L 16 KR 162/08

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 8 KR 264/07
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 16 KR 162/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 45/09 B
Datum
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 18. September 2008 geändert. Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob der Kläger mit dem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel Medikinet® retard (Wirkstoff: Methylphenidat), das unter die Anlage III des Bundesbetäubungsmittelgesetzes (BMTG) fällt, zu versorgen ist bzw. ob ihm für die Vergangenheit ein Anspruch auf Kostenerstattung (KE) zusteht.

Bei dem am 00.00.1978 geborenen Kläger, der Mitglied der Beklagten ist, traten nach Angaben der Mutter erstmals im Alter von ca. neun Monaten epileptische Anfälle auf, die der Diagnose einer tuberösen Hirnsklerose zugeordnet werden konnten. Dabei handelt es sich um eine genetische Erkrankung, die mit Fehlbildungen und Tumoren des Gehirns, Hautveränderungen und meist gutartigen Tumoren in anderen Organsystemen einhergeht und klinisch häufig durch epileptische Anfälle und kognitive Behinderungen gekennzeichnet ist (Leitlinien Pädiatrie der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin - A 22 - Tuberöse Skleriose bei www1.us.elsevierhealth.com) Dennoch verlief die Entwicklung des Klägers bis zum vierten Lebensjahr relativ normal. Er erfuhr dann einen ausgeprägten Krankheitsschub mit der Folge, dass er innerhalb von sechs Monaten das Sprechen vollständig verlernte und zeitweise sogar rollstuhlpflichtig wurde. Parallel dazu entwickelte sich eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS), verbunden insbesondere mit Fremd- und Autoaggression, Unruhe und Suchtverhalten, bezogen auf unmäßiges Ess- und Trinkverhalten. Die Eltern konnten ihn - auch wegen seiner wachsenden Körperkräfte und der sich manifestierenden deutlichen cognitiven Einschränkungen - ab dem Alter von neun Jahren nicht mehr zu Hause betreuen. Seitdem lebte er zunächst in einer geschlossenen Einrichtung, seit ca. acht Jahren befindet er sich in einer Wohngruppe mit fünf anderen jüngeren behinderten Menschen. Bis 1999 war eine 1:1-Betreuung mit ständiger nächtlicher und erheblicher Fixierung auch am Tage wegen des auto- und fremdaggressiven Verhaltens des Klägers erforderlich. Seit der Einleitung einer Behandlung mit dem Amphetamin Ritalin® und Ritalin RS® (Wirkstoff: Methylphenidat) nahm die Konzentrationsfähigkeit des Klägers deutlich zu. Er konnte er in die Tagesstruktur der Wohngruppe eingepasst und für seine Umgebung und Aktivitäten interessiert werden. Er ist auch in einer Werkstatt für Behinderte tätig.

Im Mai 2007 beantragte die Mutter des Klägers als dessen Betreuerin unter Vorlage von Stellungnahmen bzw. Attesten des Kinderarztes Dr. W aus O und des Neurologen und Psychiaters E. E die Versorgung mit dem Arzneimittel Medikinet® retard (Wirkstoff: Methylphenidat), bei dem es sich im Verhältnis zu Ritalin RS® um ein preisgünstigeres, aber wirkstoffgleiches Generikum handelt. Dessen arzneimittelrechtliche Zulassung beschränkt sich wie bei den anderen Präparaten mit dem Wirkstoff Methylphenidat auf die Behandlung von Kindern ab sechs Jahren und Jugendlichen mit ADHS als Teil eines umfassenden Behandlungsprogramms, wenn sich andere therapeutische Maßnahmen allein als unzureichend erwiesen haben und sollte nach Herstellerangaben immer im Rahmen eines Gesamtbehandlungskonzeptes und nach sorgfältiger Abwägung der zu erwartenden Vorteile und etwaiger Nachteile erfolgen (Rote Liste 2008).

Nach einer Anhörung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 19.07.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.09.2007 ab. Die Voraussetzungen für einen sog. Off-Label-Use des Arzneimittels seien nicht erfüllt. Weder sei die Zulassung zur Behandlung von ADHS bei Erwachsenen bereits beantragt worden noch seien Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Studie Phase III veröffentlicht bzw. lägen über die Qualität und Wirtschaftlichkeit des Arzneimittels in dem erweiterten Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen vor, aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über den Nutzen des Arzneimittels bestehe. Es handele sich vorliegend auch nicht um die Behandlung einer lebensbedrohlichen Erkrankung.

Mit der dagegen gerichteten, am 08.10.2007 bei dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhobenen Klage hat der Kläger eine Schilderung der Wohnhausleitung vom 23.10.2007 sowie der Gemeinnützigen Werkstätten O vom 09.12.2005 und aus Januar 2006 über die Entwicklung seines Gesundheitszustandes mit und ohne die streitgegenständliche Medikation vorgelegt, auf die Bezug genommen wird. Ohne die Verabreichung des medizinisch notwendigen Arzneimittels Medikinet® retard sei seine Beaufsichtigung kaum gewährleistet. Je nach Situation benötige er dann nicht nur eine, sondern zwei Aufsichtspersonen, um seine und die Sicherheit Dritter zu gewährleisten. Erstmals übernahmen die Eltern des Klägers - dieser verfügt selbst nur über ein Einkommen in Höhe von ca. 80 EUR aus der Tätigkeit in der Werkstatt für Behinderte - die Kosten des auf Privatrezept verordneten Arzneimittels am 19.04.2007 (Kosten für die 50-Stück-Packung einschließlich BTM-Gebühr: 88,49 EUR).

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19.07.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.09.2007 zu verurteilen, seine Versorgung mit dem ärztlich verordneten Arzneimittel Medikinet® retard (Wirkstoff: Methylphenidat) sicher zu stellen und die in der Vergangenheit aufgewandten Kosten zu übernehmen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat den angefochtenen Bescheid als rechtmäßig erachtet. Zur weiteren Begründung hat sie sich neben verschiedenen landessozialgerichtlichen Entscheidungen auf Schreiben des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vom 31.03.2008 und des Herstellers des Arzneimittels, der Fa. Medice GmbH, vom 21.11.2007 berufen, aus denen sich ergibt, dass die im März 2007 beantragte Zulassungserweiterung für die Indikation "ADHS im Erwachsenenalter" für Medikinet® retard aus fachlichen Gründen abgelehnt wurde, obwohl eine klinische Studie Phase III vorlegen hatte.

Zur weiteren Ermittlung des Sachverhalts in medizinischer Hinsicht hat das SG einen Befundbericht des den Kläger behandelnden Neurologen und Psychiaters E. E eingeholt. Dieser hat im Wesentlichen mitgeteilt, die Situation eskaliere sofort im Sinne aufbrechender Aggressionen, wenn der Kläger die streitgegenständliche Medikation nicht erhalte. Behandlungsalternativen außer der Gabe wirkstoffgleicher Arzneimittel, die jedoch ebenfalls zur Behandlung Erwachsener nicht zugelassen seien, gebe es nicht.

Mit Urteil vom 18.09.2008 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19.07.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.09.2007 verurteilt, die Versorgung des Klägers mit dem ärztlich verordneten Arzneimittel Medikinet® retard (Wirkstoff: Methylphenidat) sicherzustellen und die in der Vergangenheit aufgewandten Kosten unter Berücksichtigung der Zuzahlungsregelungen zu übernehmen.

Dem Kläger stehe dieser Versorgungsanspruch außerhalb des zugelassenen Anwendungsbereichs des Arzneimittels Medikinet® retard unter Berücksichtigung der vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Beschluss vom 06.12.2005 (Az.: 1 BvR 347/98, Sozialrecht (SozR) 4-2500 § 27 Nr. 5) gemachten Vorgaben zu. Unter Berücksichtigung dieser Entscheidung stehe den Versicherten ein Versorgungsanspruch auch dann zu, wenn eine die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung vorliege (Art. 2 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip), es an anderen vertragsärztlichen Therapiemöglichkeiten mangele und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestehe.

Gemäß den weiteren Ausführungen des BVerfG habe sich die Gestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) an der objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu stellen. Zu den Rechtsgütern des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gehöre nicht nur das Leben, sondern auch die körperliche Unversehrtheit. Dies bedeute, dass auch der entsprechende Behandlungsanspruch einer die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung und nicht nur einer lebensbedrohlichen Erkrankung gewährleistet sein müsse (ebenso: SG Hamburg, Urt. vom 07.02.2006, Az.: S 48 KR 1620/03, www.sozialgerichtsbarkeit.de; aA: BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 10, BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 6, BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 8). Vorliegend handele es sich bei der Erkrankung des Klägers mit einem stark ausgeprägten ADHS jedenfalls um eine die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung, da nach den einschlägigen Arzneimittelrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses bereits eine mittelgradige Demenz und die mittelgradige Episode einer Depression schwerwiegende Erkrankungen in diesem Sinne darstellten (Punkt 16.4.17 und 16.4.18). Darüber hinaus sei im vorliegenden Einzelfall zu berücksichtigen, dass sich der Kläger aufgrund seines auto- und fremdaggressiven Verhaltens ohne die medizinisch notwendige Medikation in lebensgefährliche Situationen bringen könne. Alternativen vertragsärztlicher Therapien stünden nicht zur Verfügung. Schließlich sei eine nicht entfernt liegende Aussicht auf einen Behandlungserfolg gegeben. Dies ergebe sich bereits aus dem individuell gegebenen erfolgreichen Behandlungsverlauf, wie von der Wohnhausleitung beschrieben und vom behandelnden Neurologen bestätigt. Darüber hinaus folge dies aus der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde zum ADHS im Erwachsenenalter (Punkt V. 2. B. zu B1: "Die Stimulanzienbehandlung mit Methylphenidat wird von den Autoren bei den gegebenen Optionen mit der Evidenzstufe 1 B (Empfehlungsgrad A) als wirksam bewertet und als medikamentöse Therapie 1. Wahl empfohlen."). Eine höhere Evidenzstufe bzw. ein Wirksamkeitsnachweis wie nach der Rechtsprechung des BSG zum Off-Label-Use sei nach den Ausführungen des BVerfG nicht notwendig, da eine bereits auf Indizien beruhende Erfolgsaussicht ausreichend sei.

Es bleibe der Entscheidung der Beklagten anheim gestellt, ob sie zukünftig dem Versorgungsanspruch durch eine KE nach privatärztlicher Verordnung nachkomme oder dem Kläger die Medikation durch eine entsprechende Genehmigung und Verordnungsempfehlung gegenüber dem behandelnden Arzt als Sachleistung zur Verfügung stelle. In diesem Sinne habe der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen bereits 1999 eine Neufassung der Arzneimittel-Richtlinien beschlossen, nach der mit Zustimmung der Krankenkasse eine Verordnung außerhalb zugelassener Indikationen zulässig sein solle. Diese geänderten Richtlinien seien jedoch lediglich aufgrund kartellrechtlicher Einwände nicht in Kraft getreten (vgl. BSG SozR 3-2500 § 31 Nr. 8). Die Beklagte sei zur Versorgung bzw. Kostenübernahme nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften verpflichtet, d.h. unter Berücksichtigung der gesetzlichen Zuzahlungsregelungen.

Gegen das ihr am 26.09.2008 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 09.10.2008 Berufung eingelegt, zu deren Begründung sie ergänzend vorträgt, das angefochtene Urteil vermöge nicht zu überzeugen. Die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use lägen nicht vor. Dass die Studienlage derzeit nicht ausreiche, einen Anspruch entsprechend der zum Off-Label-Use entwickelten Kriterien zu rechtfertigen, ergebe sich auch aus einer Stellungnahme der Sozialmedizinischen Expertengruppe 6 "Arzneimittelversorgung" der MDK-Gemeinschaft aus Juli 2008. Ein Anspruch auf Versorgung mit dem streitgegenständlichen Arzneimittel lasse sich aber auch nicht auf den o. g. Beschluss des BVerfG vom 06.12.2005 (a. a. O.) stützen. Das bei dem Kläger vorliegende ADHS sei trotz seiner Ausprägung im Sinne eines auto- und fremdaggressiven Verhaltens nicht einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung vergleichbar. Eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik liege bei dem Kläger nicht vor. Zu der in der Vergangenheit erfolgten Versorgung des Klägers zu ihren, der Beklagten, Lasten mit Ritalin® retard gebe es keine Erkenntnisse. Es sei jedenfalls von ihrer Seite aus kein Genehmigungsverfahren durchgeführt worden. Die auch ab 1999 unzulässige Versorgung des Klägers mit diesem Arzneimittel sei offensichtlich nicht aufgefallen. Soweit das SG im Übrigen zur Erstattung der in der Vergangenheit aufgewendeten Kosten verurteilt habe, seien diese nicht konkret ermittelt und beziffert worden. Dies stehe einem Anspruch bereits entgegen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

das Urteil des SG Düsseldorf vom 18.09.2008 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Düsseldorf vom 18.09.2008 mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass das Urteil dahingehend zu ändern sei, dass Kostenerstattung in Höhe von 2.316,82 EUR geleistet wird.

Zur Begründung bezieht er sich auf das seiner Auffassung nach zutreffende erstinstanzliche Urteil. Ein Anspruch liege bereits im Hinblick auf einen zulässigen Off-Label-Use vor. Inzwischen lägen Studien der Phase III vor, die die Wirksamkeit des Arzneimittels auch bei der Behandlung des ADHS bei Erwachsenen belege. Auch gelte Medikinet® retard in der Praxis auf Grund der guten Erfolge als Mittel der Wahl. Inzwischen seien in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Schweden Zulassungen für die o. g. Indikation erteilt worden. Ergänzend trägt der Kläger vor, es seien bis März 2009 insgesamt 2.316,82 EUR für die Beschaffung von Medikinet® retard verauslagt worden. Zur weiteren Begründung verweist der Kläger auf entsprechende privatärztliche Verordnungen und Apothekenquittungen. Er werde jeweils zu Beginn eines Jahres von weiteren Zuzahlungen befreit, nachdem er einmalig ca. 43 EUR geleistet habe, die aber wegen der Vielzahl der über Medikinet® retard hinaus verordneten Arzneimittel bei dessen Finanzierung keine Rolle mehr spielten.

Der Senat hat eine ergänzende Auskunft des Herstellers von Medikinet® retard, der Firma Medice Arzneimittel Pütter GmbH & Co KG aus Iserlohn, eingeholt. Diese hat unter dem 19.01.2009 u. a. mitgeteilt, im Zusammenhang mit der im März 2007 beantragten Erweiterung der Zulassung auch für Erwachsene sei in enger Abstimmung mit der Zulassungsbehörde eine klinische Studie Phase III durchgeführt worden. Es habe sich ein signifikanter Unterschied zu Gunsten von Verum im Vergleich zu Placebo ergeben. Als Ergebnis eines Gespräches mit der Zulassungsbehörde am 08.11.2007 seien auf der Grundlage der Studienergebnisse noch einige zusätzliche Daten zu erheben. Dabei gehe es um Fragen der Dosierung und geschlechtsspezifischer Unterschiede beim Ansprechen auf den Wirkstoff Methylphenidat. Die entsprechende Folgestudie sei im September 2008 eingeleitet worden. Abschließende Ergebnisse lägen noch nicht vor.

In dem Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 19.03.2009 hat der Senat die Mutter des Klägers und den den Kläger begleitenden L F, der in der Wohneinrichtung des Klägers tätig ist, eingehend befragt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift der o. g. Sitzung verwiesen. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Senat ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Sach- und Rechtslage und des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf den Inhalt der Prozess- sowie der Verwaltungsakte Bezug genommen, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der Beratung und Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Der Senat hat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden können, vgl. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist begründet. Das SG hat zu Unrecht mit Urteil vom 18.09.2009 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19.07.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.09.2007 verurteilt, die Versorgung des Klägers mit dem ärztlich verordneten Arzneimittel Medikinet® retard (Wirkstoff: Methylphenidat) sicherzustellen und die in der Vergangenheit aufgewandten Kosten unter Berücksichtigung der Zuzahlungsregelungen zu übernehmen. Der angefochtene o. g. Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig. Weder besteht ein in die Zukunft gerichteter Sachleistungsanspruch des Klägers noch ist ein Anspruch auf KE gegeben.

Ein Anspruch auf - zukünftige - Versorgung mit Arzneimitteln zu Lasten der GKV besteht nur nach Maßgabe des § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 i. V. m. § 31 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Diese Bestimmungen ergeben im Kontext mit den allgemeinen Regelungen der §§ 2 Abs. 1 S. 3, 12 Abs. 1 SGB V, dass im Rahmen der GKV Fertigarzneimittel mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 S. 1, § 12 Abs. 1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V umfasst sind, wenn ihnen die gemäß § 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz (AMG) erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (vgl. BSG, Urteilssammlung der Krankenversicherung (USK) 2007-25; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 7; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 4 m. w. N.). Der Hauptwirkstoff von Medikinet® retard - Methylphenidat - ist zwar u. a. in den USA als Fertigarzneimittel für die Behandlung auch an dem ADHS erkrankter Erwachsener zugelassen. Weder in Deutschland noch EU-weit gibt es indes für methylphenidathaltige Fertigarzneimittel eine auf diese Indikation und Altersgruppe bezogene Zulassung (siehe auch Beschl. des erkennenden Senates vom 13.01.2009, Az.: L 16 B 85/0 KR, www.juris.de, und die dort im Einzelnen zitierte weiterführende Rechtsprechung). Die bestehende Arzneimittelzulassung im Ausland entfaltet nicht zugleich auch entsprechende Rechtswirkungen für Deutschland. Weder das deutsche Recht noch das Europarecht sehen eine solche Erweiterung der Rechtswirkungen der nur von nationalen Behörden erteilten Zulassungen ohne ein entsprechendes vom Hersteller eingeleitetes sowie positiv beschiedenes Antragsverfahren vor (vgl. im Einzelnen BSG USK 2007-25; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 1).

Eine zulassungsüberschreitende Anwendung von Medikinet® retard, das nur über eine Zulassung zur Behandlung von ADHS bei Kindern ab dem sechsten Lebensjahr und bei Jugendlichen verfügt, auf Kosten der GKV muss ebenfalls ausscheiden. Ein solcher sog. Off-Label-Use kommt nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung (SozR 3-2500 § 31 Nr. 8 m. w. N.) nur in Betracht, wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn keine andere Therapie verfügbar ist und wenn aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (siehe BSG USK 2007-25; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 5, jeweils m. w. N.).

Zwar handelt es sich auch nach Ansicht des erkennenden Senates bei der bei dem Kläger bestehenden Form des ADHS wegen der damit verbundenen erheblichen Auto- und Fremdaggression und starken Konzentrationsdefizite um eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Krankheit. Wie die Mutter des Klägers, aber auch die ihn behandelnden Ärzte und das Betreuungspersonal in der Wohneinrichtung sowie in der Werkstatt für Behinderte glaubhaft und in Übereinstimmung mit dem persönlichen Eindruck des Senates von dem Kläger angegeben haben, ist der über erhebliche Körperkräfte verfügende Kläger, auch im Hinblick auf die zugleich stark eingeschränkten cognitiven Fähigkeiten, nur mit höherem Betreuungsaufwand vor Selbst- und Fremdschädigungen zu bewahren, wenn er nicht durch ein die Aggressionen weitgehend verhinderndes und seine Konzentrationsfähigkeit förderndes methylphenidathaltiges Arzneimittel behandelt wird. Dass er in unbehandeltem Zustand sozial fast völlig isoliert und keine pädagogische Arbeit mit ihm zu leisten ist, vermag der Senat nachzuvollziehen. Zumutbare Behandlungsalternativen scheint es nicht zu geben. Zumindest vermochten weder die behandelnden Ärzte noch der von der Beklagten befragte MDK solche Alternativen zu benennen. Wegen der ebenfalls fehlenden auf die Behandlung Erwachsener bezogener Zulassungen aller anderen methylphenidathaltigen Arzneimittel kann der Kläger auch auf diese nicht verwiesen werden.

Es fehlt jedoch an der für einen Off-Label-Use auf Kosten der GKV erforderlichen Erfolgsaussicht. Wie das BSG (USK 2007-25 m. w. N.) dargelegt hat, kann von hinreichenden Erfolgsaussichten nur dann ausgegangen werden, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder die Zulassung bzw. deren Erweiterung bereits beantragt worden ist, Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (BSG a. a. O.). Der Hersteller des Arzneimittels hat eine Erweiterung der Zulassung auf die Behandlung Erwachsener mit ADHS zwar bereits im Jahre 2007 beantragt und dazu eine Studie der Phase III vorgelegt. Wie der Senat durch Rückfragen bei dem Hersteller und der Zulassungsbehörde geklärt hat, reicht diese Studie für die positive Bescheidung - auch zur Überzeugung des Herstellers - jedoch nicht aus. Die im September 2008 in Auftrag gegebene erweiterte Studie liegt noch nicht vor. Bei einem solchen Sachstand vermag der Hinweis des Prozessbevollmächtigten des Klägers auf den behaupteten, in einschlägigen Fachkreisen bestehenden Konsens über die Wirksamkeit des Einsatzes von Medikinet® retard bei Erwachsenen mit ADHS und die Notwendigkeit der Therapierung mit diesem Arzneimittel die notwendigen Erfolgsaussichten nicht zu begründen. Zum einen gibt es, wie eine Internetrecherche ohne Weiteres zeigt, eine nicht unbeachtliche Zahl von Stimmen, die wegen der zum Teil beträchtlichen Neben- und Folgewirkungen der Behandlung mit Methylphenidaten deren Einsatz ablehnen. Zum anderen aber würden sich die Gerichte bei bereits eingeleitetem Zulassungsverfahren - unter Umgehung des gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrens und ohne die Fachkunde der Zulassungsbehörde aufweisen zu können - an deren Stelle setzen, wenn insoweit ein Abstellen auf den Konsens in Fachkreisen ausreichte.

Es handelt sich vorliegend auch nicht um einen sog. Seltenheitsfall - über 6.000 Erkrankte weltweit begründen keinen Seltenheitsfall einer Krankheit (BSG, Urt. vom 28.2.2008, Az.: B 1 KR 16/07 R) -, bei dem sich eine Krankheit und ihre Behandlung einer systematischen Erforschung entzieht und bei dem eine erweiterte Leistungspflicht der Krankenkassen in Betracht zu ziehen wäre (vgl. dazu BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 1).

Der von dem Kläger speziell für seinen Einzelfall geltend gemachte Behandlungserfolg ist ebenfalls unerheblich, weil die streitige Therapie wissenschaftlich anerkannt wirksam sein muss, um den sich für den Behandlungs- und Versorgungsanspruch eines Versicherten aus § 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V ergebenden Einschränkungen genügen zu können; der Anspruch umfasst folglich nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität dem allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entspricht. Hierzu genügt es nicht, dass die Arzneimitteltherapie bei einem Versicherten nach seiner eigenen Ansicht oder derjenigen seiner Ärzte positiv gewirkt haben soll (vgl. z. B. BSG SozR 3-2500 § 27 Nr. 5). Zu Qualität und Wirksamkeit eines Arzneimittels muss es vielmehr grundsätzlich zuverlässige wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen in dem Sinne geben, dass der Erfolg der Behandlungsmethode in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Anzahl von Behandlungsfällen belegt ist (vgl. z. B. BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 1; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 3). Dies ist bei einer erteilten Zulassung der Fall, die vorliegend unstreitig noch nicht gegeben ist.

Entgegen der Auffassung des SG führt schließlich die verfassungskonforme Auslegung derjenigen Normen des SGB V, die einem verfassungsrechtlich begründeten Anspruch auf Arzneimittelbehandlung entgegenstehen, zu keinem anderen Ergebnis (vgl. BVerfG, Beschl. vom 06.12.2005, SozR 4-2500 § 27 Nr. 5). Diese Auslegung hat zur Folge, dass im Rahmen der Anspruchsvoraussetzungen von § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 und § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit ausnahmsweise bejaht werden müssen, obwohl ein Arzneimittel bzw. eine Behandlungsmethode an sich von der Versorgung zu Lasten der GKV ausgeschlossen ist. Die verfassungskonforme Auslegung setzt u. a. voraus, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt (vgl. BSG USK 2007-25; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 7). Daran fehlt es zur Überzeugung des Senates vorliegend.

Mit den genannten Krankheits-Kriterien des BVerfG (Beschl. vom 06.12.2005, a. a. O.) wird eine strengere Voraussetzung umschrieben, als sie mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung für die Eröffnung des Off-Label-Use formuliert ist; denn hieran knüpfen weitergehende Folgen an. Ohne einschränkende Auslegung ließen sich fast beliebig vom Gesetzgeber bewusst gezogene Grenzen überschreiten. Entscheidend ist, dass das vom BVerfG herangezogene Kriterium bei weiter Auslegung sinnentleert würde, weil nahezu jede schwere Krankheit ohne therapeutische Einwirkung irgendwann auch einmal lebensbedrohende Konsequenzen nach sich zieht. Das kann aber ersichtlich nicht ausreichen, das Leistungsrecht des SGB V und die dazu ergangenen untergesetzlichen Regelungen nicht mehr als maßgebenden rechtlichen Maßstab für die Leistungsansprüche der Versicherten anzusehen (vgl. BSG USK 2007-25 m. w. N.). Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen nur, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Ähnliches kann für den gegebenenfalls gleich zu stellenden, nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten (BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 8).

Anhaltspunkte dafür, dass das bei dem Kläger diagnostizierte ADHS, das unbehandelt die Einschränkung seiner Lebensqualität bewirkt, lebensbedrohlich oder regelmäßig tödlich verlaufend ist, bestehen nicht. Dies haben weder die behandelnden Ärzte behauptet noch hat dies der MDK bejaht. Eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung (vgl. BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 7) stellt das ADHS bei dem Kläger ebenfalls nicht dar. Die unzweifelhaft auftretenden Einschränkungen in der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erreichen diese Anforderung nicht. Die bei unterbleibender Behandlung mit Medikinet® retard auftretende Auto- und Fremdaggression führt bei entsprechend intensiver Betreuung in der Regel nicht einmal zu Schäden bei dem Kläger selbst oder Personen in seinem Umfeld, wenn sie auch die Teilhabe des Klägers am Leben in der Gemeinschaft deutlich beeinträchtigt. Die Schwelle einer notstandsähnlichen Situation im oben beschriebenen Sinne sieht der Senat nicht als erreicht an.

Ebenso besteht kein Anspruch des Klägers auf KE in Höhe der in der Vergangenheit verauslagten, nunmehr konkret bezifferten und nachgewiesenen Beträge (siehe zur Verpflichtung der Tatsacheninstanzen, auf die insoweit erforderliche Konkretisierung des Antrages und die Ergänzung des Tatsachenvortrags hinzuwirken: §§ 106 Abs. 1, 112 Abs. 2, 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG); vgl. BSG SozR 3-2500 § 37 Nr. 1; BSG SozR 4-2500 § 39 Nr. 2). Der Kläger kann KE für die Beschaffung des streitgegenständlichen Arzneimittels nicht beanspruchen, weil die Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 SGB V, der einzig in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage (vgl. BSG, Urt. vom 16.12.2008, Az.: B 1 KR 11/08 R, www.juris.de m. w. N.) nicht vorliegen. Die Regelung bestimmt: "Hat die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war". Dabei reicht der Anspruch auf KE nicht weiter als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch; er setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte und zukünftig zu beschaffende Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (st. Rspr., vgl. BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 9). Daran fehlt es bereits vorliegend; denn dem Kläger steht ein entsprechender Sachleistungsanspruch nicht zu. Ob darüber hinaus der sog. Beschaffungsweg - Kausalität zwischen der zu Unrecht erfolgten ablehnenden Entscheidung der Krankenkasse und der dadurch bedingten Entstehung von Kosten bei dem Versicherten (vgl. BSG, Urt. vom 28.02.2008, Az.: B 1 KR 15/07, www.juris.de) - eingehalten worden ist, kann dahin stehen: Der ablehnende Bescheid der Beklagten wurde erst am 19.07.2007 erteilt, während das erste Privatrezept, das zu Kosten bei dem Kläger führte, bereits im März 2007 ausgestellt wurde.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Anlass für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG hat nicht bestanden.
Rechtskraft
Aus
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