinderter anerkannt nach einem Grad der Behinderung von 70. Sein Intelligenzquotient wurde zwischen 56 und 86 gemessen. Er erhielt seit 1998 vom Kläger als Träger der Jugendhilfe zunächst Leistungen zur Erziehung in verschiedenen Einrichtungen. Ab November 2004 erbrachte der Kläger Hilfe durch Unterbringung und Betreuung in einem Wohnheim für geistig Behinderte und ab März 2005 auch in einer Werkstatt für Behinderte; zuletzt leistete der Kläger Hilfe für junge Volljährige gem. § 41 SGB VIII, befristet bis 20.11.2006 (Bescheid des Klägers vom 19.04.2005).

In der Vergangenheit war es zwischen den Beteiligten wiederholt streitig, wer für die dem Hilfeempfänger zustehenden Leistungen aufzukommen habe. Insbesondere bestand Uneinigkeit darüber, ob beim Hilfeempfänger eine geistige oder eine seelische Behinderung bestand und den Hilfebedarf bedingte. Den in den Verwaltungsakten befindlichen Berichten und Gutachten des Gesundheitsamtes, verschiedener Psychiater und des Alexianer-Krankenhauses Aachen ist zu entnehmen, dass beim Hilfeempfänger durchgehend eine intellektuelle Minderbegabung (Lernbehinderung) sowie eine Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen bestanden und sowohl eine seelische als auch eine geistige Behinderung vorgelegen hat. Anfang 2006 leitete der Kläger im Hinblick auf die zuletzt bekannt gewordenen Berichte über den Hilfeempfänger eine erneute Prüfung seiner Leistungsverpflichtung ein. Im Prüfbericht vom 02.03.2006 kam das Amt für Kinder, Jugend und Familienberatung des Klägers zum Ergebnis, dass beim Hilfeempfänger neben einer seelischen Behinderung jedenfalls auch eine geistige Behinderung bestehe und bestanden habe.

Daraufhin meldete der Kläger mit Schreiben vom 21.06.2006 beim Beklagten einen Erstattungsanspruch hinsichtlich der seit 01.06.2005 erbrachten Leistungen für den Hilfeempfänger an. Er begründete dies damit, die Überprüfung habe ergeben, dass beim Hilfeempfänger eine geistige Behinderung vorliege und vorgelegen habe und das Jugendamt jedenfalls seit Juli 2002 für die Leistungsgewährung nicht mehr zuständig gewesen sei, hiervon jedoch erst Anfang 2006 erfahren habe.

In einer vom Beklagten eingeholten fachlichen Stellungnahme kam dessen medizinischer Prüfdienst am 03.07.2006 zum Ergebnis, eine geistige Behinderung des Hilfeempfängers sei nicht auszuschließen; jedenfalls sei aber eine wesentliche seelische Behinderung gegeben. Diese - nicht die geistige Behinderung - sei Anlass für die Aufnahme in die stationäre Einrichtung gewesen.

Gestützt hierauf lehnte der Beklagte mit Schreiben vom 07.07.2006 den geltend gemachten Erstattungsanspruch ab. Zur Begründung führte er aus, eine vorrangige Zuständigkeit der Sozialhilfe gegenüber der Jugendhilfe bestehe nur dann, wenn wegen der geistigen Behinderung eine Heimunterbringung notwendig gewesen wäre. Wenn jedoch die seelische Behinderung Auslöser für die Heimunterbringung gewesen sei, wie bei dem Hilfeempfänger, sei der Jugendhilfeträger zuständig.

Am 08.05.2008 hat der Kläger Zahlungsklage erhoben. Er hat die in der Zeit vom 01.06.2005 bis 20.11.2006 erbrachten erstattungsfähigen Aufwendungen für den Hilfeempfänger auf 50.740,18 EUR beziffert. Er ist der Auffassung, für die Bestimmung der vorrangigen Leistungsverpflichtung komme es nicht auf den Schwerpunkt des Hilfebedarfes an. Grundsätzlich sei die Sozialhilfe vorrangig, wenn Maßnahmen der Jugendhilfe erforderlich seien und gleichzeitig vom Umfang her identische Leistungen der Sozialhilfe. Die in der Vergangenheit eingeleiteten Unterstützungsmaßnahmen, die unter dem Fokus einer Lernbehinderung ausgewählt worden seien, hätten nicht zum gewünschten Erfolg geführt. Erst die Unterbringung in einer Einrichtung für geistig Behinderte habe eine zielführende Unterstützung leisten können. Im konkreten Fall des Hilfeempfängers hätten sowohl die geistige Behinderung als auch die vorhandenen erzieherischen Defizite eine stationäre Unterbringung erforderlich gemacht.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, ihm 50.740,18 EUR zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er geht nach den über den Hilfeempfänger vorliegenden ärztlichen Berichten davon aus, dass bei diesem eine leichte geistige Behinderung nicht ausgeschlossen werden könne, jedoch zweifelsohne eine wesentliche seelische Behinderung gegeben sei. In keiner der Stellungnahmen und ärztlichen Atteste sei ausgeführt worden, dass wegen der geistigen Beeinträchtigung eine stationäre Unterbringung erforderlich gewesen sei. Selbst wenn die Verhaltensauffälligkeiten des Hilfeempfängers ihre Ursache in der geistigen Behinderung gehabt hätten, ergäbe sich keine Leistungskongruenz und damit keine vorrangige Zuständigkeit des Beklagten, da die vollstationäre Unterbringung auch dann ihre Ursache allein in der Verhaltensauffälligkeit hätte. Ohne diese würde die Notwendigkeit einer vollstationären Unterbringung überhaupt nicht bestehen. Ein Hilfebedarf wegen einer geistigen Behinderung liege nicht vor.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakten des Klägers und des Beklagten sowie der Akte 69 XVII L 829 des Amtsgericht Aachen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig.

Es handelt sich um eine Leistungsklage auf Kostenerstattung zwischen zwei Sozialleistungsträgern im Gleichordnungsverhältnis; ein Vorverfahren ist nicht notwendig und auch nicht durchgeführt worden.

Die Klage ist auch begründet.

Anspruchsgrundlage des Kostenerstattungsanspruchs ist nicht, wie der Kläger in der Klageschrift gemeint hat, § 102 SGB X, weil der Kläger jedenfalls im Verhältnis zum Beklagten nicht "auf Grund gesetzlicher Vorschriften vorläufig Sozialleistungen erbracht hat", und auch nicht § 105 SGB X, weil er die Sozialleistungen nicht als unzuständiger Leistungsträger erbracht hat. Dem Kläger steht der Erstattungsanspruch gegen den Beklagten nach § 104 Abs. 1 SGB X zu. Denn er hat für den Hilfeempfänger Sozialleistungen als nachrangig verpflichteter Leistungsträger erbracht; vorrangig aber wäre der Beklagte verpflichtet gewesen, die Eingliederungshilfe für den Hilfeempfänger zu leisten.

Der Hilfeempfänger war (und ist) geistig und seelisch wesentlich behindert. Dies ergibt sich zur Überzeugung der Kammer aus den zahlreichen Berichten und Gutachten über den Hilfeempfänger. Nur beispielhaft sei auf das Gutachten des Psychiaters Dr. Markgraf vom 19.10.2003 verwiesen, das dieser für das Amtsgericht Eschweiler erstellt hat (vgl. Akte des Amtsgerichts Aachen - 69 XVII L 829). Darin hat dieser eine intellektuelle Minderbegabung (Lernbehinderung) und eine Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen diagnostiziert. Er ist zum Ergebnis gekommen, dass infolgedessen beim Hilfeempfänger sowohl eine geistige Behinderung als auch eine psychische Krankheit vorliegt, die beide behandlungsbedürftig seien. Im Entlassungsbericht des Alexianer-Krankenhauses Aachen vom 28.12.2005 wird eine Intelligenzminderung bei einer gemessenen Grundintelligenz von 70 diagnostiziert. Die Behinderungen des Hilfeempfängers machten, davon ist die Kammer aufgrund der in den Akten befindlichen ärztlichen Gutachten und Fachberichten überzeugt, stationäre Hilfeleistungen erforderlich. Für diese Hilfen waren im streitigen Zeitpunkt sowohl der Kläger als auch der Beklagte zuständig. Die Zuständigkeit des Klägers als Träger der Jugendhilfe ergab sich insoweit, als der Hilfeempfänger Anspruch auf Hilfe zur Erziehung gem. § 27 SGB VIII hatte. Gegenüber dem Beklagten hatte der Hilfeempfänger zugleich einen Anspruch auf Eingliederungshilfe gem. §§ 53 Abs. 1, 54 Abs. 1 SGB XII. Seine sachliche Zuständigkeit für die erforderliche stationäre Eingliederungshilfe ergibt sich aus § 2 Abs. 1 der Ausführungsverordnung zum SGB XII des Landes Nordrhein-Westfalen. Entgegen der Auffassung des Beklagten war der Hilfeempfänger nicht nur - wie oben dargelegt - geistig behindert, sondern geistig wesentlich behindert im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII. Denn er war infolge einer Schwäche (auch) seiner geistigen Kräfte in erheblichem Umfang in seiner Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt (vgl. § 2 Eingliederungshilfe-Verordnung). Wesentlich ist eine Behinderung, wenn Gefahr besteht, dass der behinderte Mensch durch sie aus der Gesellschaft ausgegliedert wird oder bereits ist (SG Karlsruhe, Beschluss vom 18.09.2007 - S 4 SO 4036/07). Dies war - davon ist die Kammer aufgrund der zahlreichen in den Akten befindlichen Berichte über den Hilfeempfänger - bei diesem der Fall. Seine geistige Behinderung zeichnete sich insbesondere durch eine Intelligenzminderung (Lernbehinderung) aus. Diese stand neben der seelischen Behinderung, die ebenfalls den Hilfebedarf bedingte.

Soweit der Beklagte deshalb auf die Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers verweist, verkennt er die Vor- und Nachrangregelung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII. Diese bestimmt, dass Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem Sozialhilferecht, wenn diese mit Jugendhilfeleistungen nach dem SGB VIII konkurrieren, vorrangig zu erbringen sind (vgl. (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.09.1999 - 5 C 26/98 = BVerwGE 109, 325 = FEVS 51, 337 = DVBl 2000, 1208 = NJW 2000, 2688 = ZfS 2002, 279; VG Düsseldorf, Urteil vom 14.05.2003 - 19 K 3248/03). Besteht - wie im Fall des Hilfeempfängers - sowohl ein Anspruch nach Jugendhilferecht gegen den Träger der Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Eingliederungshilfe gegen den Sozialhilfeträger, so bleibt nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts neben dem Anspruch gegen den vorrangigen auch der Anspruch gegen den nachrangigen Leistungsträger bestehen; der eine Anspruch schließt den anderen nicht aus. § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII regelt allein das Vorrang-Nachrang-Verhältnis und hat Bedeutung für die Frage der Kostenerstattung zwischen den verschiedenen Trägern. Die Bestimmung stellt nicht darauf ab, wo der Schwerpunkt der Behinderung liegt, sondern allein auf den Bedarf und die Art der Leistung. Wenn - wie hier - gleichartige Ansprüche sowohl nach Jugendhilferecht als auch nach Sozialhilferecht bestehen, bestimmt § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII den Vorrang der Sozialhilfe. Lediglich für den Fall, dass kein Nebeneinander einer seelischen und geistigen und/oder körperlichen Behinderung eines Kindes oder Jugendlichen festzustellen ist, stellt das Bundesverwaltungsgericht bei der Abgrenzung der Zuständigkeiten auf den Schwerpunkt des Bedarfs oder des Leistungszwecks oder -ziels ab. Ein solcher Fall lag hier jedoch nicht vor.

Hat nach alledem der Kläger die Leistungen als nachrangig verpflichteter Leistungsträger erbracht, so ist ihm der Beklagte als vorrangig verpflichteter Leistungsträger zur Erstattung der geltend gemachten Aufwendungen verpflichtet. Die Höhe der erstattungsfähigen Aufwendungen von 50.740,18 EUR wird von dem Beklagten nicht bestritten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 1, 162 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 1 und 3 GKG.
Rechtskraft
Aus
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