L 6 U 26/05

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 6 U 163/02
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 6 U 26/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob dem Kläger wegen der Folgen eines anerkannten Arbeitsunfalls vom 1. August 2000 an eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 20 vom Hundert (vH) zu gewähren ist.

Der 1964 geborene Kläger erlitt am 9. Februar 1987 bei versicherter Tätigkeit als Gleisbauer einen Unfall, als ihm ein Metallsplitter in das linke Auge eindrang und dabei eine Verletzung der Hornhaut und der Sklera (Lederhaut) hinterließ.

Bereits Ende März 1974 war im Rahmen einer Schuluntersuchung zufällig ein schlechtes Sehvermögen des Klägers auf dem linken Auges festgestellt worden. Vom 8. April bis zum 17. Mai 1974 hatte er sich stationär in der Augenklinik der M.-L.-U. H.-W. befunden, wo unter der Diagnose einer ausgedehnten Ablatio retinae (Netzhautablösung) links mit großem Orariss (Netzhauteinriss) im unteren Bereich am 23. April 1974 die operative Versorgung mit einer parallel zum Limbus (Auge) vernähten Plombe erfolgt war. Das Sehvermögen hatte sich sowohl am Aufnahme- als auch am Entlassungstag links auf 1/7 bzw. 5/35 (jeweils 0,15) belaufen und rechts 5/5 (volle Sehkraft) betragen (Befundbericht der Dres. L. und H. vom 28. Mai 1974).

Am 31. August 2000 begehrte der Kläger wegen der Folgen des Unfalls bei der (damaligen) Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung (nunmehr Unfallkasse des Bundes) die Gewährung einer Verletztenrente, die den Antrag zuständigkeitshalber an die Beklagte weiter leitete. Der Kläger gab an, das Unfallereignis sei der D. R. als seinem damaligen Arbeitgeber gemeldet worden. Bis zum 30. Juni 1991 habe die zuständige Reichsbahndirektion E. auch Schadensersatzzahlungen erbracht. Eine Unfallrente sei jedoch nie geleistet worden; über einen Anerkennungs- bzw. Ablehnungsbescheid verfüge er nicht. Er habe den Unfall bislang auch keiner anderen Berufsgenossenschaft gemeldet.

Die Beklagte zog von der D. B. AG als Rechtsnachfolgerin der D. R. die Personalakte des Klägers sowie von der Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde der M. –L. –U. H. –W. u.a. Unterlagen über die stationären Behandlungen des Klägers in der Zeit vom 9. bis zum 25. Februar 1987 und vom 17. November bis zum 4. Dezember 1987 bei: Danach waren der Metallsplitter am 9. Februar 1987 mittels Magnetextraktion entfernt und aufgrund einer sich entwickelnden Katarakt (grauer Star) am 27. November 1987 in Narkose eine Katarakt-Extraktion durchgeführt worden.

Zur Feststellung und Bewertung der Unfallfolgen holte die Beklagte von dem Direktor der Universitätsklinik und Poliklinik für Augenheilkunde der M. –L. –U. Prof. Dr. D. das nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 3. Mai 2001 zusammen mit dem Oberarzt Privatdozent (PD) Dr. W. und der Assistenzärztin W. erstellte Gutachten vom 21. Mai 2001 ein. Gegenüber Prof. Dr. D. schilderte der Kläger, sein Sehvermögen auf dem linken Auge sei seit der Netzhautoperation 1974 sehr schlecht; er könne seither nicht mehr räumlich sehen. Der Sachverständige hielt bei voller Sehkraft des rechten Auges ohne Korrektur u. a. eine unkorrigierte Sehschärfe links von 1/35, ein korrigiertes Sehvermögen auf dem linken Auge von 1/8 (0,125) und eine konzentrische Gesichtsfeldeinschränkung links um ca. 25° nasal, ca. 15° oben, ca. 30° unten und ca. 40-50° temporal (schläfenwärts) fest. Am linken Auge bestünden eine Divergenzstellung, eine Aphakie (Linsenlosigkeit) mit Nachstarbildung, vordere und hintere Synechien (Verklebungen der Regenbogenhaut mit der Hornhaut und der Linsenkapsel), eine Irisatrophie (Rückbildung der Regenbogenhaut), eine Hornhautnarbe, eine subretinale (unter der Netzhaut gelegene) Strangbildung in der Makula (Stelle des schärfsten Sehens) und Netzhautnarben. Im Ergebnis schätzte Prof. Dr. D. ein, das Unfallereignis vom 9. Februar 1987 sei geeignet gewesen, die Hornhautnarben, Irissynechierungen sowie die Kataraktbildung an dem durch die vorbestehende Netzhautablösung vorgeschädigten Auge als wesentliche Teilursache im Sinne einer dauernden Verschlimmerung zu bedingen. Unter Berücksichtigung des Vorschadens und des korrigierten Visus (Sehschärfe) links von 0,1 sei eine MdE um 20 vH zu veranschlagen.

In seinen auf Veranlassung der Beklagten erstellten gutachtlichen Stellungnahmen vom 17. Juli und 12. Oktober 2001 legte der Augenarzt Noll dar, die Schädigung der Netzhaut und die damit verbundenen Reduktionen der zentralen Sehschärfe sowie des Gesichtsfeldes links seien durch die alte Netzhautablösung bedingt. Bei einer dokumentierten Sehkraft von 0,15 links und 1,0 rechts sei die MdE vor der 1987 erlittenen Verletzung mit 20 vH einzuschätzen gewesen. Die Sehschärfe habe sich durch diesen Unfall nicht wesentlich geändert. Allerdings sei ein Wert von 0,1 jetzt nur noch durch eine Aphakiekorrektur zu erreichen. Sofern darüber hinaus die Außenschielstellung (Divergenz) und die Gesichtsfeldeinschränkung links als zusätzliche Folgen des Unfalls von 1987 gewertet würden, ergebe sich eine um 10 v H erhöhte Gesamt-MdE um 30 vH.

Mit Bescheid vom 26. Oktober 2001 erkannte die Beklagte den Unfall vom 9. Februar 1987 mit den Folgen Verletzung der Hornhaut und der Sklera links, Hornhautnarbe, vordere und hintere Synechien, Irisatrophie sowie Linsenlosigkeit nach Kataraktbildung und Operation mit Nachstarbildung als Arbeitsunfall an und lehnte einen Rentenanspruch ab. Da die bereits vorgeschädigte Sehschärfe des Klägers auf dem linken Auge von den anerkannten Unfallfolgen nicht entscheidend herabgesetzt werde, liege keine unfallbedingte MdE in rentenberechtigender Höhe vor.

Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 5. Dezember 2001 fristgerecht Widerspruch und machte zur Begründung geltend, die Netzhautverletzung des linken Auges sei 1972 (gemeint: 1974) weitgehend behoben worden. Erst durch den anerkannten Arbeitsunfall, der zumindest eine wesentliche Mitursache darstelle, sei es zu einer deutlichen Verschlechterung des Sehvermögens mit praktischer Erblindung gekommen. Da die (Gesamt-)MdE unstrittig mindestens 20 vH betrage, sei ein Rentenanspruch begründet.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17. Juni 2002 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass bei der Bewertung der MdE ein Vorschaden zu berücksichtigen sei, wenn er in Wechselbeziehung zum unfallbedingten Schaden stehe. Habe bereits dieser Vorschaden zu einer verminderten Gebrauchsfähigkeit geführt, sei der auszugleichende Nachteil regelmäßig geringer. Denn unfallversicherungsrechtlich relevant sei dann nur der unfallbedingte Verschlimmerungsanteil. Dieser sei hier im Hinblick auf das vorgeschädigte Auge mit einer zusätzlichen MdE um ("nur”) 10 vH zu bewerten, so dass kein Rentenanspruch bestehe.

Am 15. Juli 2002 hat der Kläger beim Sozialgericht (SG) Halle Klage erhoben und sein Begehren weiter verfolgt. Dem Rentenanspruch stehe der Vorschaden am linken Auge nicht entgegen. Denn auch unabhängig hiervon liege eine MdE um 20 vH vor. Bei der Bemessung der MdE sei nämlich von der unter Berücksichtigung des Vorschadens verbliebenen individuellen Erwerbsfähigkeit unmittelbar vor dem Unfall auszugehen. Diese sei, ebenso wie bei einem Unfallverletzten ohne Vorschaden, mit 100 vH zu veranschlagen. Hiervon sei dann in einem bestimmten Prozentsatz die unfallbedingte MdE auszudrücken. Diese betrage nach den Darlegungen von Prof. Dr. D. 20 vH.

Mit Urteil vom 11. Januar 2005 hat das SG die Klage abgewiesen und hierzu in den Gründen ausgeführt: Die durch den Arbeitsunfall verursachten Unfallfolgen bedingten für sich keine rentenberechtigende MdE um mindestens 20 vH. Würden die unfallbedingte Hornhautnarbe, die Irissynechien, die Aphakie mit Nachstarbildung, die Divergenzstellung des linken Auges, die konzentrischen Gesichtsfeldeinschränkungen links sowie die (unkorrigierten) Sehschärfen links von 1/35 und rechts von 1,0 zugrunde gelegt, ergebe sich nach den einschlägigen Empfehlungen zwar ein Gesamtschaden um 25 bis 30 vH. Hierin sei jedoch bereits der am linken Auge belegte Vorschaden, der aufgrund der für Mai 1974 dokumentierten Sehschärfe von 1/7 mit einer MdE um 20 zu bemessen sei, enthalten. Allein aus den Unfallfolgen resultiere damit eine MdE um 10 vH, so dass ein Rentenanspruch ausscheide.

Gegen das am 1. Februar 2005 zugestellte Urteil hat der Kläger am 28. Februar 2005 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Zur Begründung hat er unter Wiederholung seines bisherigen Vorbringens nochmals darauf verwiesen, dass die Folgen der Netzhautverletzung bereits nach der 1974 erfolgten Operation im Wesentlichen ausgeheilt gewesen seien. Entgegen der Ansicht des SG sei die unfallbedingte MdE damit auch nicht wegen des Vorschadens auf unter 20 vH zu reduzieren. Im Übrigen werde eine MdE um 20 vH auch durch das im Berufungsverfahren eingeholte weitere Sachverständigengutachten bestätigt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 11. Januar 2005 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 26. Oktober 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juni 2002 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm vom 1. August 2000 an eine Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 20 vH zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält ihre angefochtenen Bescheide und das diese bestätigende Urteil des SG im Ergebnis für richtig.

Auf Anforderung des Senats hat der Facharzt für Augenheilkunde Dr. B. in seinem Befundbericht vom 12. August 2005 mitgeteilt, infolge der nach seiner Einschätzung 1974 spontan eingetretenen Netzhautablösung habe seinerzeit links ein Visus von 0,25 vorgelegen. Nach dem Arbeitsunfall habe der korrigierte Visus links 0,16 betragen. Dieser Wert sei auch jetzt zu messen, wobei seit Jahren ein stabiler Befund vorliege.

Außerdem hat der Senat den Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde des Universitätsklinikums M. Dr. W. nach ambulanter Untersuchung am 5. April 2006 das zusammen mit dem Direktor der Klinik Prof. Dr. B. -B. gefertigte Gutachten vom 2. Juni 2006 erstatten lassen. Der Kläger hat gegenüber dem Gutachter ergänzend angegeben, die Schielstellung des linken Auges nach außen habe seit der Geburt bestanden. Schon im Kindesalter sei auch eine Schieloperation erfolgt. Das Sehen auf dem linken Auge sei seit der Kindheit sehr schlecht gewesen. Dr. W. hat links eine Sehschärfe für die Ferne von 1/35 (unkorrigiert) bzw. 0,16 (korrigiert) und für die Nähe von 0,1 (korrigiert) dokumentiert. Das Gesichtsfeld sei links nasal um 10°, unten um 15° und temporal um 25° eingeschränkt. Auf dem rechten Auge bestehe bei vollem Gesichtsfeld und beginnender peripherer Linsentrübung (grauer Star) sowohl für die Ferne als auch die Nähe volle (unkorrigierte) Sehschärfe. Links lägen eine Hornhautnarbe, eine vordere und hintere Verklebung der Regenbogenhaut mit der Hornhaut und der Linsenkapsel, Netzhautnarben im Bereich des schärfsten Sehens mit zentraler Strangbildung unter der Netzhaut, periphere und nasal gelegene Netzhautnarben sowie eine – bei Kontaktlinsenunverträglichkeit nicht korrigierbare – Linsenlosigkeit mit Nachstarbildung vor. Daneben bestehe wegen der geburtsbedingten Schielstellung und des Zustandes nach Schieloperation der Verdacht auf das Vorliegen einer geburtlichen Schwachsichtigkeit links. Da das Sehvermögen links zum Zeitpunkt der Netzhautoperation im April 1974 bei 0,15 gelegen habe, resultiere aus diesem Vorschaden eine MdE um 15 vH. Die (Gesamt-)MdE betrage 20 vH.

Nachfolgend hat Dr. B. auf Veranlassung des Senats die Patientenakte über den Kläger vorgelegt: Aus den Einträgen am 11. Oktober 1978, 18. September 1980 und 24. März 1982 gingen für das linke Auge jeweils unkorrigierte Visuswerte von 0,15 hervor (rechts 1,0). Für den 4. Juli 1986 war links eine Sehschärfe von 0,1 vermerkt.

Prof. Dr. B. –B. und Dr. W. haben in den hierzu erstellten ergänzenden Stellungnahmen vom 3. November 2006 und 6. Februar 2007 nochmals dargelegt, dass die MdE insgesamt um 20 vH einzuschätzen sei. In diesem Wert sei die für die Vorschädigung in Ansatz zu bringende MdE bereits enthalten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung des Senats.

Entscheidungsgründe:

I. Die nach den §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte, form- und fristgerecht erhobene (§ 151 Abs. 1 SGG) sowie auch ansonsten zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Das SG hat sein Begehren im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Denn er hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 20 vH. Der Bescheid der Beklagten vom 26. Oktober 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juni 2002 ist daher nicht zu beanstanden und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG).

Wenngleich der Kläger den Arbeitsunfall bereits am 9. Februar 1987 und damit weit vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) am 1. Januar 1997 erlitt, ist vorliegend § 56 SGB VII anzuwenden. Denn nach § 215 Abs. 6 SGB VII gilt diese Norm für die Feststellung und Zahlung von Renten bei Versicherungsfällen, die – wie hier – vor dem 1. Januar 1992 eingetreten sind.

Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte Anspruch auf eine Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung, wenn ihre Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles (Arbeitsunfall oder Berufskrankheit) über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um mindestens 20 vH gemindert ist. Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Dabei wird die MdE durch eine abstrakte Bemessung des Unfallschadens gebildet und beruht auf freier richterlicher Beweiswürdigung unter Berücksichtigung der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung etablierten allgemeinen Erfahrungssätze aus der Rechtsprechung und dem einschlägigen Schrifttum (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 18. März 2003 – B 2 U 31/02 RBreith. 2003, 565 ff.; Urteil vom 22. Juni 2004 – B 2 U 14/03 RSozR 4-2700 § 56 Nr. 1). Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten der Verletzten durch die Folgen des Versicherungsfalls beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf medizinisch-wissenschaftlichem Gebiet. Hierbei sind jedoch die in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum bei einer Vielzahl von Unfallfolgen für die Schätzung der MdE herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die in Form von Tabellenwerten oder Empfehlungen zusammengefasst sind (siehe etwa bei Bereiter-Hahn/Mehrtens, SGB VII, Stand Mai 2008, Anhang 12). Diese sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend. Sie bilden aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und sind die Basis für den Vorschlag, den der medizinische Sachverständige dem Gericht zur Höhe der MdE unterbreitet (statt aller BSG, Urteil vom 2. Mai 2001 – B 2 U 24/00 R – SozR 3-2200 § 581 RVO Nr. 8). Danach wäre der Senat auch dann nicht an die Einschätzungen von Prof. Dr. D. und Dr. W. gebunden, wenn diese – wie der Kläger meint – ihren Vorschlag einer MdE um 20 vH unter Abwägung zwischen den Unfallfolgen und dem Vorschaden entwickelt hätten.

Ist die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten aufgrund eines Vorschadens bereits vor dem Versicherungsfall gemindert, können die MdE-Erfahrungswerte nicht ohne weiteres zugrunde gelegt werden. Denn dann können sich die Folgen des Versicherungsfalls und der Vorschaden gegenseitig beeinflussen. Typischerweise ist eine derartige Beeinflussung anzunehmen, wenn zwischen ihm und dem durch den Versicherungsfall verursachten Schaden eine funktionelle Wechselbeziehung vorliegt, was vor allem bei paarige Körperteilen und Organen oder in Abhängigkeit zueinander bestehenden Organsystemen (z.B. Arme, Beine, Augen, Nieren) der Fall sein kann. Im Vergleich zum Regelfall (kein Vorschaden) kann sich die MdE erhöhen, wenn die Folgen des Versicherungsfalles den Versicherten auf Grund des Vorschadens erheblich stärker treffen als einen Gesunden (z.B. Verlust des zweiten Armes bei einem Einarmigen). Es gehört nämlich zum Risiko der Unfallversicherung, auch für solche Folgen einzustehen, in denen sich die unmittelbaren Folgen des Versicherungsfalls wegen des Vorschadens verstärken. Umgekehrt kann die MdE beim Zusammentreffen mit einem Vorschaden auch niedriger zu bemessen sein als üblich. Dies gilt insbesondere, wenn ein bereits relevant in seiner Gebrauchsfähigkeit beeinträchtigter Körperteil durch einen Unfall getroffen wird, so dass sich die Funktionsstörungen aus dem Vor- und dem Unfallschaden überschneiden (z.B. Verlust des linken Beines im Unterschenkel bei amputiertem Fuß links als Vorschaden). Es ist sogar denkbar, dass der durch den Arbeitsunfall Betroffene besser gestellt wird, als sein Zustand angesichts des Vorschadens war (zuletzt BSG, Urteil vom 5. September 2006 – B 2 U 25/05 RSozR 4-2700 § 56 Nr. 2).

Liegt ein solcher Fall gegenseitiger Einflussnahme von Vor- und Versicherungsfallschaden vor, ist klarzustellen, inwieweit bereits eine Funktionsbeeinträchtigung bestand und ob diese durch den Versicherungsfall – in welchem Maße – weiter zugenommen hat. Hierbei darf aus dem MdE-Wert des Vorschadens und dem MdE-Wert des versicherten Schadens nicht etwa eine Gesamt-MdE gebildet werden. Denn entschädigt wird – unter Berücksichtigung des Vorschadens – nach § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII nur der "infolge eines Versicherungsfalls" verschlimmerte Anteil, also die verursachte Steigerung der MdE. Nur dieser ist nämlich der schädigenden Einwirkung zuzurechnen (so schon für den Bereich des Versorgungsrechts BSG, Urteil vom 15. Dezember 1959 – 11/10 RV 1326/56BSGE 11, 161 (163); Kater in: ders./Leube, SGB VII, § 56 Rn. 58; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. 2003, Abschn. 1.3.7.2, S. 85 und Abschn. 2.6.4, S. 161). Erforderlich ist damit eine relevante Vergrößerung des bereits vorhandenen Schadens. Bei der Feststellung dieses durch den Versicherungsfall bewirkten Verschlimmerungsanteils ist von der Erwerbsfähigkeit des Verletzten im Zeitpunkt des Versicherungsfalls auszugehen, von seiner unter Berücksichtigung der Vorschädigung verbliebenen individuellen Erwerbsfähigkeit. Dann ist festzustellen, wie die Folgen des Versicherungsfalls bei einem nicht vorgeschädigten Versicherten zu bewerten wären. Schließlich ist zu ermitteln, welcher Teil der vor dem Versicherungsfall vorhandenen individuellen Erwerbsfähigkeit durch die zu beurteilende Einwirkung weiter gelitten hat (versicherungsfallbedingte individuelle Erwerbsfähigkeit). Hierbei ist die individuelle Erwerbsfähigkeit des Verletzten im Zeitpunkt des Versicherungsfalls – auch angesichts des Vorschadens – mit 100 vH anzusetzen und die durch den Versicherungsfall verursachte Einbuße an dieser Erwerbsfähigkeit in einem bestimmten vH-Satz auszudrücken, wobei eine allein rechnerische Betrachtung (siehe hierzu Kater, a.a.O., § 56 Rn. 59) unzulässig ist (so schon BSG, Urteil vom 29. April 1964 – 2 RU 155/62BSGE 21, 63; Urteil vom 3. März 1966 – 8 RV 815/64BSGE 24, 275). Entscheidend ist vielmehr der im Einzelfall sachgerecht zu schätzende Funktionsverlust im Verhältnis zum Zustand vor dem Versicherungsfall. Je stärker sich der Vorschaden und die Schädigung durch den Versicherungsfall in Bezug auf die betroffene Funktionseinheit gegenseitig beeinflussen und kumulieren, um so mehr ist der Vorschaden bei der Feststellung des Grades der versicherungsfallbedingten individuellen MdE einzubeziehen (BSG, Urteil vom 3. März 1966, a.a.O., S. 277; Kranig in: Hauck, SGB VII, Band 1, Stand Mai 2008, K § 56 Rn. 42; Bereiter-Hahn/Mehrtens, a.a.O., § 56 Rn. 10.6).

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist der Senat in Auswertung der ermittelten medizinischen Anknüpfungstatsachen bei wertender Betrachtung des Gesamtergebnisses der Beweisaufnahme zu der Überzeugung gelangt, dass die unfallbedingte MdE bei dem Kläger unter 20 vH liegt.

1. Als Vorschaden liegen bei ihm eine seit der Geburt bestehende Divergenzstellung des linken Auges nach außen sowie ein Zustand nach Netzhautablösung links vor. Darüber hinaus ist bereits vor dem Arbeitsunfall vom 9. Februar 1987 ein vermindertes Sehvermögen auf dem linken Auge nachgewiesen. Sowohl am 3. Mai 2001 gegenüber Prof. Dr. D. als auch im Rahmen der ambulanten Untersuchung durch Dr. W. am 5. April 2006 hat der Kläger selbst eingeschätzt, dass er das Sehen auf dem linken Auge seit der Kindheit als sehr schlecht empfand. Diese Selbstwahrnehmung widerspiegelt sich in den dokumentierten Sehschärfen. So sind etwa für den 8. April und 17. Mai 1974, den 11. Oktober 1978, den 18. September 1980 und den 24. März 1982 für das linke Auge jeweils unkorrigierte Visuswerte von 0,15 belegt. Rechts besteht bei dem Kläger durchgehend bis heute volle Sehkraft. Ausgehend hiervon ist die von Dr. W. im Gutachten vom 2. Juni 2006 für die vorgeschädigte Sehkraft des linken Auges eingeschätzte MdE um 15 vH auch nicht zu beanstanden. Denn nach den einschlägigen Erfahrungswerten wird die MdE bei einer Sehschärfe von 0,16 auf einem Auge und vollem Visus des anderen Auges um 15 vH bemessen (siehe Nehls, in: Podzun, Unfallsachbearbeiter, Stand August 2008, Kennzahl 5000, S. 19; Kranig, a.a.O., K § 56, S. 37; Bereiter-Hahn/Mehrtens, a.a.O., Anhang 12, J 005). Unter Berücksichtigung der am 4. Juli 1986 als letzten vor dem Arbeitsunfall nachgewiesenen Sehschärfe für das linke Auge von 0,1 ergibt sich nach den zuvor genannten Erfahrungswerten jedoch eine MdE um 20 vH. Dem Senat erscheint es daher angemessen, für die Netzhautnarben im Bereich des schärfsten Sehens mit zentraler Strangbildung unter der Netzhaut, die peripheren und die nasal gelegenen Netzhautnarben als Zustand nach Operation am 23. April 1974 sowie der damit einhergehenden und zeitnächsten vor dem Arbeitsunfall dokumentierten Sehkraft links eine insgesamt um 20 vH geminderte individuelle Erwerbsfähigkeit des Klägers als Vorschaden anzusetzen.

2. Die anerkannten und unstrittigen Unfallfolgen (Verletzung der Hornhaut und der Sklera links, Hornhautnarbe, vordere und hintere Synechien, Irisatrophie sowie Linsenlosigkeit nach Kataraktbildung und Operation mit Nachstarbildung) wären bei einer verbliebenen Gebrauchssehschärfe von 1/35 links im Falle eines nicht vorgeschädigten Versicherten mit einer MdE um 25 vH zu bewerten. Sowohl Prof. Dr. D. als auch Dr. W. haben bei dem Kläger für den 3. Mai 2001 bzw. den 5. April 2006 jeweils eine unkorrigierte Sehschärfe links von 1/35 und ein korrigiertes Sehvermögen auf dem linken Auge von 0,12 bzw. 0,16 gemessen. Die korrigierten Werte können – entgegen Prof. Dr. D. – deshalb nicht herangezogen werden, weil die Aphakie bei dem Kläger mangels Kontaktlinsenunverträglichkeit nicht behebbar ist, so dass insoweit auch keine MdE um 20 vH veranschlagt werden kann. Vielmehr richtet sich die MdE bei unkorrigierbarer Linsenlosigkeit nach der Restsehschärfe (Schönberger/Mehrtens/ Valentin, a.a.O., Abschn. 6.4.4, S. 386). Nach den Erfahrungswerten wird die MdE bei einem verbliebenen Sehvermögen von 1/50 auf einem Auge und 1,0 auf dem anderen Auge um 25 vH bemessen (Nehls, a.a.O.). Dieser Satz, der dem vollständigen Verlust des Sehvermögens auf einem Auge bei voller Sehkraft des anderen Auges entspricht (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., Abschn. 6.4.1, S. 382), kann hier nicht weiter erhöht werden, wie dies der Augenarzt Noll gemeint hat. Denn zum einen hat die Schielstellung des linken Auges bei dem Kläger schon als Vorschaden bestanden, so dass sie bei der Bestimmung der unfallbedingten MdE nicht nochmals berücksichtigt werden kann. Zum anderen führen die von den Sachverständigen festgehaltenen Gesichtsfeldeinschränkungen links um ca. 25 bzw. 10 ° nasal, ca. 15° oben, ca. 30 bzw. 15° unten und ca. 40-50 bzw. 25° temporal zu keiner messbaren MdE. Erst bei einer konzentrischen Gesichtsfeldeinschränkung auf 10° Abstand vom Zentrum wird eine MdE um 10 vH veranschlagt (Nehls, a.a.O., S. 20; Kranig, a.a.O., K § 56, S. 38). Überdies sind auch keine sonstigen Umstände ersichtlich (z.B. entstellende Narben oder chronische Reizzustände), die unter Umständen eine Erhöhung des MdE-Wertes auf bis zu 30 vH rechtfertigen könnten (siehe hierzu nur Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., Abschn. 6.4.1, S. 382).

3. Ist demnach für den Vorschaden auf dem linken Auge von einer individuellen MdE des Klägers um 20 vH auszugehen und würden die durch den Arbeitsunfall vom 9. Februar 1987 hervorgerufenen Funktionseinschränkungen auf diesem Auge ohne den Vorschaden grundsätzlich zu einer MdE um 25 vH führen, rechtfertigt die unfallbedingte individuelle Erwerbsfähigkeit des Klägers unter Einbeziehung des Vorschadens keine Bemessung mit einem mindestens um 20 vH geminderten Grad. Denn der Ansatz eines solchen Wertes entspricht nicht annähernd dem durch den Arbeitsunfall verschlimmerten Funktionsverlust im Verhältnis zum Zustand vor dem Versicherungsfall. Im Gegenteil liefe die Steigerung auf einen MdE-Satz um 20 vH darauf hinaus, den Vorschaden nahezu unberücksichtigt zu lassen bzw. die schon aus ihm herrührende MdE praktisch vollständig dem Arbeitsunfall zuzurechnen. Obgleich das Sehvermögen auf dem linken Auge schon vor dem Arbeitsunfall erheblich herabgesetzt war (rein rechnerisch bereits um 4/5 des jetzigen Funktionsverlustes), würde der Kläger dann so behandelt, als wenn dort eine fast uneingeschränkte Sehkraft vorgelegen und der unfallbedingte Schaden allein für sich nochmals zu einer diesem Vorschaden gleichkommenden Funktionseinbuße geführt hätte. Bei erheblich vorgeschädigter Sehschärfe eines Auges kann dieser für die Erwerbsfähigkeit des Versicherten aber nicht dieselbe Bedeutung beigemessen werden wie bei einem Auge mit nahezu voller Sehkraft. Die durch den Arbeitsunfall zu entschädigende MdE kann folglich nicht mit derjenigen gleichgesetzt werden, die im Wesentlichen auch einem bisher mit vollem Sehvermögen ausgestatteten Versicherten zuzubilligen wäre (ebenso Krasney in: Brackmann, SGB VII, Band 3/1, Stand März 2008, § 56 Rn. 56; ähnlich bereits BSG, Urteil vom 3. März 1966, a.a.O.).

Da nach alledem der Arbeitsunfall den bereits vorhandenen Schaden nicht so relevant vergrößert hat, dass hierfür eine Bemessung mit einer MdE um mindestens 20 vH gerechtfertigt ist, besteht vom 1. August 2000 an kein Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente. Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

III. Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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