L 7 SO 60/06 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 16 SO 156/05 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 SO 60/06 ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 31. Juli 2006 aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 5. August 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 2005 wird angeordnet.

II. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Auskunftsverlangens des Antragsgegners.

Der Antragsteller ist der Vater der 1984 geborenen A. (R.), die seit dem 1. März 2003 vom Antragsgegner Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in Form von Hilfe zum Lebensunterhalt bezog. Mit Bescheid vom 5. August 2004 übermittelte der Antragsgegner dem Antragsteller eine Rechtswahrungsanzeige gemäß § 91 Abs. 3 BSHG und forderte den Antragsteller gleichzeitig auf, gemäß § 116 BSHG Auskunft über seine wirtschaftlichen Verhältnisse zu geben. Insoweit ordnete der Antragsgegner die sofortige Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) an, weil die Feststellung von gegenüber der Sozialhilfe vorrangigen Unterhaltsansprüchen im öffentlichen Interesse liege und daher die Leistungsfähigkeit überprüft werden müsse.

Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller mit am 26. August 2004 eingegangenen Schreiben vom 24. August 2004 Widerspruch, den der Antragsgegner durch Widerspruchsbescheid vom 11. August 2005 zurückwies. Die dagegen erhobene Klage ist unter dem Aktenzeichen S 16 SO 125/05 beim Sozialgericht Darmstadt (SG) anhängig.

Mit Schriftsatz vom 17. Oktober 2005 beantragte der Antragsteller wegen der von ihm geforderten Auskunftserteilung die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes. Seinen Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 20. August 2004 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 5. August 2004 anzuordnen, hat das SG durch Beschluss vom 31. Juli 2006 abgelehnt.

Zur Begründung seiner Entscheidung hat das SG ausgeführt, dass das Auskunftsverlangen des Antragsgegners, das seine Rechtsgrundlage in § 16 Abs. 1 BSHG finde, rechtmäßig sei. Vom Antragsteller als Vater der R. habe Auskunft gemäß Abs. 1 S. 1 dieser Vorschrift verlangt werden können, soweit der - potentielle - Unterhaltsanspruch der Tochter aufgrund Rechtswahrungsanzeige gemäß § 91 Abs. 3 BSHG auf den Träger der Sozialleistungen übergegangen gewesen sei. Die Rechtswahrungsanzeige sei ebenfalls mit Schreiben vom 5. August 2004 erfolgt. Es bestehe kein Zweifel daran, dass die Auskünfte des Antragstellers für den Antragsgegner erforderlich seien, um die Regelungen des BSHG durchzuführen, insbesondere dem Nachranggrundsatz aus § 2 BSHG gerecht zu werden. Insoweit sei Unterhaltsanspruch der Tochter gegenüber dem Antragsteller auch nicht offensichtlich ausgeschlossen, wie dies das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung als Ausnahme von der Regelung des § 116 Abs. 1 S. 1 BSHG angenommen habe. Nach dieser Rechtsprechung setze das Auskunftsverlangen nicht voraus, dass der zur Überleitung vorgesehene Unterhaltsanspruch tatsächlich bestehe. Vielmehr sei zu Auskunft bereits verpflichtet, wer als - potentieller - Unterhaltsschuldner des Sozialhilfeempfängers in Betracht komme. Dem Antragsteller sei zwar zuzugestehen, dass seine Tochter ein Verhalten an den Tag gelegt habe, welches einen zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch auszuschließen vermöge. Allerdings sei weder tatsächlich noch rechtlich eindeutig geklärt, dass das Verhalten zwingend zum Ausschluss eines Unterhaltsanspruches führen müsste. Zum einen sei insoweit das Verhalten der Tochter noch näher zu beleuchten, ohne dass dem Antragsgegner nach Auffassung des Gerichts insoweit der Vorwurf gemacht werden könne, er habe seine Amtsermittlungspflicht nicht im erforderlichen Umfang ausgeübt. Andererseits - und allein dies sei vorliegend schon für sich genommen streitentscheidend - führe das Verhalten der Tochter nach den Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) nicht automatisch zum Ausschluss des Unterhaltsanspruches. Dies bedürfe vielmehr einer familienrechtlichen Einzelfallbetrachtung unter Einbeziehung der insoweit vielschichtigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH). Die Gesamtumstände des Falles machten damit deutlich, dass von der Offensichtlichkeit eines Ausschlusses eines Unterhaltsanspruches nicht ansatzweise die Rede sein könne. Entgegen der Auffassung des Antragstellers habe der Antragsgegner jedenfalls in der Zusammenschau von Ausgangsbescheid und Widerspruchsbescheid das besondere Interesse an der Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 3 VwGO bzw. § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG im Ergebnis gerade noch hinreichend begründet. Es erscheine auch "gerade noch" ausreichend, wenn der Antragsgegner zur Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung ausgeführt habe, dass das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung vorliege, weil anderweitige Ansprüche gegenüber der Sozialhilfe stets vorrangig seien und es im öffentlichen Interesse liege, über Bestehen oder Nichtbestehen anderweitiger Ansprüche zügig entscheiden zu können. Auch wenn diese Begründung zunächst einmal als formelhaft und nicht auf den Einzelfall bezogen sich darstellen möge, genüge sie den Anforderungen der genannten Normen, weil die hinter dieser Begründung stehende Abwägung der gegenseitigen Interessen nicht zu beanstanden sei. Während sich der Eingriff in die Rechte des Antragstellers durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung hinsichtlich des Auskunftsverlangens als denkbar gering darstelle, bestehe ein erhebliches öffentliches Interesse daran, zeitnah bei der Erbringung von Sozialleistungen prüfen zu können, ob dem Sozialleistungsträger Erstattungsansprüche zustünden oder nicht.

Gegen diesen ihm am 2. August 2006 zugestellten Beschluss wendet sich der Antragsteller mit seiner am 31. August 2006 eingegangenen Beschwerde, der das SG nicht abgeholfen hat (Verfügung vom 1. September 2006).

Der Antragsteller macht im Wesentlichen geltend, dass ein Unterhaltsanspruch seiner Tochter offensichtlich nicht gegeben sei. Ein Anspruch auf Ausbildungsunterhalt bestehe nur in einem Ausnahmefall, der jedoch ausscheide, weil R. die Voraussetzungen für ein Studium an einer Universität oder eine Fachhochschule nicht erfülle. Beim Volljährigenunterhalt seien die rechtlichen Anforderungen an den Unterhaltsanspruch besonders streng. Die zweimalige Unterbrechung der Ausbildung unterfalle ausschließlich der Risikosphäre der Tochter, die ihre Obliegenheit, mit entsprechender disziplinierter Arbeit das Ausbildungsziel zu erreichen, nicht erfüllt habe; schon deshalb bestehe ein Unterhaltsanspruch nicht. Das volljährige Kind müsse im Übrigen dann für seinen Lebensbedarf selbst aufkommen und habe in diesem Rahmen eine gesteigerte Erwerbsobliegenheit auf Verwertung der eigenen Arbeitskraft. Wie auch die offenbaren Vorgänge bei der Agentur für Arbeit in A-Stadt belegten, habe R. ihre gesteigerte Erwerbsobliegenheit nicht erfüllt. Im Übrigen schuldeten die Eltern nur eine angemessene Ausbildung, die der Begabung und den Fähigkeiten, dem Leistungswillen und den beachtenswerten, nicht nur vorübergehenden Neigungen des Kindes am besten entspreche. Das sei vorliegend beachtet worden. Es sei nachgewiesen, dass er - der Antragsteller - seiner Tochter (mit einiger Mühe) zwei "konstruktive" Ausbildungsstellen vermittelt habe. Beide habe R. entweder völlig grundlos abgebrochen oder gekündigt. Den vorbezeichneten Sachverhalt hätte der Antragsgegner von Amts wegen ermitteln müssen, um einen Leistungsmissbrauch auszuschließen. Bei ordnungsgemäßer Wahrnehmung der betreffenden Amtspflichten hätte die zuständige Verwaltungsbehörde zu der Auffassung gelangen müssen, dass ein Anspruch der R. auf Volljährigenunterhalt offensichtlich nicht bestehe. Auch die Güterabwägung des erstinstanzlichen Gerichts sei rechtsfehlerhaft erfolgt. Welche Abwägung der Verwaltungsbehörde hinter der formelhaften Begründung stehe, sei nicht nachvollziehbar. Eine besondere Gefährdung fiskalischer Interessen sei nicht ersichtlich. Demgegenüber fordere der Antragsgegner eine umfassende Offenlegung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Bei der Offensichtlichkeit der Rechtslage hinsichtlich des Bestehens eines Unterhaltsanspruches sei der persönliche Datenschutz des Antragstellers das höherwertige Rechtsgut.

Der Antragsteller beantragt (sinngemäß),
unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Darmstadt vom 31. Juli 2006 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 5. August 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 2005 anzuordnen.

Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.

Er bezieht sich auf sein erstinstanzliches Vorbringen.

Im Übrigen wird wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten auf den Inhalt der Akte des Antragsgegners, der Akte S 16 SO 125/05 des SG und der Streitakte Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde ist begründet.

Nach § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen die Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung hat, diese ganz oder teilweise anordnen. Vorliegend hatte zwar die von dem Antragsteller gegen die streitgegenständlichen Bescheide erhobene Klage grundsätzlich aufschiebende Wirkung (§ 86 a Abs. 1 Satz 1 SGG). Die Antragsgegnerin hat jedoch mit diesen Bescheiden die sofortige Vollziehung nach § 86 a Abs. 2 Nr. 5 SGG angeordnet. Dies ist vorliegend zu beanstanden.

Zu Unrecht ist das SG nämlich davon ausgegangen, dass der Antragsgegner die formalen Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Bescheide beachtet hat.

Nach § 86 a Abs. 2 Nr. 5 SGG muss die Behörde das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich begründen. Die Begründung hat den Zweck, dass der Betroffene durch Kenntnis der Gründe, die die Behörde zum Sofortvollzug veranlasst haben, seine Rechte wirksam wahrnehmen und die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels abschätzen kann (Kopp/Schencke, Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - 12. Auflage, § 80 Randziffer 84). Die Begründungspflicht soll der Behörde den Ausnahmecharakter der Vollziehungsanordnung vor Augen führen und sie veranlassen, mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob tatsächlich ein überwiegendes Vollziehungsinteresse den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung erfordert. Diese vom Gesetzgeber herausgestellte "Warnfunktion" der Begründungspflicht beruht auf dem hohen verfassungsrechtlichen Stellenwert, der aufgrund von Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage gegen belastende Verwaltungsakte zuzumessen ist (vgl. KoppP/Schencke a.a.O.; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 12. Februar 2004, info also 2004, 117).

Erforderlich ist daher eine auf den konkreten Einzelfall abstellende Darlegung des besonderen öffentlichen Interesses daran, dass ausnahmsweise die sofortige Vollziehbarkeit notwendig ist und dass hinter dieses erhebliche öffentliche Interesse das Interesse des Betroffenen zurücktreten muss, zunächst von dem von ihm bekämpften Verwaltungsakt nicht betroffen zu werden (Kopp/Schencke a.a.O., § 80 Randziffer 85). Die Begründung kann ausnahmsweise auf die Begründung des zu vollziehenden Verwaltungsakts Bezug nehmen, wenn aus diesem bereits die besondere Dringlichkeit hervorgeht und die von der Behörde getroffene Interessenabwägung klar (insbesondere auch hinsichtlich der Frage, was allgemeine Begründung des Verwaltungsakts ist und was spezifischer Grund für den Sofortvollzug war) erkennbar ist. Sie ist aber auch in diesem Fall, d.h., wenn für den Sofortvollzug dieselben Gründe maßgeblich sind wie für den Verwaltungsakt, nicht entbehrlich (Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 23. Dezember 2005 – L 7 AL 228/05 ER; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage, § 86 a Randziffer 20 ff.). Fehlt die erforderliche Begründung oder ist sie unzulänglich, ist der Sofortvollzug rechtswidrig (Kopp/Schencke a.a.O. § 80 Randziffer 87).

Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung in den Bescheiden vom 5. August 2004 und vom 11. August 2005 genügt nicht diesen Erfordernissen. Der Antragsgegner hat den Sofortvollzug im Bescheid vom 5. August 2004 damit begründet, die Feststellung von gegenüber der Sozialhilfe vorrangigen Unterhaltsansprüchen liege im öffentlichen Interesse; daher müsse die Leistungsfähigkeit überprüft werden. Im Widerspruchsbescheid vom 11. August 2005 hat er ausgeführt, bei Abwägung der Interessen des Antragstellers mit dem öffentlichen Interesse, über das Bestehen eines gegenüber der Sozialhilfe vorrangigen Unterhaltsanspruches Auskunft zu erhalten, überwiege das öffentliche Interesse bei weitem, da anderweitige Ansprüche gegenüber der Sozialhilfe stets vorrangig seien und es im öffentlichen Interesse liege, über Bestehen oder Nichtbestehen anderweitiger Ansprüche zügig entscheiden zu können. Mit diesen Darlegungen hat der Antragsgegner im Wesentlichen nur auf das allgemeine, jedem Gesetz innewohnende öffentliche Interesse am Vollzug des Gesetzes abgestellt, welches für sich jedoch - wie ausgeführt - nicht zur Begründung der sofortigen Vollziehung ausreicht. Diese erfordert vielmehr ein besonderes Vollzugsinteresse, das über jenes hinausgeht, welches den Verwaltungsakt rechtfertigt. Die Begründung des besonderen Vollzugsinteresses ist selbst dann nicht entbehrlich, wenn ein Rechtsbehelf gegen den Verwaltungsakt wegen der offensichtlichen Rechtmäßigkeit oder aus einem sonstigen Grund offensichtlich aussichtslos ist (vgl. BVerfG NVwZ 1996, 59 ff.).

Die Dringlichkeit des Interesses an der Vollziehung hat demgegenüber in den streitgegenständlichen Bescheiden keine besondere Erwähnung gefunden. Zwar hat der Antragsgegner im Widerspruchsbescheid sein Interesse an einer "zügigen" Entscheidung zum Ausdruck gebracht. Ganz abgesehen davon, dass Entscheidungen unabhängig von einer Anordnung der sofortigen Vollziehung zügig ergehen sollten, wie insbesondere die Regelung des § 88 Abs. 2 SGG zeigt, hat der Antragsgegner dieses Argument dadurch ad absurdum geführt, dass er sich mit der Entscheidung über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 5. August 2004 nahezu ein Jahr Zeit gelassen hat. Vor diesem Hintergrund kann eine besondere Dringlichkeit nicht begründet werden.

Die folglich unzureichende Begründung der sofortigen Vollziehung führt zu deren Rechtswidrigkeit.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

Die Entscheidung gemäß § 177 SGG ist unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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