L 9 U 3565/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 7 U 3037/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 3565/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 1. Juni 2007 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob es sich bei dem Ereignis vom 4.3.2002 um einen Arbeitsunfall gehandelt hat und der Klägerin wegen der Folgen des Unfalls Verletztenrente zusteht.

Die 1952 geborene Klägerin war als Köchin in dem Naturheil-Sanatorium Dr. D. beschäftigt. Am 4.3.2002 schaltete sie gegen 8:00 Uhr den Rohkostraspler an. Nachdem ein schriller Ton zu hören war, schaltete sie ihn gleich wieder ab. Sie bemerkte sofort eine beidseitige Taubheit der Ohren und stellte sich unmittelbar danach bei ihrem Arbeitgeber Dr. D., Arzt für Allgemeinmedizin vor. Dieser wies sie an, ein Belüftungsmanöver des Mittelohres durchzuführen, woraufhin sie auf dem linken Ohr wieder gehört habe. Um 16:30 Uhr (nach Ende der Arbeitszeit) suchte sie den HNO-Arzt Dr. Sch. auf. Dieser äußerte den Verdacht auf ein akustisches Trauma mit Ertaubung rechts und führte eine Infusionstherapie zur Durchblutungsförderung sowie eine Cortisontherapie durch (HNO-Arztbericht vom 22.3.2002). Nachdem keine Besserung des Hörvermögens rechts eintrat, erfolgte am 27.3.2002 eine Tympanoskopie mit Abdeckung der runden Fenstermembran in der HNO-Klinik des Diakonissen-Krankenhauses K.-R ... Der postoperative Verlauf vor unauffällig; eine Besserung des Gehörs trat nicht ein. Die Beklagte zog Leistungsauszüge der AOK Neckar-Odenwald-Kreis, Arztbriefe von Dr. Sch. vom 14.3.2002, der HNO-Klinik des Diakonissen-Krankenhauses K.-R. vom 29.4.2002 (mit Operations-Bericht vom 27.3.2002), des Neurologen Dr. M. vom 3.5.2002, der Radiologischen Gemeinschaftspraxis der Atos Praxisklinik vom 21.3.2002 (Kernspin vom 19.3.2002) sowie ein Audiogramm vom 15.4.2002 bei und holte ein HNO-ärztliches Gutachten ein.

Der HNO-Arzt Dr. Sch. diagnostizierte im Gutachten vom 26.10.2002 eine Taubheit des rechten Ohres. Eine Behandlungsbedürftigkeit habe vom 4.3. bis 4.5.2002 bestanden. Es bestehe ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Lärmtrauma und der eingetretenen Ertaubung. Das Voraudiogramm vom 4.9.1999 (gemeint: 4.6.1999) sei altersentsprechend gewesen. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 15 vH.

Nach Einholung einer beratungsärztlichen Stellungnahme bei Dr. S. vom 5.5.2003 zog die Beklagte das Audiogramm vom 4.6.1999 bei und holte eine Stellungnahme bei Diplom-Ingenieur Will (TAB) vom 1.8.2003 und Auskünfte bei Dr. D. vom 15.8.2003 (die Maschine wurde sofort aus dem Verkehr gezogen und ist nicht mehr vorhanden) ein. Die Klägerin legte eine "Zeugenaussage" ihrer Arbeitskollegin vom 24.9.2003 vor, die erklärte, nach dem Einschalten der Rohkostmaschine habe diese einen schrillen Ton gemacht und die Klägerin habe sogleich gesagt: "Ach Gott, E. ich höre auf beiden Ohren nichts mehr!". Sie sei sofort in die Praxis von Dr. D. gegangen. Als sie wieder in die Küche gekommen sei, habe sie gesagt, auf dem linken Ohr höre sie wieder, aber rechts sei alles taub. Anschließend holte die Beklagte ein weiteres HNO-ärztliches Gutachten ein.

Professor Dr. H., Direktor, und Dr. R., Oberarzt der Universitäts-HNO-Klinik W., führten im Gutachten vom 22.7.2004 aus, es könne von einem akut aufgetretenen Innenohrschaden ausgegangen werden, der zu einer rechtsseitigen Ertaubung geführt habe. Grundsätzlich könne ein akutes Lärmtrauma ab einer gewissen Lautstärke eine einseitige Ertaubung hervorrufen. Dafür seien sehr hohe Schallstärken von über 130 dB erforderlich. Für einen akustischen Unfall sei eine Kombination aus Lärmtrauma über 90 dB und eine Fehlstellung der Wirbelsäule erforderlich. Da die Klägerin anamnestisch jedoch in gerader Körperhaltung vor dem Gerät gestanden habe, sei ein akustisches Trauma nicht anzunehmen. Leider stehe das Gerät für eine Messung des entstandenen Schallpegels nicht zur Verfügung. Aus diesem Grunde sei die Möglichkeit eines Lärmschadens nicht mit letzter Sicherheit gegen einen spontanen, lärmunabhängigen Hörverlust abzugrenzen, der genau dieselben Symptome hervorrufen könne. Solange von Seiten des TAB nicht nachgewiesen werden könne, dass die Schallstärke unter der für ein akutes Lärmtrauma geforderten Stärke gelegen habe, sei die Anerkennung des Schadens als Arbeitsunfall zu empfehlen. Im Falle einer Anerkennung sei der Schaden mit einer MdE um 20 vH einzuschätzen.

Nach Einholung einer weiteren Stellungnahme bei Diplom-Ing. W. vom 25.2.2005 auf Veranlassung von Dr. S.r (Stellungnahme vom 4.11.2004) führte Dr. S. in der Stellungnahme vom 18.3.2005 aus, nach den Angaben zum geschätzten Lärmpegel von 120 bis 130 dB sei davon auszugehen, dass das angeschuldigte Ereignis zu kurz und zu wenig schallintensiv gewesen sei, um die Taubheit rechts zu verursachen. Nach Angaben des Gutachters sei nämlich ein Schallpegel von über 140 dB(A) erforderlich. Eine unfallbedingte Taubheit liege deswegen nicht vor.

Mit Bescheid vom 11.5.2005 teilte die Beklagte der Klägerin mit, sie habe am 4.3.2002 keinen Arbeitsunfall erlitten. Der Unfallhergang sei nicht geeignet gewesen, eine Taubheit des rechten Ohres hervorzurufen. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19.9.2005 zurück.

Hiergegen erhob die Klägerin am 19.10.2005 Klage zum Sozialgericht (SG) Mannheim, mit der sie die Anerkennung des Ereignisses vom 4.3.2002 als Arbeitsunfall und die Gewährung einer Verletztenrente weiter verfolgte.

Nachdem die Klägerin der Beklagten eine baugleiche Raspel zur Verfügung gestellt hatte, veranlasste diese eine Messung des Lärmpegels durch das Berufsgenossenschaftliche Institut für Arbeitsschutz. Die Geräuschbelastung durch die Maschine in fehlerfreiem Zustand ergab einen Schallpegel von 77 und 80 dB(A). Die Mitarbeiter des Instituts führten aus, ein Defekt könne dann auftreten, wenn die Maschine deutlich länger als eine Minute betrieben werde, die Lager heiß liefen und trockneten, was zu einem starken Quietschgeräusch und im weiteren Verlauf zum Durchbrennen des Motors führen könne. Die VDI 2058 Bl. 2 "Beurteilung von Lärm hinsichtlich Gehörgefährdung" gehe davon aus, dass bei Einzelschallereignissen Schalldruckpegel von LAlmax ) 135 dB zu akuten Gehörschäden führen könnten. Bei Schalldruckpegeln LAl= 120 dB sei eine Schädigung nur zu erwarten, wenn die Belastung über mehrere Minuten andauere.

Nachdem sich die Klägerin mit der Zerstörung der Maschine einverstanden erklärt hatte, führte das Berufsgenossenschaftliche Institut für Arbeitsschutz im Beisein der Klägerin und ihres Ehe¬mannes am 30.10.2006 erneute Messungen durch. Bei den beiden Messungen (Dauer 7´45´´ und 13´9´´) konnte der erwünschte Effekt eines Geräteschadens durch Überlastung nicht herbeige¬führt werden. Die Maschine zeigte keinerlei Ermüdungs- oder Überhitzungserscheinungen. Es sei anzunehmen, dass auch mehrmalige oder längere Versuche zu keinem Ergebnis führen wür¬den. Ohne Kenntnis des Defekts könnten keine entsprechenden Manipulationen an einem anderen Gerät vorgenommen werden, um mögliche Effekte hervorzurufen.

Das SG beauftragte den HNO-Arzt Dr. Z. mit der Begutachtung der Klägerin. Dieser führte im Gutachten vom 31.1.2007 aus, ein Knalltrauma, ein akutes Lärmtrauma und ein so genannter akustischer Unfall seien nicht wahrscheinlich zu machen; ein Explosionstrauma scheide per se aus. Die Taubheit rechts sei nicht mit Wahrscheinlichkeit Folge des Ereignisses vom 4.3.2002. Einzig und allein auffällig sei der zeitliche Zusammenhang.

Mit Urteil vom 1.6.2007 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, das SG folge Dr. Z. darin, dass kein Schallereignis nachgewiesen sei, das als Ursache für einen akuten Hörverlust in Betracht komme. Einigkeit bestehe dahingehend, dass zur Verursachung einer akuten Gehörschädigung ein Schalldruck von über 130 dB(A) erforderlich sei. Ein solcher Schalldruckpegel sei im Hinblick auf das Ereignis vom 4.3.2002 nicht nachgewiesen. Auch wenn für die Kausalitätsbeurteilung zu Gunsten der Klägerin ein Schalldruck von maximal 130 dB(A) unterstellt werde, könne kein Kausalzusammenhang mit der akuten Hörstörung wahrscheinlich gemacht werden. Die Küchenmaschine, bei deren Betrieb das Schallereignis aufgetreten sei, stehe für Untersuchungen nicht mehr zur Verfügung. Das von der Klägerin beschaffte baugleiche Gerät sei vom Berufsgenossenschaftlichen Institut für Arbeitsschutz ausführlich untersucht worden. Ein mit dem von der Klägerin beschriebenen Geräusch verbundener Betriebszustand oder Defekt habe trotz intensiver Ingebrauchnahme nicht herbeigeführt werden können. Bereits Professor Dr. Helms habe dargelegt, dass es sich bei der Hörstörung der Klägerin auch um einen spontanen, lärmunabhängigen Hörverlust handeln könne, dessen Symptome sich nicht von einem lärmbedingten Hörverlust unterschieden. Auf die Entscheidungsgründe im Übrigen wird Bezug genommen.

Gegen das am 25.6.2007 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 23.7.2007 Berufung eingelegt und vorgetragen, das SG habe zu Unrecht festgestellt, dass nicht nachgewiesen sei, dass das Schallereignis zu ihrer Ertaubung geführt habe. Das Gutachten des Berufsgenossenschaftlichen Instituts für Arbeitsschutz sei unbrauchbar gewesen, da es nicht die Beweisfrage beantwortet habe. Wenn das Gerät in einen defekten Zustand (Reiben von Metall auf Metall) versetzt worden wäre, hätte sich ein Schalldruckpegel mehr als 130 dB(A) ergeben. In direktem Zusammenhang mit dem Ereignis habe sie die Gehörsschädigung erlitten. Konkurrierende Ursachen seien nicht ersichtlich.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 1. Juni 2007 sowie den Bescheid der Beklagten vom 11. Mai 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. September 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das Ereignis vom 4. März 2002 als Arbeitsunfall anzuerkennen und ihr wegen der Folgen des Arbeitsunfalls eine Verletztenrente zu gewähren. Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie erwidert, neue Erkenntnisse ergäben sich aus der Berufungsbegründung nicht. Auf die Stellungnahmen des Technischen Aufsichtsdienstes vom 3.2. und 14.12.2006 mit Berichten des Berufsgenossenschaftlichen Instituts für Arbeitsschutz vom 9.1. und 7.11.2006 mit Messbericht vom 30.10.2006 werde hingewiesen. Danach könne der in der gesetzlichen Unfallversicherung geforderte Vollbeweis der Einwirkung - die Entstehung eines Lärmpegels in der erforderlichen Höhe - nicht geführt werden. Auf die Ausführungen im Sachverständigengutachten von Dr. Z. vom 31.1.2007 sowie die Ausführung von Dr. S. vom 18.3.2005 werde Bezug genommen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf die Akten der Beklagten, des SG sowie des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einverständ¬nis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden hat, ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor.

Die Berufung der Klägerin ist jedoch nicht begründet, da sie keinen Anspruch auf Feststellung des Ereignisses vom 4.3.2002 als Arbeitsunfall und auf Gewährung einer Verletztenrente hat.

Versicherungsfälle im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung sind nach § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Für das von außen auf den Körper einwirkende, zeitlich begrenzte Ereignis ist kein besonderes, ungewöhnliches Geschehen erforderlich. Alltägliche Vorgänger wie Stolpern usw. genügen. Es dient der Abgrenzung zu Gesundheitsschäden auf Grund von inneren Ursachen wie Herzinfarkt, Kreislaufkollaps und usw., wenn diese während der Versichertentätigkeit auftreten, sowie zur vorsätzlichen selbst Beschädigungen. Die Einwirkung selbst kann, muss aber nicht sichtbar seien wie z. B. radioaktive Strahlen oder elektromagnetische Wellen (BSG, Urt. vom 12.4.2005 - B 2 U 27/04 R mit weiteren Nachweisen SozR 4-2700 § 8 Nr. 15 = BSGE 94, 269 - 273).

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, haben nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nach § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern.

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperli¬chen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt also von zwei Faktoren ab (vgl. BSG, Urteil vom 22. Juni 2004, B 2 U 14/03 R in SozR 4-2700 § 56 Nr. 1): Den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermö¬gens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust un¬ter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäuße¬rungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit aus¬wirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unent¬behrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich dar¬auf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletz¬ten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswir¬kungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtli¬chen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel.

Darüber hinaus hat ein Versicherter, der einen Arbeitsunfall erlitten hat, wie oben dargelegt, auch einen Anspruch auf Feststellung der Unfallfolgen.

Voraussetzung für die Anerkennung bzw. Feststellung einer Gesundheitsstörung als Folge eines Arbeitsunfalls und auch ihrer Berücksichtigung bei der Bemessung der MdE bzw. der Verletztenrente ist u. a. ein wesentlicher ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und einem Gesundheitserstschaden (haftungsbegründende Kausalität) und dem Gesundheitserstschaden und der fortdauernden Gesundheitsstörung (sog. haftungsausfüllende Kausalität. Dabei müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen, zu denen - neben der versicherten Tätigkeit und dem Unfallereignis - der Gesundheitserstschaden und die eingetretenen fortdauernden Gesundheitsstörungen gehören, mit einem der Gewissheit nahekommenden Grad der Wahrscheinlichkeit erwiesen sein. Für die Bejahung eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen Einwirkung und dem Gesundheitserstschaden sowie dem Gesundheitserstschaden und fortdauernden Gesundheitsstörungen gilt im Bereich in der gesetzlichen Unfallversicherung die Kausalitätstheorie der "wesentlichen Bedingung". Diese hat zur Ausgangsbasis die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie. In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob das Ereignis nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Aufgrund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich- philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist für die praktische Rechtsanwendung in einer zweiten Prüfungsstufe die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden, bzw. denen der Erfolg zugerechnet wird, und anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen. Nach der Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens abgeleitet werden. Bei mehreren konkurrierenden Ursachen muss die rechtlich wesentliche Bedingung nicht "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig" sein. Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die anderen Ursachen keine überragende Bedeutung haben. Kommt einer der Ursachen gegenüber den anderen eine überragende Bedeutung zu, ist sie allein wesentliche Ursache und damit allein Ursache im Rechtssinn (vgl. hierzu das grundlegende Urteil des BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 17 = BSGE 96, 196-209).

Die hier vorzunehmende Kausalitätsbeurteilung hat im Übrigen auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten zu erfolgen. Dies schließt die Prüfung ein, ob ein Ereignis nach wissenschaftlichen Maßstäben überhaupt geeignet war, eine bestimmte körperliche Störung hervorzurufen (BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - aaO). Dabei müssen auch körpereigene Ursachen erwiesen sein, um bei der Abwägung mit den anderen Ursachen berücksichtigt werden zu können; kann eine Ursache jedoch nicht sicher festgestellt werden, stellt sich nicht einmal die Frage, ob sie im konkreten Einzelfall auch nur als Ursache im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne in Betracht zu ziehen ist (BSGE, 61, 127 ff).

Von diesen Grundsätzen ausgehend kommt der Senat zum Ergebnis, dass die Klägerin am 4.3.2002 bei ihrer beruflichen Tätigkeit als Köchin keinen Arbeitsunfall erlitten hat. Zwar hat die Raspelmaschine auf Grund ihres schrillen Tones zu einer zeitlich begrenzten Einwirkung von außen auf den Körper/Ohren der Klägerin geführt, wie sich aus den Erstangaben der Klägerin gegenüber dem HNO-Arzt Dr. Sch. und den während des Verfahrens gemachten Angaben der Klägerin ergibt, die von ihrer Arbeitskollegin Erika G. in der Erklärung vom 24.9.2003 bestätigt wurden.

Dieser schrille Ton der Raspelmaschine hat nach Überzeugung des Senats jedoch nicht mit Wahrscheinlichkeit zu der andauernden Ertaubung des rechten Ohres der Klägerin geführt. Zu dieser Auffassung gelangt der Senat auf Grund der Ausführungen des TAB Diplom-Ingenieur W. vom 1.8.2003, 25.2.2005, 3.2. und 14.12.2006 sowie den Stellungnahmen des Berufsgenossenschaftlichen Instituts für Arbeitsschutz vom 9.1. und 30.10.2006, den ärztlichen Stellungnahmen des HNO-Arztes S. vom 5.5.2003 und 4.11.2004, des Gutachtens von Professor Dr. H./Dr. R. vom 22.7.2004 sowie insbesondere des Gutachtens des Sachverständigen Dr. Z. vom 31.1.2007.

Auf Grund der Ausführungen des TAB Diplom-Ingenieur Will und den Angaben der Klägerin geht der Senat davon aus, dass grundsätzlich die technische Möglichkeit besteht, dass ein Raspler ein sehr lautes Geräusch erzeugen kann und dass am 4.3.2002 ein sehr lautes Geräusch erzeugt wurde. Nicht feststellbar ist dagegen, welche Lautstärke der Raspler am 4.3.2002 tat¬sächlich erreicht hat und ob diese ausreichend gewesen wäre, die Ertaubung des rechten Ohres der Klägerin zu verursachen. Denn die vom Berufsgenossenschaftlichen Institut für Arbeitsme¬dizin durchgeführten Versuche mit einer baugleichen Küchenmaschine führten trotz länger an¬dauernden Betriebes (7 Minuten 45 Sekunden; 13 Minuten 9 Sekunden) zu keinem Geräuschpe¬gel über 80 dB(A). Auch konnte der erwünschte Effekt einer Überlastung nicht herbeigeführt werden, da die eingesetzte Maschine keine Ermüdungs- und Überhitzungserscheinungen zeigte. Da die beim Unfall benutzte Küchenmaschine nicht mehr existiert und nicht mehr feststellbar ist, welcher Art der Schaden an der Maschine war, der zu dem lauten Geräusch geführt hat, kann nicht mehr aufgeklärt werden, wie hoch der Schallpegel war, der auf die Ohren der Klägerin, insbesondere das rechte Ohr, eingewirkt hat.

Das Gehörorgan kann zwar durch Schalleinwirkung von hoher Energie bei kurzer Einwirkungszeit geschädigt werden. Je nach Art der schädigenden Schallwellen, der Begleitumstände und der Auswirkungen auf das Ohr unterscheidet man Knall-, Explosionstrauma, akustischen Unfall und akutes Lärmtrauma. Gemeinsames Merkmal ist das plötzliche Auftreten eines Hörverlustes (Schöneberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. S. 4. 12). Vorliegend kommen lediglich ein akustischer Unfall sowie ein akutes Lärmtrauma in Betracht.

Bei einem akuten Lärmtrauma können extreme Lärmexpositionen von einigen Stunden oberhalb von 130 bis 160 dB zur ein- oder doppelseitigen akuten Schwerhörigkeit führen, ohne dass eine besondere Empfindlichkeit des Gehörs vorliegt. Die Hörstörung muss sofort nach Beendigung der Lärmexpositionen vorhanden sein (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O. S. 415). Nach anderer Ansicht reichen schon extreme Lärmexpositionen von einigen Minuten (Feldmann, Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes, 6. Aufl., 2006, S. 168; Berghaus/Rettinger/Böhme, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, 1996 S. 178).

Als akustischer Unfall wird das Auftreten einer einseitigen, oft hochgradigen Schwerhörigkeit (selten vollständige Ertaubung) bezeichnet, die Symptome eines Hörsturzes aufweist. Ursächlich ist eine Minderdurchblutung des Ohres in Verbindung mit gleichzeitiger Lärmbelastung von mindestens 90 dB(A). Strittig ist dabei, ob der Nachweis einer Halswirbelsäulen-Fehlbelastung erforderlich ist (Schöneberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., S. 414 f).

Der Senat vermag jedoch nicht festzustellen, dass ein akutes Lärmtrauma vorgelegen hat. Zum einen ist nicht nachgewiesen, dass ein Schalldruckpegel von 130 bis 160 dB für einige Minuten oder länger auf die Klägerin eingewirkt hat. Zum anderen spricht dagegen, dass es sich bei dem Befund nicht um eine Schwerhörigkeit gehandelt hat, die einer fortgeschrittenen Lärmschwerhörigkeit entsprach und erst dann zur Ertaubung führte, sondern um eine sofortige akute Ertaubung, wie Dr. Z. unter Hinweis auf Feldmann, a. a. O., S. 169 dargelegt hat.

Ein akustischer Unfall ist schon deswegen zu verneinen, weil bei der Klägerin zum Zeitpunkt der Lärmeinwirkung keine Halswirbelsäulen-Fehlbelastung (Verdrehen des Kopfes) vorgelegen hat, die sowohl nach Feldmann, a. a. O. S. 173 als auch nach Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O. S. 415 erforderlich gewesen wäre. Die Klägerin hat nach ihren anamnestischen Angaben in gerader Haltung vor dem Gerät gestanden. Dementsprechend haben auch Professor Dr. Helms/Dr. Relic in ihrem Gutachten einen akustischen Unfall verneint. Soweit sie die Anerkennung der Ertaubung des rechten Ohres als Folge eines Arbeitsunfalls (akutes Lärmtrauma) mit der Begründung empfohlen haben, diese solle erfolgen, solange von Seiten des TAB nicht nachgewiesen werden könne, dass die Schallstärke unter der für ein akutes Lärmtrauma geforderten Stärke gelegen habe, gehen sie von unzutreffenden rechtlichen Voraussetzungen aus. Damit ein akutes Lärmtrauma als Ursache für die Ertaubung überhaupt berücksichtigt werden kann, müsste nachgewiesen sein, dass ein Schallpegel zwischen 130 bis 160 dB vorgelegen hätte, was nicht feststellbar ist.

Ferner ist auch nicht feststellbar, dass es sich bei dem Ereignis vom 4.3.2002 um einen Hörsturz nach akustischem Bagatelltrauma gehandelt hat. Hier handelt es sich um Fälle, in denen nach einem Knall von vergleichsweise geringer Schallstärke, anscheinend i. V. m. Stress und Schreck, in seltenen Fällen ein hörsturzartig einsetzender Tieftonverlust erzeugt werden kann, wie Dr. Z. im Gutachten vom 31.1.2007 unter Hinweis auf Feldmann ausgeführt hat. Denn selbst wenn man - entgegen der Ansicht von Feldmann, a. a. O. S. 174 - darin nicht nur eine Gelegenheitsursache, sondern eine wesentliche (Mit)ursache sehen könnte, lägen bei der Klägerin die Voraussetzungen nicht vor, da es bei ihr nicht lediglich zu einem Hörverlust im Tieftonbereich gekommen ist, sondern zu einer sofortigen völligen Ertaubung.

Trotz des zeitlichen Zusammenhangs mit der Lärmeinwirkung vermag der Senat einen Kausalzusammenhang nicht mit Wahrscheinlichkeit festzustellen. Als Ursache für die Ertaubung kommt ein sogenannter idiopathischer Hörsturz in Betracht, den 20 von 100.000 Erwachsene pro Jahr in Deutschland erleiden, wobei der Häufigkeitsgipfel um das 50. Lebensjahr (Alter der Klägerin zum Zeitpunkt des Ereignisses 49,5 Jahre) liegt (Arnold/Glanzer, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, 4. Aufl., 205, S. 178).

Nach alledem war das angefochtene Urteil des SG nicht zu beanstanden. Die Berufung der Klägerin musste deswegen zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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