L 8 R 243/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 41 (26) R 167/05
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 8 R 243/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 25.08.2006 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist der Anspruch auf Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Ghettobeitragszeiten von September 1941 bis September 1943 im Ghetto Wilna.

Die am 00.00.1927 unter dem Geburtsnamen G in Wilna im damaligen Polen geborene jüdische Klägerin hatte ursprünglich die polnische Staatsangehörigkeit, war dann staatenlos und ist jetzt israelische Staatsangehörige. Ihre Einreise nach Israel erfolgte am 10.12.1946. Sie ist anerkannte Verfolgte nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) (Feststellungsbescheid C des Regierungsbezirksamtes für Wiedergutmachung und verwaltete Vermögen Koblenz v. 28.03.1957).

Im Entschädigungsantrag vom 22.03.1955 gab sie an, sie sei von September 1941 bis September 1943 im Ghetto Wilna gewesen. Sodann erklärte sie zu ihrem Verfolgungsschicksal am 31.03.1955: "Im September 1941 wurde ich zusammen mit meinen Angehörigen in das Ghetto Wilna zwangsübergesiedelt. Wir wohnten dort in der Spitalna. Mein Vater wurde mit zwei Schwestern anlässlich der großen Aktion im Jahre 1942 zur Zwangsarbeit nach Estland verschickt und im gleichen Jahr als Arbeitsunfähiger zur Vernichtung nach Auschwitz abtransportiert. Ich selbst blieb zusammen mit meiner Mutter und kleineren Geschwistern im Ghetto Wilna bis September 1943 (Liquidation des Ghettos). Während meine Mutter mit den kleineren Kindern einem Transport nach Treblinka zugeteilt wurde, bin ich in das KZ Kaiserwald bei Riga abtransportiert worden."

Den Aufenthalt der Klägerin im Ghetto Wilna bestätigten die Zeuginnen E L und E C. Letztere erklärte überdies, sie und die Klägerin hätten bereits im Ghetto Wilna Zwangsarbeiten leisten müssen.

Am 07.11.2002 beantragte die Klägerin die Gewährung von Regelaltersrente unter Hinweis auf das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). Im Versicherungsverlauf des Formantrags gab sie an, sie habe von September 1941 bis September 1943 im Ghetto Wilna landwirtschaftliche Arbeiten verrichtet und hierfür Lebensmittel für zu Hause bekommen. Im Fragebogen für die Anerkennung von Zeiten unter Berücksichtigung der Vorschriften des ZRBG ergänzte sie, die Arbeit habe außerhalb des Ghettos stattgefunden. Sie sei durch Vermittlung des Judenrates zustande gekommen. Sie, die Klägerin, habe Gurken und Zwiebeln ernten müssen. Sie habe Lebensmittel für nach Hause mitbekommen, jedoch keinen Barlohn erhalten.

Die Beklagte zog die Unterlagen der JCC - Art-2-Fonds- bei, in denen die Klägerin lediglich den zeitlichen Umfang des Ghettoaufenthalts beschrieb und zudem erklärte, sie sei mit ihrer Zwillingsschwester in das KZ Riga-Kaiserwald deportiert worden. Als Geschwister gab sie weiter an: zwei ältere Schwestern (geb. 1919 und 1923) sowie zwei ältere Brüder (geb. 1921 und 1922), außerdem die Zwillingsschwester B I.

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag ab (Bescheid v. 04.08.2004). Die Klägerin habe keine entgeltliche Beschäftigung glaubhaft gemacht, da sie lediglich angegeben habe, Lebensmittel erhalten zu haben.

Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin am 21.03.2005 Klage erhoben. Zur Begründung hat sie am 04.12.2005 eine freie Erklärung abgegeben, in der es heißt: "Im Ghetto Wilna befand ich mich von September 1941 bis September 1943. Um zu existieren und nicht deportiert zu sein, erfüllte ich verschiedene freiwillige Arbeiten. Im Winter Reinigungsarbeiten, im Frühling und im Sommer landwirtschaftliche Arbeiten. Für meine freiwillige Arbeit im Ghetto habe ich einen Lohn wie alle anderen jüdischen Arbeiter im Ghetto erhalten. Es ist mir aber schwer, nach so langer Zeit genaue Angaben zu machen. Ich kann nicht mehr genau sagen, ob ich Lebensmittel immer direkt oder als Lebensmittelcoupons erhalten habe und ob zusätzlich etwas Bargeld gezahlt wurde. Aber meine Arbeit und die dafür gezahlte Entlohnung sicherten damals mein Überleben."

Die Klägerin hat beantragt,

unter Aufhebung des Bescheides vom 04.08.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.03.2005 die Tätigkeiten von September 1941 bis September 1943 als glaubhaft gemachte Beitragszeiten nach dem ZRBG anzuerkennen und die Regelaltersrente ab 01.07.1997 unter Berücksichtigung der weiteren Verfolgungszeit als Ersatzzeit zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat den angefochtenen Bescheid verteidigt. Auch die Aufnahme der Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss sei nicht glaubhaft gemacht.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil v. 25.08.2006). Die Kammer hat bereits daran gezweifelt, dass die Klägerin eine Beschäftigung ausgeübt hat, die aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist. Nach dem Vorbringen der Klägerin im Verwaltungs- und Klageverfahren sei zwar nicht auszuschließen, dass sie die im Ghetto Wilna verrichteten Arbeiten nach entsprechenden eigenen Bemühungen freiwillig aufgenommen habe. Aufgrund der zeitnahen Angaben der Klägerin und der Zeugen im Entschädigungsverfahren sei es jedoch zumindest ebenso möglich, dass es sich um Arbeiten gehandelt habe, die dem Typus der Zwangsarbeit entsprochen hätten. So habe die Klägerin auch im Rahmen des Entschädigungsverfahrens angegeben, sie habe Zwangsarbeit verrichtet. Dies sei von der Zeugin E C bestätigt worden. Es spreche vieles dafür, dass die Verwendung des Begriffes "Zwang" im Zusammenhang mit der Arbeit klar zum Ausdruck habe bringen sollen, dass sich die Beteiligten dem Arbeitseinsatz gerade nicht entziehen konnten und gegen ihren Willen zur Arbeit gezwungen worden seien. Dabei messe die Kammer den Darstellungen aus dem Entschädigungsverfahren wegen ihrer zeitlichen Nähe zum Geschehen eine besondere Bedeutung bei. Unabhängig davon sei nicht glaubhaft, dass die Klägerin entgeltlich im Sinne des ZRBG gearbeitet habe. Die Angaben der Klägerin hierzu seien uneinheitlich. So habe sie im Rentenverfahren zunächst angegeben, Lebensmittel für zu Hause erhalten zu haben, während sie im Fragebogen der Beklagten erklärt habe, sie habe Lebensmittel sowie eine Unterkunft erhalten. Im jetzigen Klageverfahren gebe sie durch ihren Bevollmächtigten an, Sachbezüge (wöchentlich Lebensmittel für zu Hause, Kleidung, bessere Unterkunft und Heizmaterial) erhalten zu haben. In ihrer Erklärung vom 04.12.2005 führe sie hingegen aus, keine Erinnerung an die Entlohnung zu haben, die Arbeit und die Entlohnung hätten aber ihr Überleben gesichert. Unter Berücksichtigung dieser Entwicklung des Vortrags der Klägerin im Verlaufe des Rentenverfahrens entstehe der Eindruck von voneinander abweichenden Erklärungen. Daher sei die Gewährung angemessener Sachbezüge nicht glaubhaft gemacht. Abgesehen davon lägen selbst dann, wenn die Angaben der Klägerin in der Klagebegründung als richtig unterstellt würden, keine Anhaltspunkte vor, dass die von ihr behaupteten Entgelte versicherungspflichtig gewesen seien. Soweit die erhaltene Gegenleistung lediglich zur eigenen Verpflegung der Klägerin gedient habe, sei sie als Gewährung freien Unterhalts einzuordnen und löse damit keine Rentenversicherungspflicht aus. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus den Ausführungen des Gutachters Prof. Dr. Golczewski in seinem Gutachten vom 09.09.2005 bzw. aus dem Gutachten des Dr. Tauber zu den Ghettos in Litauen. Denn das konkrete Vorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses aus eigenem Willensentschluss und gegen Entgelt beurteile sich stets nach den Umständen des Einzelfalles. Diese stünden jedoch im Falle der Klägerin - wie dargelegt - der Glaubhaftmachung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung entgegen.

Andere Rechtsgrundlagen für die Anerkennung von Beitragszeiten seien ebenfalls nicht einschlägig.

Gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 01.09.2006 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 04.09.2006 Berufung erhoben. Einen Dokumentenbeweis habe sie über die schrecklichste Zeit der deutschen Geschichte nicht retten können. Frühere Angaben zu einem Antrag auf Entschädigungsleistungen seien zudem kaum aussagekräftig, da dort - wenn überhaupt - Aussagen über eine Tätigkeit unter Zwang von Bedeutung gewesen seien. Es liege daher nahe, dass Angaben über eine freiwillige Tätigkeit und die Entlohnung stets fehlten. Die Anwendung des ZRBG sei historisch unter anderem durch das Gutachten des Herrn Prof. Golczewski über die Region Ostland belegt. Ebenso lägen Nachweise über die Entlohnung vor. Wissenschaftlich historische Erkenntnisse belegten überdies, dass jüdische Arbeiter im Generalgouvernement einen Lohnanspruch nach Tarif gehabt hätten und (daher) sozialversicherungspflichtig gewesen seien. Gleiches gelte für das Reichskommissariat Ostland.

Auf Nachfrage des Senates im Wege des Fragebogens trägt die Klägerin vor: Die thematisierten Reinigungsarbeiten seien in der Kommandantur und in anderen öffentlichen Gebäuden durchgeführt worden. Der Arbeitgeber sei der Judenrat gewesen. Sie habe Staub gewischt und den Fußboden gewaschen usw. Für diese Tätigkeiten habe sie zusätzliche Lebensmittel für zu Hause bekommen, das seien Kartoffeln, Gemüse, Mehl, Kaffee, Zucker, Salz usw. gewesen. Im Ghetto sei sie mit den Schwestern H, T, B und mit dem Bruder E gewesen. Alle hätten gearbeitet, einige freiwillig, einige hätten Zwangsarbeiten erfüllt.

Die Klägerin beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom 25.08.2006 und unter Aufhebung des Bescheides vom 04.08.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.03.2005 ihr eine Versicherungsunterlage über die Tätigkeit von September 1941 bis September 1943 im Ghetto Wilna nach dem ZRBG herzustellen und die Regelaltersrente ab 01.07.1997 mit der Verfolgungszeit als Ersatzzeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Auf Nachfrage des Senates hat die JCC mitgeteilt, dass die Klägerin neben der Entschädigung aus dem Art-2-Fonds auch eine Entschädigung aus dem Zwangsarbeiterfonds erhalten habe.

Nach Auskunft des israelischen Versicherungsträgers hat die Klägerin dort 394 Beitragsmonate zurückgelegt.

Außerdem ist die Zwillingsschwester der Klägerin, Frau B I, schriftlich befragt worden. Diese hat angegeben, sie sei mit der Klägerin die gesamte Zeit zusammen gewesen. Man habe Arbeiten im Gewächshaus sowie andere landwirtschaftliche Arbeiten verrichtet. Man habe die Arbeit durch den Judenrat erhalten und sich an diesen aus eigenem Antrieb gewandt. Als Entlohnung habe man Essen und auch Lebensmittel und Gemüse für zu Hause bekommen. Damit hätten sie Mutter und Vater "und unsere Schwester" unterstützen und so die für sie notwendigen Lebensmittel ergänzen können.

Mit Schriftsatz vom 05.01.2009 hat die Klägerin die historischen Gutachten der Sachverständigen Dr. Joachim Tauber vom 15.06.2008, erstellt für den Senat zum Aktenzeichen L 8 R 343/06, und Dr. Sara Bender vom 10.08.2008, erstellt für den Senat zum Aktenzeichen L 8 R 9/06, zum Gegenstand des Verfahrens gemacht.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung, den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten sowie der Entschädigungsakte der Klägerin Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte gemäß §§ 153 Abs. 1, 110 Abs. 1, 126 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Abwesenheit der Klägerin und ihres Bevollmächtigten verhandeln und entscheiden, weil dieser in der Terminsmitteilung, die ihm am 23.01.2009 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt worden ist, auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.

I. Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der angefochtene und im Ergebnis vom SG bestätigte Bescheid der Beklagten ist nicht rechtswidrig und beschwert die Klägerin daher nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 S. 1 SGG. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Altersrente gegen die Beklagte.

Wie der Senat bereits mit näherer Begründung entschieden hat (z. B. Urteil vom 06.06.2007 L 8 R 54/05, sozialgerichtsbarkeit.de), folgt der Anspruch auf Altersrente allein aus dem SGB VI, ohne dass das ZRBG eine eigenständige Anspruchsgrundlage darstellen würde (ebenso BSG, Urteil vom 26.07.2007, B 13 R 28/06 R, SozR 4-5075 § 1 Nr. 4, aA BSG Urteil vom 14.12.2006, B 4 R 29/06 R, SozR 4-5075 § 1 Nr. 3). Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Altersrente kann daher im Fall der Klägerin nur § 35 SGB VI sein. Diese Vorschrift ist trotz des Auslandswohnsitzes der Klägerin (vgl. § 30 Abs. 1 1. Buch Sozialgesetzbuch) anwendbar (vgl. dazu BSG Urteil vom 14.07.1999, B 13 RJ 75/98 R, Juris; BSG Urteil vom 13.08.2001, B 13 RJ 59/00 R, SozR 3-2200 § 48 Nr. 17).

Nach § 35 SGB VI haben Versicherte Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit von 5 Jahren erfüllt haben. Als auf die Wartezeit anrechenbare Versicherungszeiten kommen hier nur Beitrags- und Ersatzzeiten in Sachen der §§ 50 Abs. 1 Nr. 1, 51 Abs. 1 und 4 SGB VI in Betracht. Dabei finden nach § 250 Abs. 1 SGB VI Ersatzzeiten allerdings nur dann Berücksichtigung, wenn vor Beginn der Rente zumindest ein Beitrag wirksam entrichtet worden ist oder als wirksam entrichtet gilt; denn Ersatzzeiten sollen nach dem Gesetzeswortlaut nur "Versicherten", d. h. Personen zugute kommen, die bereits Beitragsleistungen erbracht haben (BSG, Urteil vom 07.10.2004, B 13 RJ 59/03 R, SozR 4-5050 § 15 Nr. 1, mwN).

Die Klägerin hat jedoch keine auf die Wartezeit anrechenbaren Beitragszeiten zurückgelegt. Beitragszeiten sind Zeiten, für die nach Bundesrecht oder den Reichsversicherungsgesetzen Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind (§§ 55 Abs. 1 Satz 1, 247 Abs. 3 Satz 1 SGB VI) oder als gezahlt gelten (§ 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Solche Beitragszeiten bestehen hier weder nach § 2 Abs. 1 ZRBG (dazu unter 1.) noch nach den Vorschriften des Fremdrentenrechts (dazu unter 2.).

1. Nach § 2 Abs. 1 ZRBG gelten Beiträge als gezahlt für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto. Voraussetzung ist gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 ZRBG, dass die Verfolgten sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten haben, das in einem vom Deutschen Reich besetzten, oder im eingegliederten Gebiet gelegen hat und dort eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss gegen Entgelt ausgeübt haben. Ferner darf für die betreffenden Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht werden. Die Anspruchsvoraussetzungen müssen glaubhaft gemacht werden (§ 1 Abs. 2 ZRBG i. V. m. § 3 Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung [WGSVG]). Glaubhaft gemacht ist eine Tatsache, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche verfügbare Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist, d. h. mehr für als gegen sie spricht, wobei gewisse noch verbleibende Zweifel unschädlich sind (vgl. BSG, Beschluss vom 08.08.2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900, § 15 Nr. 4).

Die Anerkennung von Beitragszeiten scheitert für den geltend gemachten Zeitraum nicht schon daran, dass die Klägerin für diese Zeiten eine Entschädigung nach dem Gesetz zur Entrichtung einer Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZStiftG) erhalten hat. Wie der Senat bereits entschieden hat, erstrecken sich die in § 16 Abs. 1 S. 2 EVZStiftG geregelte Ausschlusswirkung und die Verzichtswirkung des § 16 Abs. 2 S. 2 EVZStiftG nicht auf den Anspruch auf Zahlung einer (ggf. höheren) Rente aufgrund von Beitragszeiten nach § 2 Abs. 1 ZRBG (vgl. zuletzt Senat Urteil vom 18.06.2008, L 8 R 298/07, sozialgerichtsbarkeit.de, mit eingehender Begründung)

Es ist zwar glaubhaft, dass die Klägerin sich in der Zeit von September 1941 bis September 1943 zwangsweise im Ghetto Wilna, das in Litauen und damit einem vom Deutschen Reich besetzten Gebiet lag, aufgehalten hat. Ihr dortiger Aufenthalt ist überwiegend wahrscheinlich aufgrund ihrer eigenen durchgängigen Bekundung im Entschädigungsverfahren, gegenüber der JCC und im Rentenverfahren, die durch die Erklärungen der Zeuginnen L und C im Entschädigungsverfahren bestätigt worden sind. Der Senat hat zudem keine Bedenken, das im fraglichen Zeitraum in Wilna ein Ghetto bestanden hat. Zudem ist die Klägerin als Verfolgte im Sinne des BEG anerkannt.

Keine durchgreifenden Zweifel hat der Senat auch an den behaupteten Beschäftigungen der Klägerin. Es liegt nicht fern, dass sie im Winter Reinigungsdienste für den Judenrat und im Sommer landwirtschaftliche Tätigkeiten ausgeübt hat, auch wenn diese im Entschädigungsverfahren und auch gegenüber der JCC keine Erwähnung gefunden haben. Schließlich kam es in den dortigen Verfahren nicht auf die Verrichtung beruflicher Tätigkeiten an. Es fällt zwar daneben noch auf, dass die Klägerin zunächst im Formantrag und auch im ZRBG-Fragebogen der Beklagten nur Tätigkeiten in der Landwirtschaft beschrieben hat, sodann die Reinigungsarbeiten erstmals in ihrer persönlichen Erklärung vom 04.12.2005 während des Klageverfahrens erwähnt hat. Indessen kann dies auch dem Bemühen um genauere Erinnerung im Laufe des Verfahrens zuzuschreiben sein.

Letztlich kann die Frage einer Beschäftigung der Klägerin jedoch offen bleiben. Denn jedenfalls ist nicht glaubhaft gemacht, dass sie die Beschäftigungen gegen Entgelt im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 ZRBG ausgeübt hat.

Der in § 1 Abs. 1 Nr. 1 ZRBG beschriebene Typus der Beschäftigung ist nach dem Vorbild des sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses auch durch die Entgeltlichkeit von der nicht von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ZRBG erfassten Zwangsarbeit abzugrenzen. Danach ist neben der Aufnahme und Ausübung der Arbeit aus eigenem Willensentschluss auch die Gewährung eines Entgelts erforderlich, das nach Art und Höhe eine versicherungspflichtige Beschäftigung begründen kann (Senat, Urteil vom 21.11.2007, L 8 R 98/07; sozialgerichtsbarkeit.de). Maßgebend hierfür sind die Kriterien, die das BSG in seiner sogenannten Ghetto-Rechtsprechung (vgl. BSG, Urteil vom 18.06.1997, 5 RJ 66/95, SozR 3-2200 § 1248 Nr. 15; vom 21.04.1999 B 5 RJ 48/98 R, SozR 3-2200 § 1248 Nr. 16; vom 14.07.1999, B 13 RJ 75/98 R, aaO.) entwickelt hat (vgl. hierzu im einzelnen BSG Urteil vom 07.10.2004, aaO.; Senatsurteil vom 21.11.2007, aaO.).

Wie der Senat bereits im Einzelnen dargelegt hat, ist als Entgelt in diesem Sinne ein die Versicherungspflicht in der Deutschen Rentenversicherung begründendes Entgelt anzusehen (vgl. zum Folgenden Urteile vom 12.12.2007, L 8 R 187/07 und vom 28.01.2008, L 8 RJ 139/04; jeweils a.a.O.). Danach lassen sich die im Zusammenhang mit Streitigkeiten nach dem ZRBG auftretenden Fallgruppen zunächst wie folgt systematisieren: Die Gewährung von Entgelt in der ortsüblichen Währung, von Ghettogeld oder zum Tausch bestimmten Bezugsscheinen ist Entgelt in Sachen von § 1 Abs. 1 Nr. 1 b ZRBG, soweit ihr Umfang 1/6 bzw. 1/3 des ortsüblichen Arbeitsentgelts für ungelernte Arbeiter(-innen) übersteigt. Bei der Gewährung von Sachbezügen ist dagegen zu unterscheiden: Übersteigen die Sachbezüge (insbesondere Verpflegung, Unterkunft und Kleidung) nicht das Maß freien Unterhalts, d.h. derjenigen wirtschaftlichen Güter, die zur unmittelbaren Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse des Einzelnen erforderlich sind, liegt kein Entgelt vor. Bei Lebensmitteln kommt es darauf an, ob sie nach Art und Umfang des Bedarfs unmittelbar zum Verbrauch oder Gebrauch gegeben werden. Wird das Maß des persönlichen Bedarfs hingegen überschritten und werden die Lebensmittel zur freien Verfügung gewährt, ist von Entgelt auszugehen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn glaubhaft gemacht wird, dass gewährte Lebensmittel auch den Bedarf eines Angehörigen sicherstellen. Stehen Art und Umfang gewährter Lebensmittel bzw. Sachbezüge nach Ausschöpfung aller sonstigen Beweismittel, z.B. der glaubhaften Angaben der Klägerin bzw. des Klägers, vernommener Zeugen, Angaben in einem Sachverständigengutachten, oder aufgrund eindeutiger historischer Quellen nicht fest, so kann ein entsprechender Umfang im Einzelnen als glaubhaft gemacht angesehen werden, wenn die gute Möglichkeit besteht, dass ein Dritter, insbesondere ein Familienangehöriger, hiervon über einen erheblichen Zeitraum zumindest entscheidend mitversorgt worden ist. Ohne Bedeutung ist es dagegen, ob die Lebensmittel unmittelbar in Naturalien gewährt worden sind, oder ob die Betroffenen Lebensmittelcoupons erhalten haben, die sie gegen Lebensmittel eintauschen konnten.

Nach Maßgabe dieser Grundsätze sind die von der Klägerin ausgeübten Beschäftigungen nicht als entgeltlich anzusehen, wobei der Senat hierbei vom eigenen Vortrag der Klägerin ausgeht.

Sowohl auf die Fragen der Beklagten als auch auf die konkreten Fragen des Senats hat die Klägerin - bestätigt durch die Antworten ihrer Zwillingsschwester B Holländer - kontinuierlich angegeben, für ihre Tätigkeiten (lediglich) Lebensmittel (für zu Hause) erhalten zu haben. Soweit sie sich in ihrer Erklärung vom 04.12.2005 über die Möglichkeit des Erhalts von Lebensmittelcoupons und/oder zusätzlichem Bargeld verhält, räumt sie selbst an, sich hieran nicht erinnern zu können. In ihren unmissverständlichen Antworten auf die schriftlichen Fragen des Senates hat sie demgemäß von dahingehenden Überlegungen wieder Abstand genommen.

Angesichts dieser Angaben der Klägerin und ihrer Schwester wird zumindest eine Barentlohnung auch vor dem Hintergrund der Ausführungen von Dr. Tauber im Gutachten vom 15.06.2008 nicht überwiegend wahrscheinlich im Sinne einer guten Möglichkeit. Soweit Dr. Tauber dort von einer "allgemein üblichen Lohnzahlung" ausgeht, bezieht sich dies erkennbar auf industrielle bzw. gewerbliche Arbeitgeber. Demgegenüber war die Klägerin nach eigenen Angaben beim Judenrat "angestellt" bzw. hat Tätigkeiten in der Landwirtschaft aus. Zudem sieht der Senat keine Möglichkeit, sich mit Hilfe allgemein gehaltener historischer Erkenntnisse über ihre eindeutigen eigenen Angaben hinwegzusetzen.

Bezüglich der erhaltenen Lebensmittel kann nicht im Sinne einer guten Möglichkeit festgestellt werden, dass sie nach dem vorbestimmten Maß zur beliebigen Verfügung geeignet gewesen, d. h. über den unmittelbaren Bedarf der Klägerin hinaus gegangen sind. Die Klägerin selbst hat zur Menge der erhaltenen Lebensmittel keine näheren Angaben gemacht oder machen können. Für eine maßgebliche Mitversorgung Dritter bestehen ebenfalls keine hinreichenden Anhaltspunkte. Vielmehr hat sie auf die ausdrücklichen Fragen des Senats noch einmal ausgeführt, dass alle Verwandten, die mit im Ghetto gewesen wären, insbesondere ihre Eltern und die Geschwister, gearbeitet hätten. Insofern ist überwiegend wahrscheinlich, dass sie eine der Klägerin entsprechende Gegenleistung für ihre Tätigkeiten erhalten haben und dementsprechend eine nachhaltige Mitversorgung nicht nötig war.

Da die Klägerin vorträgt, die Gegenleistung für ihre Tätigkeiten jeweils direkt vom Arbeitgeber bzw. an der Arbeitsstelle erhalten zu haben, ist kein Raum für die Annahme, dass es gleichsam "im Hintergrund" eine (Bar-)Lohnzahlung eines potentiellen Arbeitgebers an einen Dritten - insbesondere den Judenrat - gegeben und dieser den Barlohn einbehalten und lediglich Sachmittel ausgekehrt hat.

Die Klägerin kann sich weiter nicht mit Erfolg darauf berufen, für das Merkmal einer Beschäftigung "gegen Entgelt" im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b ZRBG reiche es aus, dass sie für ihre Arbeitsleistung einen Rechtsanspruch auf Entgelt gehabt habe auch wenn dieses nicht gezahlt worden sei. Der Senat hat bereits im Einzelnen dargelegt, aus welchen Gründen diese Rechtsauffassung auch dann unzutreffend ist, wenn örtliche Lohnordnungen eine Bezahlung der Arbeitskräfte vorgesehen haben, die indessen unterblieben ist (Urteile des Senats vom 09.03.2008, L 8 R 220/07 und L 8 R 265/07; jeweils sozialgerichtsbarkeit.de). Infolgedessen kann dahingestellt bleiben, ob zum Beispiel die allgemeine Anordnung für die einheimischen Arbeiter im öffentlichen Dienst und in der Wirtschaft vom 21.11.1941 (Verordnungsblatt des Reichskommissars für das Ostland vom 25.11.1941, Seite 75), die Vorschriften über Lohnzahlungen an die genannten Arbeitskräfte enthielt, ihrer konkreten Ausgestaltung nach einen individuellen Lohnanspruch der Klägerin begründen sollte.

2. Die von der Klägerin im Ghetto Wilna verrichtete Arbeiten können auch nicht nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw. §§ 15, 16, Fremdrentengesetz (FRG) i. V. m. § 20 WGSVG bzw. § 17a FRG oder § 12 WGSVG als Versicherungszeit angerechnet werden.

Die behauptete Arbeit der Klägerin in Wilna unterfiel nicht den Reichsversicherungsgesetzen. Im Reichskommissiariat Ostland galten diese nicht für Personen, die wie die Klägerin, nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen (vgl. BSG, Urteil vom 23.08.2001 - B 13 RJ 59/00 R für das sogenannte Generalgouvernement). Eine Anrechnung als Versicherungszeit kann sich daher allein nach den §§ 15, 16 FRG i. V. m. § 20 WGSVG bzw. § 17a FRG richten. Eine Anrechnung als Beitragszeit nach § 15 Abs. 1 FRG kommt indessen nicht in Betracht, weil eine Beitragsentrichtung zu einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung nicht glaubhaft gemacht und von der Klägerin auch gar nicht behauptet worden ist. Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 FRG sind bereits deshalb nicht erfüllt, da - wie oben bereits ausgeführt worden ist - ein nach deutschem Recht dem Grunde nach rentenversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nicht im Sinne einer guten Möglichkeit festgestellt werden kann. Auch § 16 FRG greift nicht zu Gunsten der Klägerin ein, da die von ihr ausgeübten Tätigkeiten nicht nach dem am 01.03.1957 geltenden Bundesrecht (§§ 1227 und 1228 RVO n.F.) Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung begründet hätten, wenn sie im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verrichtet worden wären und nicht nach vollendetem 17. Lebensjahr verrichtet worden sind.

Da nicht im Sinne einer Glaubhaftmachung festgestellt werden kann, dass die Klägerin eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat, liegen die Voraussetzungen des § 12 WGSVG ebenfalls nicht vor.

Weitere - von der Klägerin mit der vorliegenden Klage ohnehin nicht geltend gemachte - Beitragszeiten, die zum Anspruch auf Zahlung einer Regelaltersrente führen könnten, sind nicht ersichtlich.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Anlass, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG zuzulassen, hat nicht bestanden. Der Angelegenheit kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu. Denn zu den anzuwendenden gesetzlichen Begriffen sind schon mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung geben (vgl. BSG SozR 3-1500, § 160 Nr. 8; BSG Beschluss vom 06.08.2008 - B 5 R 69/07 B).
Rechtskraft
Aus
Saved