L 2 J 738/71

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 2 J 738/71
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 27. Mai 1971 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die 1909 geborene Klägerin ist Verfolgte im Sinne von § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Sie emigrierte im Jahre 1933 nach F., kehrte im Juli 1937 von F., ihrem letzten inländischen Wohnsitz, nach P. aus. Inzwischen hat sie die i. Staatsangehörigkeit erworben.

Nach vorliegenden Zeugnissen besuchte die Klägerin von Herbst 1926 bis Frühjahr 1928 das Städtische Kindergarten-Seminar in F. und legte dort am 28. Februar 1928 eine Abschlußprüfung ab, die sie befähigte, als Kindergärtnerin in Familien und in kleinen Kindergärten tätig zu sein. Danach war sie vom 1. April 1928 bis 1. April 1929 als Praktikantin beim Städtischen Kindergarten in F., vom 15. November 1929 bis 28. Februar 1930 als Volontärin bei der Firma T. W. in F. und vom 1. März 1930 bis 15. März 1930 aushilfsweise im Heim des Jüdischen Frauenbundes in N.-I. als Kindergärtnerin tätig. Vom 15. März 1930 bis 1933 betrieb sie in F. einen eigenen Kindergarten. Sie gab an, daß sie in dieser selbständigen Tätigkeit ab 1932 nicht mehr voll ausgelastet gewesen sei, so daß sie in den Nachmittags- und Abendstunden die Betreuung von Kindern jüdischer Familien übernommen habe, u.a. bei Frau A. S. in der Zeit vom 1. April 1932 bis 21. August 1933.

Im Januar 1969 beantragte die Klägerin bei der Landesversicherungsanstalt (LVA) R. die Gewährung von "Altersruhegeld” unter Anrechnung von Ersatzzeiten nach § 1251 Abs. 1 Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Diesen Antrag lehnte die hierfür zuständige Beklagte mit Bescheid vom 13. Juli 1970 ab. Zur Begründung ist ausgeführt, daß die für die Rentengewährung erforderliche Wartezeit – 180 Kalendermonate – nicht erfüllt sei. In ihrem erhalten gebliebenen Kartenarchiv hätten Versicherungsunterlagen der Klägerin nicht aufgefunden werden können, so daß eine Beitragsleistung während der angegebenen Beschäftigungszeiten nicht erfolgt sein könne. Aus diesem Grunde könnten auch die verfolgungsbedingten Ersatzzeiten nicht auf die Wartezeit angerechnet werden.

Mit ihrer Klage trug die Klägerin vor, daß unter Berücksichtigung der Verfolgungszeiten die Wartezeit erfüllt und ein Rentenanspruch gegeben sei. Zwar sei ihr der Nachweise der Abführung von Beiträgen bisher nicht gelungen. Jedoch müsse eine Beitragsentrichtung während der durch die vorgelegten Zeugnisse belegten Beschäftigungsverhältnisse im Zeitraum von April 1928 bis August 1933 als glaubhaft gemacht angesehen werden.

Die Beklagte wies darauf hin, daß auch bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte in Berlin ein Beitragskonto für die Klägerin nicht zu ermitteln gewesen sei. Das Fehlen solcher Unterlagen für die Klägerin spreche dagegen, daß in den angegebenen Beschäftigungszeiten ein Versicherungsverhältnis bestanden habe und Pflichtbeiträge entrichtet worden seien. Eine Glaubhaftmachung der Beschäftigungszeiten nach der Versicherungsunterlagen-Verordnung vom 3.3.1960 (VuVO) scheide somit aus.

Mit Urteil vom 27. Mai 1971 wies das Sozialgericht Frankfurt die Klage ab. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt, daß die Voraussetzungen für die Gewährung des begehrten Altersruhegeldes nach § 1248 Abs. 3 RVO nicht erfüllt seien. Die Klägerin sei weder in den letzten 20 Jahren in der Bundesrepublik versicherungspflichtig beschäftigt gewesen noch habe sie die Wartezeit von 180 Kalendermonaten erfüllt. Eine Beitragsleistung zur gesetzlichen Rentenversicherung habe weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht werden können, so daß auch die Möglichkeit entfalle, den verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalt der Klägerin als Ersatzzeit zu berücksichtigen.

Mit der am 21. Juli 1971 eingelegten Berufung wendet sich die Klägerin gegen das am 23. Juni 1971 zum Zwecke der Zustellung an ihren Prozeßbevollmächtigten zur Post aufgelieferte Urteil. Sie trägt nunmehr vor, ihr Rentenantrag vom Januar 1969 sei nicht auf die Gewährung vorgezogenen Altersruhegeldes beschränkt gewesen, sondern habe auch einen Anspruch auf Erwerbs- oder Berufsunfähigkeitsrente umfaßt. Zumindest für diese Renten sei die Wartezeit erfüllt. Denn sie sei vor der verfolgungsbedingten Ersatzzeit versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Zumindest bei ihrer Tätigkeit als Kindergärtnerin im Städtischen Kindergarten in F. und bei ihrer Tätigkeit im T. W. in F. habe es sich um reguläre Arbeitsverhältnisse mit ganztägiger Beschäftigung bei normaler Entlohnung gehandelt, so daß nicht anzunehmen sei, daß ihre Arbeitgeber sie nicht regelrecht versichert hätten. Sie wisse zwar nur noch, daß sie damals Mitglied der AOK gewesen sei. Dies allein reiche jedoch im Zusammenhang mit den vorgelegten Zeugnissen zum Nachweis einer Beitragsentrichtung aus, zumal wenn ihr verfolgungsbedingter Beweisnotstand gebührend berücksichtigt werde. Sie sei außerdem erwerbs- bzw. berufsunfähig.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 27. Mai 1971 und den Bescheid vom 13. Juli 1970 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr vorgezogenes Altersruhegeld,
hilfsweise,
Rente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,
die Berufung zurückzuweisen und nach Lage der Akten zu entscheiden.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend. Es sei unwahrscheinlich, daß die Klägerin während der Zeit ihrer Tätigkeit als Praktikantin und Volontärin versichert gewesen sei; damit erkläre sich das Fehlen von Versicherungsunterlagen.

Der Senat hat über die Beschäftigungsverhältnisse der Klägerin Beweis erhoben durch Einholung von Auskünften beim Versicherungsamt und beim Stadtschulamt in F ... Nach der Auskunft des Versicherungsamtes vom 23. März 1972 sind dort Kartenaustauschregister aus der Zeit vor 1945 nicht mehr vorhanden. Nach der Auskunft des Stadtschulamtes vom 20. April 1972 konnten Personalunterlagen der Klägerin nicht mehr aufgefunden werden.

Außerdem hat der Senat die Akten der Entschädigungskammer des Landgerichts Wiesbaden – und die Akten des Regierungspräsidenten in Wiesbaden, Entschädigungsbehörde, – beigezogen. Auf den Inhalt dieser Akten sowie auf den Inhalt der Gerichts- und Beklagtenakten, die Gegenstand der Entscheidung waren, wird im übrigen Bezug genommen.

Der im Termin nicht erschienene Vertreter der Klägerin ist in der Ladung darauf hingewiesen worden, daß im Falle seines Ausbleibens auch nach Lage der Akten entschieden werden kann (§ 110 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte und auch statthafte Berufung der Klägerin, über die der Senat auf Antrag der Beklagten und Beigeladenen gemäß § 126 SGG nach Lage der Akten entscheiden kann, ist zulässig. Die Klägerin kann mit dem im Berufungsverfahren gestellten Hilfsantrag auch einen Anspruch auf Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeitsrente geltend machen, weil dieser Anspruch von ihrem Antrag auf Altersruhegeld erfaßt war und über ihn auch im angefochtenen Bescheid incidenter mitentschieden worden war.

Jedoch ist die Berufung weder aus dem Hauptantrag noch aus dem Hilfsantrag begründet. Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf Gewährung vorgezogenen Altersruhegeldes nach § 1248 Abs. 3 RVO noch auf Gewährung von Erwerbs- oder Berufsunfähigkeitsrente nach §§ 1246, 1247 RVO. Denn sie hat die gesetzliche Wartezeit, die für das Altersruhegeld 180 Monate und für die Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit 60 Monate beträgt, nicht erfüllt.

Nach § 1249 RVO werden auf die Wartezeit für die vorgenannten Rentenarten u.a. die ab 1. Januar 1924 zurückgelegten Versicherungszeiten angerechnet. Anrechnungsfähige Versicherungszeiten sind nach § 1250 Abs. 1 RVO Zeiten, für die nach Bundesrecht oder früheren Vorschriften der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung Beiträge wirksam entrichtet sind oder als entrichtet gelten (Beitragszeiten), ferner Zeiten ohne Beitragsleistung nach § 1251 RVO (Ersatzzeiten). Nach § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO werden als Ersatzzeiten für die Erfüllung der Wartezeit u.a. die Zeiten eines Auslandsaufenthaltes bis zum 31.12.1949 angerechnet, sofern der Auslandsaufenthalt durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen worden ist und infolge solcher Maßnahmen angedauert hat, wenn der Versicherte Verfolgter im Sinne des § 1 BEG ist. Diese Zeiten werden nach § 1251 Abs. 2 RVO als Ersatzzeiten jedoch nur angerechnet, wenn eine Versicherung vorher bestanden hat oder – auch ohne vorhergehende Versicherungszeiten – wenn nach einer Ersatzzeit des Abs. 1 Nr. 4 der Verfolgte innerhalb von 3 Jahren, nachdem er seinen Wohnsitz im Geltungsbereich dieses Gesetzes begründet hat, eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen hatte. Da die Klägerin nicht wieder in das Bundesgebiet zurückgekehrt ist, können mithin die Zeiten ihres verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes nur angerechnet werden, wenn eine Versicherung vor 1933 bestanden hat.

Von diesen Bestimmungen ausgehend hat das angefochtene Urteil zu Recht festgestellt, daß bei der Klägerin keine Versicherungszeiten auf die Wartezeit anrechenbar sind. Denn ihr ist der Nachweis einer Beitragsentrichtung vor 1933 nicht gelungen. Dem Nachweis von Beitragszeiten dient nach § 1411 RVO die Versicherungskarte. Die Klägerin war jedoch nicht in der Lage, eine Versicherungskarte vorzulegen, die eine Beitragsentrichtung für die Zeit der angegebenen Beschäftigungsverhältnisse von 1928 bis 1933 ausweist.

Eine Glaubhaftmachung der streitigen Beitragszeiten nach der Versicherungsunterlagen-Verordnung – VuVO – vom 3.3.1960 in der Fassung der Änderungsverordnung vom 22.12.1965 kommt – entgegen der Auffassung der Klägerin – nicht in Betracht. Denn diese findet nur dann Anwendung, wenn die Versicherungsunterlagen fehlen, die von einem Versicherungsträger aufzubewahren gewesen sind, dessen Karten- oder Kontenarchiv vernichtet oder nicht erreichbar ist (§ 1 Abs. 1 Satz 1 VuVO) oder wenn glaubhaft gemacht ist, daß die Versicherungskarte beim Arbeitgeber oder Versicherten oder nach den Umständen des Falles auf dem Wege zum Versicherungsträger zerstört, verlorengegangen oder unbrauchbar geworden ist (§ 1 Abs. 1 Satz 2 VuVO). Beide Vorschriften treffen im Falle der Klägerin nicht zu.

An den Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 VuVO fehlt es deshalb, weil sowohl das Kartenarchiv der Beklagten als auch dasjenige der Beigeladenen, bei denen nach den Umständen des Falles eine Aufbewahrung von Versicherungsunterlagen der Klägerin in Betracht käme, unbeschädigt erhalten geblieben sind. Deshalb hätten die Versicherungsunterlagen der Klägerin dort aufgefunden werden müssen, falls sie tatsächlich versichert gewesen wäre. Nach der Dauer der angegebenen Beschäftigungsverhältnisse hätten nämlich Versicherungskarten zum Umtausch gelangt und daher beim Versicherungsträger aufgefunden werden müssen. Wäre eine Beitragsentrichtung zur Angestelltenversicherung erfolgt, so hätte zumindest eine Versicherungskarte vollgeklebt und umgetauscht worden sein müssen, da diese nur Raum für 24 Monatsbeitragsmarken bot. Wäre eine Beitragsentrichtung zur Arbeiterrentenversicherung erfolgt – diese ist jedoch schon nach der Art der Beschäftigung der Klägerin als Kindergärtnerin unwahrscheinlich –, so mußten sogar zwei Versicherungskarten vollgeklebt und umgetauscht worden sein, da diese Karte jeweils nur Raum für 52 Wochenbeitragsmarken enthielten.

Die Anwendung des § 1 Abs. 1 Satz 2 VuVO auf die streitigen Beitragsseiten entfällt deshalb, weil nicht glaubhaft gemacht werden konnte, ob und gegebenenfalls auf welche Weise Versicherungskarten bei der Klägerin oder ihren Arbeitgebern verlorengegangen bzw. abhandengekommen sind. Hierzu konnte die Klägerin keinerlei Angaben machen oder Zeugen benennen. Sie kann sich lediglich erinnern, während der fraglichen Zeit Mitglied bei der AOK gewesen zu sein. Dies ist jedoch für die Frage der Existenz bzw. des Verlustes einer Versicherungskarte unerheblich, denn die Einziehung der Krankenversicherungsbeiträge erfolgte unabhängig von der Beitragsentrichtung zur Rentenversicherung, die in der hier streitigen Zeit noch in der Form des Einklebens von Beitragsmarken in die Versicherungskarten vorzunehmen war. Auch die gerichtlichen Ermittlungen haben keinen Hinweis erbracht, daß für die Klägerin überhaupt eine Versicherungskarte ausgestellt war.

Da es mithin an der Glaubhaftmachung für einen Kartenverlust fehlt, kommt es auf das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 VuVO, nämlich die Glaubhaftmachung der rechtserheblichen Tatsachen, zu deren Nachweis die Versicherungsunterlagen dienen, nicht mehr an. Der Senat kann somit dahingestellt sein lassen, ob es sich bei den von der Klägerin ausgeübten Tätigkeiten überhaupt um echte versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gehandelt hat, für die Versicherungsbeiträge nach damaligem Recht zu entrichten waren. Dies ist jedenfalls weder für eine Praktikanten- noch für eine Volontärtätigkeit noch auch für eine stundenweise Beschäftigung in privaten Haushalten überwiegend wahrscheinlich.

Da somit vor der Verfolgungszeit keine Beitragszeit zurückgelegt ist oder als zurückgelegt gilt, kann die Verfolgungszeit nicht als Ersatzzeit auf die Wartezeit angerechnet werden. Damit ist weder die 60-monatige Wartezeit der §§ 1246 Abs. 3, 1247 Abs. 3 RVO noch die 180-monatige Wartezeit des § 1248 Abs. 4 RVO (in der bis zum Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes am 1.1.1973 geltenden Fassung), erfüllt, so daß der Senat auch dahingestellt sein lassen kann, ob die Klägerin tatsächlich bereits erwerbsunfähig oder berufsunfähig ist oder ob sie die weiteren Voraussetzungen für die Gewährung des vorgezogenen Altersruhegeldes erfüllt.

Die Berufung der Klägerin kann daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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