L 16 P 98/98

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 4 P 79/97
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 16 P 98/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 06. März 1998 geändert. Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander für beide Rechtszüge nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger als Rechtsnachfolger seines 1912 geborenen und 1999 verstorbenen Vaters ein Anspruch auf Zinsen aus Pflegegeldleistungen für die Zeit vom 01.10.1996 bis zum 31.07.1997 zusteht.

Der Vater des Klägers (nachfolgend: Versicherter) war bei der Beklagten bis zu seinem Tode pflegeversichert. Im Juli 1995 beantragte er, ihm Pflegegeld aus der Pflegeversicherung zu gewähren. Diesen Antrag lehnte die Beklagte zunächst mit Bescheid vom 04.08.1995 und Widerspruchsbescheid vom 10.08.1995 ab; im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf - Az: S 34 P 173/96 - verpflichtete sich die Beklagte nach einer im Januar 1997 erfolgten Begutachtung des Versicherten, diesem unter Anerkennung einer erheblichen Pflegebedürftigkeit gemäß § 37 Abs. 1, Satz 3, Ziffer 1 des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs - Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) für die Zeit ab dem 01.09.1996 Pflegegeld nach Stufe 1 (400 DM monatlich) zu gewähren - gerichtlicher Vergleich vom 24.07.1997 -. Diesen Vergleich führte die Beklagte mit Bescheid vom 04.08.1997 aus; für die Zeit vom 01.09.1996 bis zum 31.08.1997 errechnete sie eine Nachzahlung von 4.800 DM, die sie dem Versicherten am 08.08.1997 anwies.

Den Antrag des Versicherten, die Nachzahlung entsprechend § 44 des Ersten Buchs des Sozialgesetzbuchs - Allgemeiner Teil (SGB I) zu verzinsen, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18.08.1997 und Widerspruchsbescheid vom 17.10.1997 ab. Zur Begründung führte sie aus, bei Abschluß eines Vergleichs bestehe nur ein Anspruch auf das, was im Vergleichsvertrag vereinbart sei. Außergerichtliche Kosten und Zinsen seien nur dann zu erstatten bzw. zu zahlen, wenn dies ausdrücklich im Vergleichsvertrag vereinbart worden sei.

Daraufhin hat der Versicherte am 03.11.1997 vor dem SG Klage er hoben, mit der er Zinsen für die Zeit vom 01.10.1996 bis zum 31.07.1997 beansprucht hat. Er hat die Auffassung vertreten, der ab dem 01.09.1996 bestehende Anspruch auf Pflegegeld sei nach Ablauf eines Kalendermonats nach dem Eintritt der Fälligkeit (am 01.09.1996) zu verzinsen, mithin ab dem 01.10.1996. Der Verzinsung ab diesem Zeitpunkt stehe nicht die Vorschrift des § 44 Abs. 2 SGB I entgegen, wonach die Verzinsung frühestens nach Ablauf von sechs Kalendermonaten nach Eingang des vollständigen Leistungsantrags beim Leistungsträger beginne. Diese Frist sei schon Ende Januar 1996 abgelaufen.

Der Versicherte hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18.08.1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17.10.1997 zu verurteilen, die gesetzlichen Zinsen mit Wirkung ab 01.10.1996 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen, dem Versicherten stehe kein Zinsanspruch zu, weil dessen Anspruch erst durch den am 24.07.1997 geschlossenen Vergleich festgestellt worden und demgemäß die Fälligkeit der Pflegegeldleistung in analoger Anwendung von § 44 SGB I erst zum 01.08.1997 eingetreten sei. Da sie vor Ablauf eines Monats nach Fälligkeit, nämlich am 08.08.1997 gezahlt habe, stehe dem Versicherten kein Zinsanspruch zu.

Das SG hat der Klage durch Urteil vom 06.03.1998 stattgegeben und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, dem Kläger stünden 4 % Zinsen für die Zeit vom 01.10.1996 bis zum 31.07.1997 nach § 44 Abs. 1 SGB I zu. Die Verzinsung beginne einen Monat nach der am 01.09.1996 eingetretenen Fälligkeit. Frühestens habe die Leistung sechs Monate nach Eingang des vollständigen Leistungsantrages bei der Beklagten beginnen können (§ 44 Abs. 2 SGB I). Diese Frist sei im September 1996 bereits abgelaufen. Die Beklagte könne sich auch nicht auf § 44 Abs. 2, 2. Halbsatz SGB I stützen. Denn Leistungen auf Pflegegeld seien nur auf (den hier 1995 gestellten) Antrag zu gewähren.

Auf das ihr am 11.05.1998 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 14.05.1998 Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt, der das SG mit Beschluss vom 29.06.1998 abgeholfen hat.

Die Beklagte verfolgt mit ihrer Berufung ihre Auffassung weiter. Sie bezieht sich auf das Urteil des Bundessozialgerichts -BSG- vom 30.01.1991 (in Sozialrecht -SozR- 3-1200, § 44 Nr. 3), wonach bei Abschluß eines Vergleichs über den streitigen Anspruch der ursprüngliche Leistungsantrag erledigt sei. Demgemäß könne für die Beurteilung nur an den (neuen) Bewilligungszeitpunkt zur Zeit des Vergleichs angeknüpft werden.

Sie beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 06.03.1998 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der nach dem Tode des Versicherten als Kläger in das Verfahren eingetretene Alleinerbe des Versicherten beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Wegen weiterer Einzelheiten nimmt der Senat Bezug auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten sowie der von den Beteiligten gewechselten Schriftsätze. Auf den Inhalt der beigezogenen Streitakte des SG Düsseldorf - Az.: S 34 P 173/96 - wird gleichfalls verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die vom Sozialgericht zugelassene Berufung der Beklagten ist begründet.

Dem Kläger steht als Rechtsnachfolger des Versicherten (§§ 56, 58 SGB I) kein Anspruch auf Verzinsung des ab dem 01.09.1996 gewährten Pflegegeldes für die Zeit vom 01.10.1996 bis zum 31.07.1997 zu.

Der Anspruch ist allerdings nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil die Beteiligten am 24.07.1997 einen Vergleich über die Leistungsgewährung (ab 01.09.1996) geschlossen haben. Der Zinsanspruch ist durch diese Vereinbarung weder ausdrücklich noch stillschweigend ausgeschlossen worden, wie schon das SG zutreffend betont hat. Bei einer typischen Vergleichsfassung wie im vorliegenden Fall, in welchem sich die Beteiligten über den Eintritt aller tatsächlichen Voraussetzungen, also auch der letzten fehlenden Voraussetzung, des Leistungsanspruchs geeinigt haben, also eine Bestimmung über den Leistungsbeginn getroffen haben, bleibt eine Entscheidung über den Eintritt einer Verzinsung offen (vgl. dazu die von der Beklagten bereits genannte Entscheidung des BSG in SozR 3-1200 § 44 Nr. 3; siehe zur Problematik auch BSG, Urteil vom 27.11.1991, Az. 9a RV 29/90 = Juris-Dokument 20213; vgl. auch BSG SozR 1200 § 44 Nr. 14; BSG Urteilssammlung der Krankenkassen -USK- 86107). Weder aus den früheren Schriftsätzen noch aus den Erklärungen der Beteiligten im Verhandlungstermin vor dem Sozialgericht am 24.07.1997 läßt sich erkennen, daß ein Zinsanspruch streitig gewesen sein sollte. Ersichtlich wollten sich die Beteiligten in der Sache nur über den Leistungsbeginn einigen. Soweit Nebenforderungen - im weitesten Sinne - ausgeglichen werden sollten, konnte allenfalls - wegen der gerichtlichen Kosten - prozessual auf die Bestimmung des § 195 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zurückgegriffen werden. Entsprechende Regelungen für den Wegfall einer Verzinsung finden sich nicht.

Der Zinsanspruch richtet sich allein nach § 44 Abs. 1 und Abs. 2, 1. Halbsatz SGB I. Die Voraussetzungen dieser Norm liegen jedoch nach Auffassung des Senats - im Gegensatz zur Meinung des Sozialgerichts - nicht vor.

Dem Anspruch steht entgegen der Meinung der Beklagten auch nicht das Fehlen oder der Wegfall eines Leistungsantrags entgegen. Der Leistung lag nämlich ein seit mindestens sechs Monaten existenter Antrag i.S.v. § 44 Abs. 2, 1. Halbsatz SGB I zugrunde, der bereits 1995 gestellt worden war und für den gesamten Anspruchszeitraum fortgalt. Dieser Antrag ist auch nicht durch Abschluß des Vergleichs stillschweigend entfallen. Denn er bildete weiterhin die materielle Grundlage für die Leistungsbewilligung nach §§ 33 und 37 SGB XI. Im Gegensatz zur Auffassung des für Soziale Entschädigungsfragen zuständigen 9. Senates des BSG hält der erkennende Senat die Auffassung, daß infolge des Vergleichs der frühere Antrag - wohl wegen der mit dem Vergleich akzeptierten ablehnenden Entscheidung für die Vergangenheit - seine Wirksamkeit verloren habe (BSG a.a.O.; ähnlich wohl auch Hauck-Haines-Freischmidt, Loseblatt-Kommentar zum SGB I, Stand 01.05.2000, § 44, Rand-Nr. 6 b für vorzeitige Anträge; vgl. auch Benz in Die Sozialversicherung 1982, S. 29), nicht für überzeugend.

Der Senat stützt sich dabei nicht nur auf den Wortlaut, sondern auch auf die Systematik der Norm. Die Vorschrift des § 44 SGB I unterscheidet - im Gegensatz zur Auffassung des BSG (a.a.O.), nicht zwischen Änderungen, die vorhersehbar sind, und solchen, die nicht vorhersehbar sind. Sinn und Zweck der sechsmonatigen Frist des § 44 Abs. 2 SGB I ist es, der Behörde eine ausreichende Frist zur Prüfung des Sachverhaltes, aber auch zur geschäftsmäßigen Bearbeitung und Abwicklung zu geben. Dabei sind naturgemäß sowohl vorhersehbare als auch unvorhersehbare oder noch nicht bewiesene Tatbestandselemente zu beachten und zu berücksichtigen. In Kenntnis dieses Umstandes hat der Gesetzgeber in § 44 SGB I aber keine Differenzierung nach vorherzusehenden oder nicht vorherzusehenden Tatbestandselementen getroffen. Vielmehr ist die Forderung nach einem vollständigen Antrag und die daran anknüpfende, erst später und nicht sofort einsetzende Verzinsungspflicht der Beklagten allein Ausdruck der dem Berechtigten obliegenden Pflicht zur Mitwirkung am Verfahren (vgl. dazu etwa Kasseler Kommentar - Seewald, Stand April 2000, § 44 SGB I, Rand-Nr. 8 unter Hinweis auf die Mitwirkungspflichten aus § 60 SGB I). Hat aber der Berechtigte alles in seiner Macht Stehende getan, um die Leistungspflicht des Sozialleistungsträgers auszulösen, dann dürfen keine, über das Erfordernis des Antrags hinausgehenden Hindernisse einer Leistungs- und Verzinsungspflicht entgegengestellt werden.

Zudem gehört der Umstand der Tatbestandserfüllung, also der Anspruchsentstehung, zum Bereich der Umstände, die systematisch dem Begriff der "Fälligkeit" zuzuordnen sind (vgl. § 41 SGB I), also lediglich die kürzere (Monats-)Frist des § 44 Abs. 1 SGB I auslösen und begründen.

Damit weicht der Senat zwar von der o.a. dargestellten Meinung des BSG ab; im Ergebnis kommt er jedoch zum selben Ergebnis. Entscheidend ist nach Auffassung des erkennenden Senats, daß der Normzweck des § 44 SGB I in Fällen wie dem vorliegenden - trotz Erfüllung des Wortlauts - einer Verzinsung entgegensteht.

Der zu verzinsende Anspruch mag zwar aufgrund des Anerkenntnisses der Beklagten im Vergleich vom 24.07.1997 schon am 01.09.1996 als entstanden gelten. Jedoch konnte zu diesem Zeitpunkt nach Sinn und Zweck der Verzinsungsregelung des § 44 SGB noch keine zinsbelastete Zahlungsverpflichtung der Beklagten entstehen. Denn im September 1996 stand überhaupt nicht fest, daß dem Kläger ein Anspruch auf Pflegegeld zustehen könnte. Wenn eine solche Feststellung erst durch die Beteiligten im Juli 1997 übereinstimmend im Wege eines Vergleichs getroffen worden ist, so trägt dies allein der unsicheren Beweis- und Prozeßsituation Rechnung, ob und wann die einen Zahlungsanspruch nach § 37 SGB XI auslösende erhebliche Pflegebedürftigkeit entstanden sein sollte. Diese Frage ist bei Abschluß des Vergleichs letztlich offengeblieben und ist erst bei Vergleichsabschluß durch gegenseitiges Nachgeben der Beteiligten gelöst worden. Wenn aber die Bestimmung der Anspruchsentstehung erst zur Beseitigung tatsächlicher oder rechtlicher Unklarheiten im Laufe des (gerichtlichen) Verfahrens erfolgt, wäre es verfehlt, eine frühere Fälligkeit einsetzen zu lassen (ähnlich zu Fragen einer Änderung der rechtlichen Grundlage: BSGE 56, 1 ff.).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG), weil er in der Begründung von der genannten Entscheidung des BSG abweicht und die aufgeworfene Rechtsfrage zur Verzinsung nach Abschluß eines Vergleichs noch nicht abschließend geklärt sieht.
Rechtskraft
Aus
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