L 1 U 1232/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 8 U 1705/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 1232/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 30.11.2007 wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe von Verletztenrente unter Berücksichtigung des zutreffenden Jahresarbeitsverdienstes (JAV) im Streit.

Die 1983 geborene Klägerin erlitt am 02.02.1991 als achtjähriges Kind auf dem Schulweg einen schweren Verkehrsunfall, bei dem sie von einem Rettungsfahrzeug im Einsatz angefahren wurde. Die Klägerin erlitt unter anderem ein Schädel-Hirn-Trauma 3. Grades. Aufgrund des Unfalls bezieht sie von der Beklagten seit ihrem Unfall unter anderem eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 %. Nach den Feststellungen der Beklagten ist die Klägerin aufgrund ihrer Verletzungen nicht in der Lage, eine Ausbildung für eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu absolvieren. In einem psychologischen Gutachten vom 18.10.2001 wird als einzige angemessene Fördermöglichkeit eine Eingliederung der Klägerin in eine Werkstatt für Behinderte (WfB) genannt.

Nachdem die Klägerin das 18. Lebensjahr vollendet hatte, wurde die zunächst gemäß § 86 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) nach dem Jahresarbeitsverdienst (JAV) für Kinder festgesetzte Verletztenrente nach § 90 Abs. 5 SGB VII neu festgesetzt, was zu einer jährlichen Vollrente in Höhe von 10.994,82 Euro (21.504,- DM) bzw. einer Monatsrente von 916,24 Euro (1.792,- DM) führte (Bescheid vom 31.01.2001: Bezugsgröße 53.760,- DM, JAV in Höhe von 60 v.H. der Bezugsgröße, also 32.256 ,-DM).

Am 27.02.2003 beantragte der Vater der Klägerin die Bemessungsgrundlage für die Verletztenrente zu erhöhen. Seines Erachtens sei eine Durchschnittsrente nicht angemessen, da bei der weiteren Entwicklung der Klägerin davon auszugehen sei, dass diese zunächst studiert und danach einen Beruf mit überdurchschnittlichem Verdienst ausgeübt hätte. Er selbst sei Verwaltungsoberamtsrat (A 13), seine Ehefrau habe im Schuldienst aufgrund der Kinderbetreuung "nur" die Besoldungsgruppe A 12 erreicht. Der am 28.07.1981 geborene älteste Sohn studiere an der Universität Stuttgart die Fachrichtung Maschinenwesen, der jüngste Sohn P., geboren 1984, bereite seine Abiturabschlussprüfung vor und werde ein Studium in Richtung Biologie oder Chemie aufnehmen. Dem Antrag waren Beurteilungen der Klägerin zu ihren Leistungen und Fähigkeiten vor dem Verkehrsunfall unter anderem der Klassenlehrerin, ihres Schwimmlehrers, ihrer Flötenlehrerin und ihrer Fechtlehrerin beigefügt, in welchen der Klägerin durchweg ein gelehriges, gewissenhaftes und geschicktes Wesen bescheinigt wird.

Auf Anfrage der Beklagten teilte die Mutter der Klägerin am 16.10.2003 mit, dass ihre Tochter voraussichtlich im Juni 2002 die allgemeine Schulpflicht (Abitur) beendet hätte, dass der jüngste Sohn inzwischen das Abitur erfolgreich abgeschlossen habe und der älteste Sohn voraussichtlich im April 2007 oder April 2008 sein Studium an der Universität Stuttgart abschließen werde.

Mit Bescheid vom 22.11.2004 stellte die Beklagte fest, dass sich wegen des in sehr frühen Jahren eingetretenen Versicherungsfalles nicht sicher klären lasse, welches Ausbildungsziel die Klägerin ohne den Versicherungsfall verfolgt hätte. Eine Orientierung an den Berufen der Eltern oder Geschwister werde als nicht befriedigend angesehen, weswegen § 90 Abs. 4 SGB VII anzuwenden sei. Damit sei nach Erreichen des 21. Lebensjahres nach dem 11.01.2004 der JAV in neuer Höhe festzustellen. Da die Bezugsgröße ab dem 01.01.2004 28.980,00 Euro betrage, sei der JAV auf 21.735,- Euro festzusetzen. Demnach sei mit Wirkung vom 01.02.2004 eine jährliche Vollrente von 14.490,- Euro bzw. eine monatliche Rente von 1.207,50 Euro zu leisten.

Am 17.12.2004 legten die Bevollmächtigten der Klägerin hiergegen Widerspruch ein, dessen Begründung die Bevollmächtigten auf Nachfrage der Beklagten ausdrücklich ablehnten. Mit Widerspruchsbescheid vom 24.05.2005 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. Die Überprüfung der tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen des angefochtenen Bescheides habe keinen Anhaltspunkt für dessen Unrichtigkeit ergeben.

Die Klägerin hat am 15.06.2005 durch ihre Mutter als Betreuerin über ihre Bevollmächtigten Klage erhoben. Die Erhöhung der Rente sei vorzunehmen, weil diese sich am Lebensstandard der Familie, insbesondere an dem Beruf der Eltern und/oder Geschwister orientieren müsse. Die Beklagte habe dies zu Unrecht unter Hinweis auf § 90 Abs. 4 SGB VII abgelehnt. Im Rahmen der erstmaligen Festsetzung des JAV sei es möglich, diesen nach billigem Ermessen zu bestimmen. Nach der einschlägigen Rechtsprechung seien im Rahmen einer solchen Festsetzung insbesondere auch die Lebensläufe der Geschwister zu berücksichtigen. Vorliegend gehe es zwar nicht um eine erstmalige Festsetzung, sondern um eine Neufestsetzung des JAV. Die Vorschriften für die Neufestsetzung der Verletztenrente verwiesen jedoch auf die Vorschriften für die erstmalige Festsetzung. Insoweit werde ein Ermessen eingeräumt, bei dem insbesondere der Lebensstandard bzw. das Lebensniveau zu berücksichtigen sei. Diese Gesetzessystematik lasse sich mit der pauschalen Regelung des § 90 Abs. 4 SGB VII nicht in Einklang bringen.

Die Beklagte hat darauf verwiesen, dass gemäß § 91 SGB VII bei Neufestsetzung des JAV nach voraussichtlicher Schul- oder Berufsausbildung oder Altersstufen die Vorschriften über den Mindest- und den Höchst-JAV und über den JAV nach billigem Ermessen entsprechend anzuwenden seien. Danach könne der JAV nach § 91 i.V.m. § 87 SGB VII festgelegt werden, wenn sich zwar Feststellungen über den konkreten schulischen und beruflichen Werdegang des Kindes nicht treffen ließen, es aber beispielsweise wahrscheinlich sei, dass das Kind jedenfalls das Abitur erfolgreich abgelegt hätte und eine Feststellung nach § 90 Abs. 4 SGB VII in erheblichem Maße unbillig sei. Im Falle der Klägerin könne davon ausgegangen werden, dass sie bei einem Ereignisverlauf ohne Unfall das Abitur erfolgreich abgeschlossen hätte. Unter Bezugnahme auf das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 15.07.1992 (L 17 U 74/90) hat die Beklagte die Auffassung vertreten, dass der JAV danach nach § 7 Berufsschadensausgleichsverordnung (BSchAV) festzustellen sei. Nach Abschluss mit Abitur sei für den JAV das in § 4 BSchAV für Beamte des gehobenen Dienstes festgelegte Durchschnittseinkommen zuzüglich des Ortszuschlages (Familienzuschlag) nach Stufe 2 in der Besoldungsgruppe 9 bei Dienstaltersstufe 4 anzusetzen. Zuzüglich sei nach dem derzeitigen Gesetzeswortlaut das Grundgehalt noch um die Stellenzulage zu erhöhen und außerdem das monatlich ausgezahlte Weihnachtsgeld zu berücksichtigen. Es sei davon auszugehen, dass die Klägerin das Abitur fiktiv im Frühjahr 2002 gemacht hätte und sie frühestens im Herbst 2002 mit einem Fachhochschulstudium für den gehobenen nichttechnischen Verwaltungsdienst begonnen hätte. Bei einer dreijährigen Ausbildungszeit hätte sie daher frühestens im Herbst 2005 ihren Abschluss gemacht. Am 01.10.2005 würde der JAV dann nach den oben genannten Ausführungen 29.174,52 Euro betragen. Ausgehend davon, dass dieser JAV momentan höher sei als der nach § 90 Abs. 4 SGB VII zum 21. Lebensjahr festgesetzte Arbeitsverdienst, sei jedoch zu beachten, dass dieser JAV erst ab dem 01.10.2005 zu berücksichtigen wäre und bis dahin noch nach dem Mindest-JAV für über 18-Jährige zu verfahren sei. Es ergebe sich daher nach Festsetzung des JAV gemäß § 91 SGB VII vom 01.02.2004 bis zum 31.01.2008 ein maximaler Nachzahlungsbetrag der Rente von 6.337,88 Euro und ab 01.02.2008 (Zeitpunkt der Erhöhung des JAV zum 25. Lebensjahr gemäß § 90 Abs. 4 SGB VII) von derzeit monatlich 10,81 Euro. Der Nachzahlbetrag sei daher nach Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens nicht in erheblichem Maße unbillig, weswegen es bei der Festsetzung des JAV nach § 90 Abs. 4 SGB VII zu verbleiben habe.

Mit Urteil vom 30.11.2007 hat das SG die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 22.11.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.5.2005 verurteilt, über den Antrag der Klägerin vom Februar 2003 ab dem 01.10.2005 erneut zu entscheiden. Grundsätzlich habe die Beklagte zu Recht § 90 Abs. 4 SGB VII angewendet, da es aufgrund des frühen Unfalls der Klägerin nicht hinreichend sicher feststellbar sei, welchen konkreten Beruf diese ohne den Unfall mit Wahrscheinlichkeit ergriffen hätte, und wann insoweit die Berufsausbildung voraussichtlich geendet hätte. Zu Unrecht habe die Beklagte jedoch abgelehnt, den JAV nach billigem Ermessen gemäß § 87 SGB VII festzusetzen. Diese Vorschrift gelte gemäß § 91 SGB VII auch für die Fälle des § 90 Abs. 4 SGB VII, weil in § 91 SGB VII geregelt sei, dass bei Neufestsetzung des JAV unter anderem nach Altersstufen die Vorschriften über den Mindest- und Höchst- JAV und über den JAV nach billigem Ermessen entsprechend anzuwenden seien (unter Berufung auf Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht II, § 87 SGB VII RdNr. 3). Nach § 87 SGB VII sei bei Unbilligkeit des nach der Regelberechnung festgesetzten JAV in erheblichem Maße dieser nach billigem Ermessen im Rahmen von Mindest- und Höchst-JAV neu festzusetzen. Hierbei seien insbesondere die Fähigkeiten, die Ausbildung, die Lebensstellung und die Tätigkeit der Versicherten im Zeitpunkt des Versicherungsfalles zu berücksichtigen. Ob eine Regelberechnung unbillig und deshalb die Grundvoraussetzung des § 87 SGB VII erfüllt seien, liege nicht im Ermessen der Beklagten; in ihrem Ermessen liege nur, wie ein unbilliger JAV korrigiert werden müsse.

Die Beklagte habe insoweit eingeräumt, dass die Klägerin wahrscheinlich das Gymnasium besucht und anschließend zumindest ein Fachhochschulstudium begonnen hätte, welches nach einer dreijährigen Ausbildungszeit im Herbst 2005 mit der entsprechenden Abschlussprüfung geendet hätte. Es könne davon ausgegangen werden, dass die Klägerin ab dem 01.10.2005 nach Abschluss dieser Ausbildung ungefähr den JAV eines Beamten im gehobenen Dienst erzielt hätte. Der Unterschied des hierbei erzielten JAV gegenüber dem von der Beklagten nach § 90 Abs. 4 SGB VII ermittelten fiktiven Jahresverdienstes von 29.174,52 Euro für die Zeit vom 1.2.2004 bis 31.1.2008 in Höhe von 6.337,88 Euro erreiche ein Ausmaß, welches für eine erhebliche Unbilligkeit im Sinne des § 87 SGB VII spreche. Dies gelte auch für die Zeit ab Vollendung des 25. Lebensjahres bei einer monatlich höheren Rente von 10,81 Euro. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass sich das Bemessungsentgelt künftig nach dem fiktiven beruflichen Werdegang richte und mit zunehmenden Lebensalter eine entsprechende Anpassung vorzunehmen sei. Da der Beklagten insoweit ein Ermessen eingeräumt sei, wie der Unterschied zu kompensieren sei, habe die Beklagte lediglich zur erneuten Bescheidung verurteilt werden können. Das Urteil wurde der Beklagten am 28.2.2008 zugestellt.

Am 11.3.2008 hat die Beklagte beim Landessozialgericht Berufung eingelegt. Das zum 01.01.1997 in Kraft getretene SGB VII enthalte mit dem § 90 Abs. 4 SGB VII eine Regelung, welche für Sachverhalte wie den vorliegenden geschaffen worden sei. In der Reichsversicherungsordnung (RVO) habe es zuvor keine entsprechende Vorschrift zur Berechnung des JAV gegeben, weswegen nunmehr eine Feststellung des JAV nach billigem Ermessen nicht mehr angezeigt sei. Die Entscheidung des LSG Nordrhein-Westfalen vom 15.07.1992 (L 17 U 74/90), auf welche das SG sich stütze, sei vor dem Inkrafttreten des SGB VII ergangen. Darüber hinaus sei nach dem Urteil des SG bei der Neufeststellung des JAV nach § 91 i.V.m. § 87 SGB VII eine Anpassung nach Lebensjahren vorzunehmen; dies würde bedeuten, dass über die Sondervorschriften § 91 i.V.m. § 87 SGB VII dann doch eine Feststellung des JAV nach § 90 Abs. 1 und 2 SGB VII erfolgen müsse, obwohl eine Ausbildung konkret überhaupt nicht beendet worden sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 30.11.2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung beruft sich die Klägerin auf die Ausführungen in dem angefochtenen Urteil sowie die in der ersten Instanz vorgelegten Schriftsätze. Nach § 91 SGB VII seien bei Neufestsetzungen des JAV nach voraussichtlicher Schul- oder Berufsausbildung oder Altersstufen die Vorschriften über den Mindest- und Höchst JAV und über den JAV nach billigem Ermessen entsprechend anzuwenden. Entsprechend anzuwenden sei insbesondere auch die Vorschrift des § 87 SGB VII, in dessen Rahmen der Lebensstandard bzw. das Lebensniveau und die Lebensläufe der Geschwister zu berücksichtigen seien. Vor diesem Hintergrund sei der Anwendungsbereich für die von der Beklagten herangezogene pauschale Regelung des § 90 Abs. 4 SGB VII nur dann eröffnet, wenn sich unter keinen Gesichtspunkten feststellen lasse, welches Ausbildungsziel der Versicherte ohne den Versicherungsfall voraussichtlich erreicht hätte. Anhaltspunkte für eine solche Feststellung seien jedoch insbesondere aufgrund der Lebensläufe der Geschwister vorhanden.

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten, die Akten des SG sowie die Akten des Landessozialgerichts Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143 f. und 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Berufung ist nicht begründet.

Bei der Festsetzung des JAV zur Errechnung der Höhe des Rentenanspruchs ist zunächst festzustellen, auf Grund welcher Vorschriften dieser zu berechnen und wie hoch er danach ist; anschließend ist die Prüfung vorzunehmen, ob der errechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist (BSGE 73, 258, 259 = SozR 3-2200 § 577 Nr. 1).

Nach § 90 Abs. 1 SGB VII wird beim Eintritt des Versicherungsfalles vor Beginn der Schulausbildung oder während einer Schul- oder Berufsausbildung, wenn es für die Versicherten günstiger ist, der JAV von dem Zeitpunkt an neu festgesetzt, in dem die Ausbildung ohne den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre; der Neufestsetzung wird das Arbeitsentgelt zugrunde gelegt, das in diesem Zeitpunkt für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters durch Tarifvertrag vorgesehen ist; besteht keine tarifliche Regelung, ist das Arbeitsentgelt maßgebend, das für derartige Tätigkeiten am Beschäftigungsort der Versicherten gilt.

Nach Abs. 4 der Vorschrift ist beim Eintritt des Versicherungsfalls vor Beginn der Berufsausbildung, wenn sich auch unter Berücksichtigung der weiteren Schul- oder Berufsausbildung nicht feststellen lässt, welches Ausbildungsziel die Versicherten ohne den Versicherungsfall voraussichtlich erreicht hätten, der JAV mit Vollendung des 21. Lebensjahres auf 75 vom Hundert und mit Vollendung des 25. Lebensjahres auf 100 vom Hundert der zu diesen Zeitpunkten maßgebenden Bezugsgröße neu festzusetzen.

Vorliegend hat die Beklagte den JAV nach der Regelung in § 90 Abs. 4 SGB VII neu berechnet, wobei Fehler in der Berechnungsweise weder ersichtlich noch geltend gemacht sind. Die Beklagte hat hierzu eingeräumt, dass die alternative Berechnungsweise nach dem Vortrag der Klägerin (hypothetischer Ausbildungsverlauf entsprechend § 87 SGB VII anstelle der pauschalen Werte nach § 90 Abs. 4 AGB VII) zu einem höheren JAV führen würde, diesen Unterschied jedoch als nicht in erheblichem Maße unbillig angesehen (Nachzahlungsbetrag von 6.337,88 Euro und Rentendifferenz ab dem 25. Lebensjahr von 10,81 Euro monatlich).

Die Begründung in dem angegriffenen Ausgangsbescheid vom 22.11.2004, eine "Orientierung an den Berufen der Eltern oder Geschwister werde als nicht befriedigend angesehen", ist hierfür nicht ausreichend. Auch das im Verfahren vor dem SG nachgeschobene Argument, die Differenz sei nicht erheblich unbillig im Sinne von § 87 bzw. § 91 SGB VII, ist nicht tragfähig.

Die Argumentation der Beklagten, die Regelung des § 87 SGB VII sei im Rahmen einer Neufestsetzung nach § 90 Abs. 4 SGB VII nicht anwendbar, vermag nicht zu überzeugen. Nach der Gesetzessystematik wird über § 91 SGB VII im direkten Anschluss an § 90 SGB VII und noch im selben Unterabschnitt des Dritten Abschnitts des SGB VII für die Neufestsetzung des JAV eine entsprechende Anwendbarkeit der Vorschriften, auf die sich die Klägerin beruft, angeordnet (vgl. Ricke in Kasseler Kommentar, SGB VII, Stand 5/06, § 87 RdNr. 3; Dahm in Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 10/01, § 87 RdNr. 3; Kunze in LPK-SGB VII, 2. Aufl. 2007, § 87 RdNr. 2 und § 91 RdNr. 1; Schmitt, SGB VII, 2. Aufl. 2008, § 91 RdNr. 2). Aus den Materialien ergibt sich, dass § 91 SGB VII der zuvor nach der RVO (dort: §§ 575, 577 RVO) geltenden Rechtslage entsprechen sollte und insofern keine Rechtsänderung beabsichtigt war (BT-Drucks. 13/2204, S. 97). Dies ist auch überzeugend, weil nicht ersichtlich ist, weswegen die Argumente für eine Unbilligkeit der Festsetzung eines JAV bei einer Neufestsetzung gegenüber einer erstmaligen Festsetzung ein geringeres Gewicht haben sollen.

Unabhängig hiervon hat die Beklagte sich auf eine Berechnung nach § 90 Abs. 4 SGB VII festgelegt, ohne die im vorliegenden Einzelfall vorhandenen Anhaltspunkte für eine konkrete Berechnung des JAV ausgehend vom potentiellen Werdegang der Klägerin zu berücksichtigen. Hierbei kann offenbleiben, ob die Ausbildung der Eltern oder der Geschwister ein maßgebliches Indiz sein kann, da § 90 Abs. 4 SGB VII ausschließlich von der hypothetischen weiteren Entwicklung der Versicherten spricht ("wenn sich auch unter Berücksichtigung der weiteren Schul- oder Berufsausbildung nicht feststellen lässt, welches Ausbildungsziel die Versicherten ohne den Versicherungsfall voraussichtlich erreicht hätten"). Alleine aufgrund der über die Entwicklung der Klägerin bis zu ihrem Unfall vorliegenden Dokumente (Bescheinigungen der Klassenlehrerin, des Schwimmlehrers, der Flötenlehrerin und der Fechtlehrerin) lässt sich feststellen, dass die Klägerin ein ausgesprochen aufgewecktes und lehrsames Kind war, das sich entsprechend seinem sozialen Umfeld mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wenigstens einer Ausbildung im gehobenen Dienst oder einer vergleichbaren Tätigkeit zugewandt hätte.

Die Regelung in § 90 Abs. 4 SGB VII führt indes zu einer pauschalen Neufeststellung ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Verhältnisse, weswegen sie zur Voraussetzung hat, dass keine oder jedenfalls keine genügenden Anhaltspunkte für die weitere hypothetische Entwicklung vorliegen. Typischerweise ist die Regelung daher auf Unfälle im Kindesalter und hier insbesondere auf Kindergartenunfälle anwendbar (vgl. Ricke in Kasseler Kommentar, SGB VII, Stand 5/06, § 91 RdNr. 13).

Sofern jedoch wie vorliegend die schulische Ausbildung bereits begonnen hat und Anhaltspunkte für den weiteren Ausbildungsverlauf vorhanden sind, ist die pauschale Feststellung nach § 90 Abs. 4 SGB VII nicht mehr zulässig (vgl. in diesem Sinne auch BT-Drucks. 13/2204, S. 96, wonach ausdrücklich zunächst zu prüfen ist, ob Anhaltspunkte für ein hypothetisches Ausbildungsziel vorhanden sind). Dem über § 90 Abs. 4 SGB VII zugrunde zu legenden Durchschnitts-JAV aller Versicherter kann dann zu Recht entgegengehalten werden, dass bereits individuelle Hinweise für eine hypothetisch über dem allgemeinen Durchschnitt liegende Ausbildung (hier: Jedenfalls Abitur und Fachhochschulstudium für den gehobenen nichttechnischen Verwaltungsdienst) vorliegen. Dem Einwand der Beklagten, das SG stütze sich auf eine seit Einführung des SGB VII überholte Rechtsprechung, ist daher entgegen zu halten, dass sich auch bei Verletzungen im Kindesalter keine Änderung der Rechtslage in den Fällen ergeben hat, in denen Anhaltspunkte für die hypothetische berufliche Entwicklung des Versicherten vorliegen. Erst beim Fehlen solcher Anhaltspunkte ist subsidiär auf die mit Einführung des SGB VII neu geschaffene Regelung in § 90 Abs. 4 SGB VII abzustellen (BT-Drucks. a.a.O.).

Die Beklagte hat nach § 91 SGB VII bei Neufestsetzungen des JAV nach voraussichtlicher Schul- oder Berufsausbildung oder Altersstufen die Vorschriften über den Mindest- und Höchst-JAV und über den JAV nach billigem Ermessen entsprechend anzuwenden.

Hierbei ist unter anderem nach § 87 SGB VII, wenn ein nach der Regelberechnung oder den Vorschriften für Kinder oder nach der Regelung über den Mindest-JAV festgesetzter JAV in erheblichem Maße unbillig ist, nach billigem Ermessen im Rahmen von Mindest- und Höchst-JAV festzusetzen, wobei insbesondere die Fähigkeiten, die Ausbildung, die Lebensstellung und die Tätigkeit der Versicherten im Zeitpunkt des Versicherungsfalls berücksichtigt werden sollen.

Die Wertung, ob der berechnete JAV "in erheblichem Maße unbillig" i. S. von § 87 SGB VII ist, ist vom Gericht in vollem Umfang selbst vorzunehmen. Unbilligkeit i. S. des § 87 Satz 1 SGB VII ist ein unbestimmter Rechtsbegriff; erst bei Vorliegen seiner Voraussetzungen hat der Versicherungsträger Ermessenserwägungen zur Art und Weise eines Ausgleichs dieser Unbilligkeit anzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 23.01.1993 – 2 RU 15/92 – HV-Info 1993, 972 m.w.N.; BSG, Urteil vom 30.10.1991 – 2 RU 61/90 – HV-Info 1992, 428; BSG SozR 2200 § 577 Nr. 9 m.w.N.).

Entsprechend den Ausführungen des SG ist vorliegend von einer Unbilligkeit auszugehen, weil insbesondere aufgrund der von der Beklagten errechneten Nachzahlung bei einer Berechnung des JAV nach § 87 SGB VII in Höhe von 6.337,88 Euro in Relation zu der Volljahresrente von 14.490,- bzw. der monatlichen Rente von 1.207,50 Euro (ab dem 01.02.2004) eine Differenz gegeben ist, die der Klägerin nicht zugemutet werden kann.

Eine feste Grenze, ab der eine erhebliche Unbilligkeit zu bejahen ist, existiert nicht (st. Rspr. des BSG, vgl. Urteil vom 18.03.2003 - B 2 U 15/02 R -, SozR 4-2700 § 87 Nr. 1 m.w.N.). Nach § 87 Satz 2 SGB VII sind insbesondere die Fähigkeiten, die Ausbildung, die Lebensstellung und die Tätigkeit der Versicherten im Zeitpunkt des Versicherungsfalls zu berücksichtigen. Zu berücksichtigen sind außerdem, da die Aufzählung in § 87 Satz 2 SGB VII nicht abschließend ist (Dahm in Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 10/01, § 87 RdNr. 10), die Gründe für die vorübergehende Erhöhung oder Reduzierung des Einkommens, deren Dauer und die Höhe der prozentualen Abweichung des JAV von dem Betrag, der unter Berücksichtigung der Bewertungskriterien nach Satz 2 als billige Grundlage der Rente in Betracht kommt oder der die Annahme der Unbilligkeit begründet (vgl. Schudmann in jurisPK-SGB VII, § 87 RdNr. 32 m.w.N.)

Für die Zeit vom 01.02.2004 bis zum 31.01.2008 wäre ein Nachzahlungsbetrag der Rente von 6.337,88 Euro zu gewähren, was einer monatlichen Zusatzleistung von 132,04 Euro entspricht (6337,88 Euro: 48 Monate). Dies stellt gegenüber der derzeit gewährten Monatsvollrente von 1.207,50 Euro eine Erhöhung um 10,93 % dar.

Angesichts der Tatsache, dass die Klägerin von der Verletztenrente auf unabsehbare Zeit abhängig sein wird, ist bereits diese Abweichung von rund 10 % als erheblich unbillig anzusehen. Hierbei ist zu berücksichtigen, worauf das SG zutreffend hinweist, dass der höhere Betrag als Sockel für zukünftige Anpassungen der Rente dient und an Bedeutung zunehmen wird. Das BSG hat dementsprechend bereits eine Einkommensdifferenz von ca. 9,3 % als erheblich unbillig angesehen (Urteil vom 28.07.1982 - 2 RU 47/81 -, SozR 2200 § 571 Nr. 21). In dieser Entscheidung hat das BSG auch hervorgehoben, dass den Regelungen zur Höhe des JAV die Zielvorstellung des Gesetzgebers zugrunde liegt, dass ein aus besonderen Gründen vorübergehend niedriges, der normalen Lebenshaltung des Verletzten nicht entsprechendes Arbeitseinkommen nicht als JAV bei der Rentenberechnung zugrunde zu legen ist und zum Maßstab für die gesamte Laufzeit der Rente zu machen (mit Hinweis auf BT-Drucks. IV/120 S. 57 zu §§ 570 bis 578 RVO; vgl. hierzu auch BSGE 28, 274, 276; 44, 12, 14; 51, 178, 180). So läge es aber vorliegend, wenn nicht der voraussichtliche Verlauf der Ausbildung der Klägerin mit Abitur und Fachhochschulabschluss berücksichtigt werden würde.

Ferner ist nach § 87 Satz 2 SGB VII auch zu berücksichtigen, dass das Geschehen hinsichtlich der unterschiedlichen Ermittlung des JAV auf keiner freien Entscheidung der Klägerin über einen höheren oder geringeren Arbeitseinsatz im Beruf - mit entsprechender Veränderung des JAV - beruht, sondern auf einem tragischen Unfall.

Gegen diese rechtliche Beurteilung kann nicht mit Erfolg eingewendet werden, dass sich ab dem 01.02.2008 (Zeitpunkt der Erhöhung des JAV zum 25. Lebensjahr gemäß § 90 Abs. 4 SGB VII) nur noch eine wesentlich geringere monatliche Rentendifferenz von 10,81 Euro ergibt. Denn aufgrund der höheren Differenz in den vorausgegangenen Jahren war die Anpassung des JAV zum 01.02.2004 vorzunehmen (siehe oben), was bereits als solches Folgewirkungen für den Nachfolgezeitraum hat, ohne dass diese das Kriterium der erheblichen Unbilligkeit nach § 87 SGB VII ebenfalls erfüllen müssten.

Daraus, dass die Beklagte von der Anwendbarkeit des § 90 Abs. 4 SGB VII bzw. Nichtanwendbarkeit der Vorschrift in § 87 SGB VII ausgeht, folgt bereits, dass ein Ermessensausfall hinsichtlich der Art und Weise der Kompensation des zu geringen JAV vorliegt. Demnach hat das SG zu Recht die Beklagte zur Neuverbescheidung verurteilt. Da die Klägerin alleinige Berufungsführerin ist, war nicht darüber zu entscheiden, ob die von der Beklagten vor dem SG durchgeführte alternative JAV-Berechnung (Abitur und Fachhochschulabschluss für den gehobenen nichttechnischen Verwaltungsdienst) die einzig zutreffende oder sachgemäße Berechnung ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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