L 6 P 632/05

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Gotha (FST)
Aktenzeichen
S 16 P 871/03
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 6 P 632/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 28. Juli 2005 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Rechtmäßigkeit der Aufhebung der Bewilligung von Geldleistungen entsprechend der Pflegestufe I ab dem 1. August 2002 streitig.

Die 1978 geborene Klägerin bezog seit dem 1. Juli 1998 Geldleistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung entsprechend der Pflegestufe II in Höhe von 800,00 DM monatlich (Bescheid vom 7. Januar 1999). Dem zu Grunde lag ein Gutachten der Ärztin für Nervenheilkunde W. und der Pflegefachkraft H. vom 29. Dezember 1998. Danach liegt bei der Klägerin eine paranoide Schizophrenie mit Residualsymptomatik vor, die Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung begründet. Ohne tägliche Anleitung bestehe Verwahrlosungsgefahr, durch Nichteinnahme der Medikamente bestehe die Gefahr der Exacerbation der paranoid-halluzinatorischen Symptomatik mit Suizidhandlungen, die größtenteils psychotisch motiviert seien.

Aufgrund eines Antrages der Klägerin auf Gewährung von Geldleistungen entsprechend der Pflegestufe III holte die Beklagte ein weiteres Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Berlin (MDK) vom 27. Dezember 1999 ein. Danach besteht im Bereich der Grundpflege ein Hilfebedarf von 68 Minuten, im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung im Umfang von 70 Minuten täglich. Der tatsächliche Hilfebedarf entspreche seinem Umfang nach den gesetzlichen Voraussetzungen der Pflegestufe I. Die Prognose sei zurzeit nach den mehrmaligen Krankenhausaufenthalten in den zurückliegenden Monaten ungewiss. Im Vergleich zum Vorgutachten lägen infolge der Medikamentenumstellung geringere Einschränkungen in der Willkürmotorik vor, die Stimmung habe sich allgemein verbessert. Die Klägerin sei lenkbarer, sie benötige kurze Anleitungen, sodass sich der Hilfebedarf beim Waschen, beim Essen und beim Kleidungswechsel verringert habe.

Die Gutachten des MDK 19. Januar 2000 und vom 25. Januar 2000 stimmen im Ergebnis mit dem Gutachten vom 27. Dezember 1999 überein.

Mit Bescheid vom 4. Februar 2000 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass die bisher gewährten Leistungen nach der Pflegestufe II beendet werden und ab dem 1. März 2000 Pflegegeld nach der Pflegestufe I in Höhe von 400 DM gezahlt wird. Mit Widerspruchsbescheid vom 11. Mai 2000 wies sie den Widerspruch der Klägerin zurück.

Im Rahmen einer Nachuntersuchung beauftragte die Beklagte den MDK Thüringen mit der Erstellung eines weiteren Gutachtens. In dem Gutachten vom 13. März 2001 (Hilfebedarf in der Grundpflege: 45 Minuten täglich, im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung: 60 Minuten täglich) führt Dr. T. aus, die Klägerin wohne gemeinsam mit ihrer Mutter und deren Lebenspartner. Sie wohne in der Parterrewohnung in zwei Zimmern mit Küche und Bad. Sie habe jetzt einen geringeren Hilfebedarf in Form der Anleitung und Beaufsichtigung bei der Körperpflege sowie beim Be- und Entkleiden. Die zeitlichen und inhaltlichen Kriterien der Pflegestufe I seien erfüllt. Die hauswirtschaftliche Versorgung müsse weiterhin zu einem sehr großen Teil übernommen werden. Auch seien sehr umfangreiche allgemeine Betreuungsmaßnahmen erforderlich.

Mit Bescheid vom 19. März 2001 teilte die Beklagte der Klägerin mit, aus dem vorliegenden Gutachten gehe hervor, dass sich der Hilfebedarf im Vergleich zum Vorgutachten nicht verändert habe. Sie erhalte weiterhin Pflegegeld der Stufe I in Höhe von 400,00 DM monatlich.

Am 10. April 2002 fand eine weitere Begutachtung der Klägerin durch den MDK Thüringen e. V. statt. In dem Gutachten vom 22. April 2002 führt Dr. T. aus, die Betreuerin der Klägerin besitze in Berlin eine Wohnung und halte sich auch dort zeitweise auf. Zwischenzeitlich sei eine Hauswirtschafterin eingestellt worden, die sich um den Haushalt gekümmert habe, wenn die Mutter nicht vor Ort sei. Ab dem 31. Juli 2002 sei eine Ausbildung im Berufsbildungswerk G. für insgesamt drei Jahre vorgesehen. Die Klägerin berichtete ihr, sie fühle sich jetzt bei regelmäßiger Einnahme des Medikaments Leponex deutlich gefestigt, sei auch nicht mehr so misstrauisch und höre keine Stimmen mehr. Sie führe die Körperpflege selbstständig durch, ebenso das An- und Auskleiden, weil ihre Mutter oftmals nicht anwesend sei, wenn sie das Haus verlasse. Die Gutachterin stellte keine Verwahrlosungstendenzen fest. Im Bereich der Grundpflege bestätigte sie bei der Körperpflege einen Hilfebedarf von zwei Minuten, im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung von 60 Minuten täglich. Die Klägerin habe sich durch die medikamentöse Behandlung in ihrem Krankheitsbild stabilisiert, sodass eine deutliche Reduzierung in den grundpflegerischen Maßnahmen, die sich vermehrt auf Anleitung und Beaufsichtigung bei der Körperpflege sowie beim An- und Auskleiden bezogen hätten, eingetreten sei. Die zeitlichen und inhaltlichen Kriterien der Pflegestufe I seien nicht mehr erfüllt. Die allgemeinen Betreuungsleistungen der Mutter seien nach wie vor sehr hoch, könnten aber zeitlich nicht mit in die grundpflegerischen Maßnahmen hineingerechnet werden. Bei deutlicher Aktivierung des Krankheitsbildes sei nicht auszuschließen, dass auch wieder eine Pflegebedürftigkeit eintreten könnte.

Mit Schreiben vom 26. April 2002 teilte die Beklagte der Klägerin das Ergebnis der Begutachtung sowie die Absicht mit, die Bewilligung von Leistungen entsprechend der Pflegestufe I am 31. Mai 2002 zu beenden und räumte ihr hierzu Gelegenheit zur Stellungnahme ein.

Die Beklagte holte ein weiteres Gutachten des MDK vom 4. Juli 2002 ein. Anwesend am Untersuchungstag waren die Großmutter der Klägerin sowie ein Zivildienstleistender. Die Klägerin erklärte, dass weiterhin ab dem 31. Juli 2002 die Ausbildung im Berufsbildungswerk G. als Bürokraft vorgesehen sei. Sie werde sich dann von Montag bis Freitag im Internat aufhalten. Eine sechswöchige Probephase habe sie gut überstanden. Der anwesende Zivildienstleistende bestätigte, dass diese derzeit alles selbstständig ausführe, aber manchmal eine Erinnerung brauche. Die Ärztin für Psychiatrie B. und die Pflegefachkraft Hl. stellten als Ergebnis der Begutachtung fest, aufgrund der Angaben der Klägerin sowie der weiter anwesenden Personen sei deutlich geworden, dass Unterstützungen im grundpflegerischen Bereich nicht mehr notwendig seien.

Mit Bescheid vom 24. Juli 2002 hob die Beklagte die Bewilligung von Geldleistungen entsprechend der Pflegestufe I mit Wirkung vom 1. August 2002 auf.

Vom 2. August bis zum 7. September 2002 wurde die Klägerin erneut stationär im Waldklinikum G. sowie vom 8. September bis zum 2. Oktober 2002 und vom 9. Oktober bis zum 14. Oktober 2002 im S. Klinikum W. wegen paranoider Schizophrenie behandelt. Mit Schreiben vom 8. Januar 2003 kündigte die CJD Berufsausbildungswerk G. gGmBH das Ausbildungsverhältnis zur Bürofachkraft zum 10. Januar 2003 wegen mangelnder Ausbildungsfähigkeit.

Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 2003 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 24. Juli 2002 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 18. Februar 2003 beim Sozialgericht Meiningen Klage erhoben. Mit Beschluss vom 11. März 2003 hat das Sozialgericht die Klage an das Sozialgericht Gotha verwiesen.

Mit Bescheid vom 11. März 2003 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Geldleistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung vom 23. Dezember 2002 nach Einholung eines weiteren Gutachtens des MDK vom 12. Februar 2003 ab. Einen weiteren Antrag lehnte sie mit Bescheid vom 29. Juli 2003 ab. Den Widerspruch gegen den Bescheid vom 11. März 2003 wies sie nach Einholung eines Gutachtens des MDK vom 24. Juli 2003 mit Widerspruchsbescheid 3. November 2003 zurück. Weitere Anträge der Klägerin auf Gewährung von Geldleistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung lehnte die Beklagte jeweils ab.

Mit Urteil vom 28. Juli 2005 hat das Sozialgericht die Klage auf Aufhebung des Bescheides vom 24. Juli 2002 (richtig: in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Januar 2003) abgewiesen. Der Vorsitzende hat in der Sitzung laut Niederschrift darauf hingewiesen, dass der Widerspruchsbescheid vom 3. November 2003 (richtig: der Bescheid vom 11. März 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2003) nicht nach § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden ist.

Hiergegen hat die Klägerin am 30. August 2005 Berufung eingelegt. Seit der Entziehung der Pflegestufe gehe es ihr erheblich schlechter. Die Medikamenteneinnahme müsse viermal täglich kontrolliert werden, sie benötige Motivation zur Durchführung der Grund- und Zahnpflege, sie benötige Hilfe bei der Nahrungszubereitung sowie der Nahrungsaufnahme sowie ständiger Aufsicht. Bei den letzten Begutachtungen durch den MDK habe sie ihre Erkrankung zu ihrem Nachteil und zum Nachteil ihrer Angehörigen weitaus unterschätzt.

Mit Bescheid vom 14. August 2006 bewilligte die Beklagte die Klägerin ab dem 1. März 2006 Geldleistungen entsprechend der Pflegestufe I in Höhe von 205,- EUR monatlich.

Die Klägerin vertritt die Ansicht, auch in dem Zeitraum von Juli 2002 bis Februar 2006 habe Hilfebedarf bestanden, dessen Umfang mindestens die Gewährung von Leistungen entsprechend der Pflegestufe I rechtfertige. Sie benannte Personen, die ihr in diesem Zeitraum behilflich waren und überreichte eine Aufstellung über ihre stationären Krankenhausaufenthalte bzw. sonstigen stationären Unterbringungen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 28. Juli 2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. Juli 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Januar 2003 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf den Inhalt ihrer angefochtenen Bescheide sowie die Gründe des in erster Instanz ergangenen Urteils.

Im Berufungsverfahren hat der Senat diverse medizinische Unterlagen beigezogen sowie ein Pflegegutachten der Dr. M. vom 7. Juni 2006 und eine ergänzende Stellungnahme vom 5. September 2006 eingeholt.

Im Erörterungstermin am 22. Januar 2007 hat der Berichterstatter A. J., C. L. und G. T. zur Frage des Pflegebedarfs der Klägerin als Zeuginnen vernommen. Bezüglich der Aussage der Zeuginnen wird auf die Sitzungsniederschrift vom 22. Januar 2007 Bezug genommen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozess- und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Der Senat konnte in Abwesenheit der Klägerin entscheiden, weil diese mit der Ladung nach § 110 Abs. 1 Satz 2 SGG auf diese Möglichkeit hingewiesen wurde.

Streitgegenstand ist hier allein der Bescheid der Beklagten vom 24. Juli 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Januar 2003, mit dem die Beklagte die Bewilligung von Leistungen entsprechend der Pflegestufe I mit Wirkung zum 1. August 2002 nach § 48 Abs. 1 SGB X aufgehoben hat.

Der Bescheid vom 11. März 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Januar 2003, der Bescheid vom 29. Juli 2003 sowie die danach ergangenen Ablehnungsbescheide vom 17. Februar 2005 und vom 14. März 2006 sind nicht nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden.

Nach § 96 Abs. 1 SGG in der bis zum 31. März 2008 gültigen Fassung wird ein neuer Verwaltungsakt Gegenstand des anhängigen Verfahrens, wenn nach Klageerhebung der Verwaltungsakt durch einen neuen abgeändert oder ersetzt wird.

Die genannten Bescheide haben den angefochtenen Bescheid vom 24. Juli 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2003 weder abgeändert noch ersetzt. Mit diesen wurde vielmehr über die erneuten Leistungsanträge der Klägerin vom 23. Dezember 2002 und vom 19. April 2003 entschieden. Dies gilt auch für die danach ergangenen Entscheidungen der Beklagten bezüglich der Ablehnung der Gewährung von Leistungen.

Eine Einbeziehung der Bescheide in analoger Anwendung des § 96 Abs. 1 SGG ist auch nicht aus Gründen der Prozessökonomie geboten. Durch die Einbeziehung dieser Bescheide würde ein weiterer Streitstoff - die Ablehnung von Leistungen - in den Prozess eingeführt; dies ist mit Erwägungen der Prozessökonomie grundsätzlich nicht zu rechtfertigen (vgl. Bundessozialgericht (BSG) vom 21. März 2006 - Az.: B 2 U 2/05 R). Diese Frage kann auch nicht deshalb anders beantwortet werden, weil der Senat bereits Ermittlungen in dieser Richtung durchgeführt hat.

Die Bescheide sind auch nicht auf Grund einer gewillkürten Klageänderung in der Form einer Klageerweiterung nach § 99 SGG einer materiellen Überprüfung zugänglich, weil eine solche Klageänderung durch die Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren nicht erfolgt ist und im Berufungsverfahren bereits deshalb als unzulässig abzuweisen wäre, weil die Widerspruchs- und Klagefrist verstrichen sind.

Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bescheides vom 24. Juli 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. März 2003 ist § 48 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) i. V. m. § 15 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI).

Nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI sind der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) Personen zuzuordnen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI muss der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege (Bereiche der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität) und der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen. Auf die Grundpflege müssen mehr als 45 Minuten entfallen.

Nach § 14 Abs. 1 SGB XI sind pflegebedürftig Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlich oder regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 15 SGB XI) der Hilfe bedürfen. Gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im Sinne des § 14 Abs. 1 SGB XI sind: 1. im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, das Rasieren sowie die Darm- und Blasenentleerung, 2. im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung, 3. im Bereich der Mobilität das selbstständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Stehen, Treppensteigen und das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung (§ 14 Abs. 4 SGB XI).

Der zeitliche Umfang der notwendigen Hilfe ist, da naturwissenschaftliche Erkenntnismöglichkeiten, die eine exakte Bemessung des Zeitbedarfes für einzelne Verrichtungen ermöglichen könnten, in der Regel nicht existieren und standardisierte Zeiten oder Erfahrungswerte im Hinblick auf die jeweiligen individuellen Verhältnisse allenfalls einen Anhaltspunkt zur Ermittlung des Zeitaufwandes geben können, durch Schätzung entsprechend § 287 der Zivilprozessordnung (ZPO) anhand der zur Verfügung stehenden medizinischen Feststellungen zu bestimmen (vgl. Bundessozialgericht (BSG) in SozR 3-2500 § 53 Nr. 7).

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

Der Bescheid vom 19. März 2001 ist nachträglich rechtswidrig geworden, weil jedenfalls ab dem 1. August 2002 die Voraussetzungen für die Gewährung von Geldleistungen entsprechend der Pflegestufe I nicht mehr vorlagen.

Dieser Bescheid war nicht von Anfang an i. S. des § 45 SGB X rechtswidrig, weil die Nachbegutachtung durch Dr. T. in dem Gutachten vom 13. März 2001 nur noch einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 45 Minuten ergeben hatte, was für die Pflegestufe I nicht mehr ausgereicht hätte ("mehr als 45 Minuten", § 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI). Eine Schätzung des Pflegebedarfs im Rahmen einer Leistungsüberprüfung, die ein Unterschreiten des erforderlichen Pflegebedarfs um nur wenige Minuten ergeben hat, stellt für die Pflegekasse in der Regel keinen hinreichenden Grund dar, die Leistung zu mindern bzw. einzustellen, schon weil die Unsicherheit der Schätzung nicht die verlässliche Feststellung erlaubt, dass der erforderliche Pflegebedarf der jeweiligen Pflegestufe nicht mehr vorliegt (vgl. BSG vom 7. Juli 2005 - Az.: B 3 P 8/04 R, nach juris).

Zu vergleichen sind nach § 48 Abs. 1 SGB X stets die zum Zeitpunkt des Widerrufs bestehenden tatsächlichen Verhältnisse mit jenen, die zum Zeitpunkt der letzten Leistungsbewilligung, bei der die Anspruchsvoraussetzungen vollständig geprüft worden sind, vorhanden gewesen sind (vgl. BSG vom 7. Juli 2005, a.a.O.).

Hier zu vergleichen sind danach die tatsächlichen Verhältnisse, die der zuletzt erfolgten Bewilligung von Leistungen entsprechend der Pfegestufe I mit Bescheid vom 19. März 2001 auf Grund des Gutachtens der Dr. T. vom 13. März 2001 zugrunde lagen, mit den tatsächlichen Verhältnisse im Zeitraum von Juli 2002 (Aufhebungsbescheid vom 24. Juli 2002) bis Januar 2003 (Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 2003), die in den Gutachten des MDK vom 22. April 2002, vom 4. Juli 2002 und letztendlich vom 12. Februar 2003 festgestellt wurden.

In dem Gutachten der Dr. T. vom 13. März 2001 schätzte diese den Hilfebedarf bei der Grundpflege auf 45 Minuten täglich ein. Die Klägerin bedurfte danach im Bereich der Körperpflege der Beaufsichtigung und Anleitung bei den Verrichtungen, Teilwäsche Oberkörper und Unterkörper, Duschen und Zahnpflege (37 Minuten täglich) sowie der Beaufsichtigung und Anleitung beim An- und Entkleiden (8 Minuten täglich).

Nach dem von Dr. T. am 22. April 2002 unter Berücksichtigung der Angaben der Klägerin und ihrer Betreuungsperson erstellten Gutachten bestand ein guter Pflege-, Kräfte- und Allgemeinzustand. Verwahrlosungstendenzen wurden nicht festgestellt. Jedoch war eine Tagesstrukturierung nicht immer ausreichend gegeben und der Antrieb phasenweise gemindert. Bei der Körperpflege (Ganzkörperwäsche und Zahnpflege) waren gelegentlich Hilfen in Form der Anleitung (insgesamt zwei Minuten täglich) erforderlich, ansonsten führte die Klägerin die Verrichtungen der Grundpflege selbstständig ohne Fremdhilfe und ohne Defizite aus. Den Zeitaufwand im Bereich der Hauswirtschaft schätzte Dr. T. auf 60 Minuten pro Tag ein. Aufgrund der Einnahme des Medikamentes Leponex war eine deutliche Stabilisierung des Krankheitsbildes eingetreten. Die Klägerin plante zu diesem Zeitpunkt eine Ausbildung zur Bürokauffrau im Berufsbildungswerk G.

Das danach eingeholte Gutachten der Ärztin für Psychiatrie B. und der Pflegefachkraft Hl. vom 4. Juli 2002 bestätigt die Stabilisierung des Gesundheitszustandes aufgrund der Einnahme des Medikaments Leponex. Im Bereich der Verrichtungen der Grundpflege stellten die Gutachterinnen keinen Hilfebedarf, im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung einen Hilfebedarf im Umfang von 13 Minuten täglich fest. Ein Pflegedefizit war nicht erkennbar. Die Schilderungen der Klägerin, dass sie ihren Bedarf an Körperpflege durch morgendliches Waschen und abendliches Duschen sowie überwiegend regelmäßiges Zähneputzen selbst decke, bestätigten die bei der Begutachtung anwesenden Pflegepersonen und die Großmutter der Klägerin. Gleiches gilt für die Ernährung. Die Klägerin bedurfte keiner Hilfestellung bei den Grundverrichtungen der Ernährung. Sie bereitet, was auch der anwesende Zivildienstleistende bestätigte, ihr Essen selbstständig zu und führt so auch den Haushalt. Sie hält die Wohnung sauber und benötigt lediglich beim Einkauf noch Hilfe in Gestalt einer Begleitung.

Nach beiden Gutachten wird ein Hilfebedarf bei der Grundpflege in einem Umfang von mehr als 45 Minuten täglich nicht erreicht. Hilfebedarf bestand danach nach wie vor im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung. Allein Hilfebedarf in diesem Bereich begründet aber nach § 15 SGB XI keinen Anspruch auf Gewährung von Geldleistungen entsprechend der Pflegestufe I.

Eine erneute wesentliche Verschlechterung bezüglich des Hilfebedarfs bei den Verrichtungen der Grundpflege ist bis zur Entscheidung über den Widerspruch im Januar 2003 nicht eingetreten, auch wenn sich die Klägerin vom 2. August bis zum 7. September 2002 in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des W. Klinikums G. sowie vom 8. September bis zum 2. Oktober 2002 und vom 9. Oktober bis zum 14. Oktober 2002 in das S. Klinikum W. in stationäre Behandlung wegen paranoider Schizophrenie begeben musste und infolgedessen die begonnene Ausbildung zur Bürokauffrau bei der CJD Berufsbildungswerk G. gGmbH beendet wurde.

Dr. Th. nimmt in dem Gutachten vom 12. Februar 2003 auf die Krankenhausberichte sowie die Kurzmitteilung des Dr. P. vom 17. Januar 2003 Bezug. Danach kam es unter stationärer Fortführung der Medikation von Olanzapin zu einer raschen Verbesserung der psychischen Verfassung der Klägerin. Der behandelnde Arzt Dr. P. sprach sich, auch wenn eine Grundpflege nicht notwendig sei, für eine Gewährung von Leistungen entsprechend der Pflegestufe I aus. Dr. Th. führt unter Berücksichtigung der vorliegenden Unterlagen zu dem Hilfebedarf der Klägerin aus, dieser beschränke sich, wie bereits mehrfach bestätigt, nahezu ausschließlich auf den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung. Auch wenn sich der psychische Zustand wieder verschlechtert habe, seien hieraus jedoch keine nach dem SGB XI relevanten Erkenntnisse zu erwarten.

Auch die Betreuerin der Klägerin beschreibt in ihrem Widerspruchsschreiben vom 17. März 2003 keinen Hilfebedarf bei den Verrichtungen der Grundpflege, sondern einen allgemeinen Betreuungs- und Beaufsichtigungsbedarf aufgrund der Erkrankung der Klägerin.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts stellt der allgemeine Aufsichts- und Betreuungsbedarf bei Behinderten außerhalb der pflegerelevanten Verrichtungen keinen berücksichtigungsfähigen Pflegebedarf dar (vgl. Bundessozialgericht (BSG) vom 1. September 2005 - B 3 P 5/04 R, m.w.N., nach juris).

Ein höherer Hilfebedarf bei den Verrichtungen der Grundpflege wird auch in dem Gutachten der Dr. M. vom 7. Juni 2006 für den Zeitraum vor dem 1. März 2006 nicht bestätigt. Der von ihr eingeschätzte Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege in einem zeitlichen Umfang von 55 Minuten täglich umfasst u.a. einen Hilfebedarf von 20 Minuten täglich bei der Darm- und Blasenentleerung, weil zwischenzeitlich eine komplette Stuhlinkontinenz eingetreten ist und die Mutter der Klägerin die anschließende Körperreinigung voll übernehmen muss. Eine Stuhlinkontinenz wurde in dem hier maßgeblichen Zeitraum von Juli 2002 bis Januar 2003 weder durch die Gutachter festgestellt, noch von den Betreuungspersonen der Klägerin behauptet, sodass der Senat davon ausgeht, dass eine solche zum damaligen Zeitpunkt nicht vorlag. Die Sachverständige führt aus, der Pflegebedarf in dem genannten Umfang bestehe seit dem 1. März 2006. Dieser Einschätzung schließt sich der Senat aus den im Gutachten genannten überzeugenden Gründen an.

Auch aus den Aussagen der Zeuginnen A. J., C. L. und G. T. ergibt sich kein Hinweis auf einen höheren Hilfebedarf bei den Verrichtungen der Grundpflege, als in den genannten Sachverständigengutachten festgestellt. Die Zeugin J. hat die Klägerin bei Spaziergängen begleitet, ebenso wie die Zeugin L., die darüber hinaus hauswirtschaftliche Verrichtungen ausgeführt hat. Die Zeugin T. hat die Klägerin erst im März 2006 kennen gelernt, sie hat ebenfalls nur hauswirtschaftliche Verrichtungen für die Klägerin wahrgenommen.

Auch aus der schriftlichen Befragung des damaligen Lebensgefährten der Betreuerin, E. H., ergibt sich nichts anderes. Dieser lernte die Betreuerin der Klägerin erst im August 2002 kennen. Er schildert allgemein, dass die Klägerin auf die kontinuierliche Hilfe ihrer Mutter angewiesen war, was zwischen den Beteiligten unstreitig ist. Die Klägerin sei selten in der Lage gewesen, morgens allein aufzustehen. Sie habe fast immer Hilfe beim Waschen, Zähneputzen, Nägel schneiden etc. benötigt. Sie habe Hilfe beim Anziehen und beim Essen benötigt. Ein Hilfebedarf von mehr als 45 Minuten täglich bei den Verrichtungen der Grundpflege im Sinne von § 14 SGB XI ergibt sich hieraus nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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