L 6 AL 665/02

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 5 AL 1928/01
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AL 665/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 11 AL 11/03 R
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 23. April 2002 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Es geht in dem Rechtsstreit um höheres Arbeitslosengeld für die Zeit vom 1. April 1999 bis 21. Juni 2000 wegen der vom Kläger begehrten höheren Bemessung unter Berücksichtigung sog. Einmalzahlungen. Der 1942 geborene Kläger war von 1979 bis zum 31. März 1999 bei I. B. GmbH in F. als Leiter des Einkaufs beschäftigt. Der Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis am 16. Februar 1998 zum 31. März 1999. Ausweislich der Arbeitsbescheinigung erzielte der Kläger im letzten Jahr vor seinem Ausscheiden ein gleichbleibendes Monatsbruttoeinkommen in Höhe von DM 5.372,-. Der Kläger ist verheiratet und hatte zu Beginn des Jahres 1999 die Steuerklasse 3 auf seiner Lohnsteuerkarte 1999 eingetragen. Ein Kinderfreibetrag war nicht eingetragen. Am 15. März 1999 meldete sich der Kläger bei der Beklagten arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Mit Bescheid vom 19. April 1999 bewilligte die Beklagte dem Kläger Arbeitslosengeld für 971 Tage ab 1. April 1999 und in Höhe von DM 495,39 wöchentlich unter Berücksichtigung eines wöchentlichen Bemessungsentgeltes in Höhe von DM 1.240,-. Mit Bescheid vom 17. Januar 2000 passte die Beklagte das Arbeitslosengeld des Klägers an die Leistungsverordnung 2000 an und erhöhte es auf DM 507,01 wöchentlich. Im Wege der Dynamisierung erhöhte die Beklagte für die Zeit ab 1. April 2000 das wöchentliche Arbeitslosengeld auf DM 512,26 (Bescheid vom 25. April 2000 - Bemessungsentgelt DM 1.260,-). Für die Zeit ab 1. Juli 2000 bewilligte die Beklagte Arbeitslosengeld in Höhe von DM 545,44 wöchentlich unter Berücksichtigung eines Bemessungsentgeltes in Höhe von DM 1.390,- (Bescheid vom 26. Juli 2000). Mit am 6. Juli 2000 bei der Beklagten zugegangenem Schreiben vom 3. Juli 2000 beantragte der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich des Bescheides vom 19. April 1999 und begehrte die Berücksichtigung der beitragspflichtigen Sonderzahlungen (Urlaubs- und Weihnachtsgeld). Mit Schreiben vom 24. Juli 2000 legte der Kläger Widerspruch gegen den Bescheid vom 19. April 1999 ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 25. August 2000 wies die Beklagte den Widerspruch wegen Fristversäumnis als unzulässig zurück. Mit Bescheid vom 6. September 2000 wies die Beklagte den Kläger darauf hin, dass nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 24. Mai 2000 (1 BvL 1/98) eine Änderung der Bemessungsgrundlage wegen einmalig gezahlten Arbeitsentgeltes bei bestandskräftigen Bescheiden nur für die Zeit nach dem 21. Juni 2000 in Betracht komme. Es sei nicht erkennbar, dass die getroffenen Entscheidungen fehlerhaft seien. Eine mit Schriftsatz vom 21. September 2000 erhobene Klage wurde als Widerspruch bewertet. Mit Widerspruchsbescheid vom 11. Oktober 2001 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und begründete dies damit, dass nach § 330 Abs. 1 Sozialgesetzbuch 3. Buch (SGB 3) ein unanfechtbarer Verwaltungsakt, der auf einer Rechtsnorm beruhe, die nach dem Erlass des Verwaltungsaktes für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden sei, bei Vorliegen der Voraussetzungen von § 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch 10. Buch (SGB 10) nur mit Wirkung für die Zeit nach der Entscheidung des BVerfG zurückzunehmen sei. Auch nach dem Beschluss des BVerfG vom 24. Mai 2000 seien bestandskräftige Entscheidungen nur mit Wirkung für die Zeit nach der Veröffentlichung der Entscheidung des BVerfG zu ändern. Eine Änderung der Bemessungsgrundlage sei daher nur für einen nach dem 21. Juni 2000 bestehenden Leistungsanspruch in Betracht gekommen.

Hiergegen hat der Kläger am 16. Oktober 2001 Klage erhoben und u.a. vorgetragen, er habe sich durch den Hinweis im Bescheid vom 19. April 1999 täuschen lassen, dass für die Höhe der Leistung im Regelfall das versicherte Entgelt aus den letzten 12 Monaten vor Eintritt der Arbeitslosigkeit maßgebend sei. Ein Hinweis auf die Nichtberücksichtigung der Einmalzahlungen habe gefehlt. Diese unzutreffende Information habe dazu geführt, dass er keinen Widerspruch eingelegt habe. Mit Urteil vom 23. April 2002 hat das Sozialgericht Gießen die Klage abgewiesen. In der Begründung führt es aus, die vom BVerfG in seinem Beschluss vom 24. Mai 2000 selbst ausgesprochene Anweisung an den Gesetzgeber, hinsichtlich Lohnersatzleistungen für die Zeit ab 1. Januar 1997 sicherzustellen, dass einmalig gezahlte Arbeitsentgelte noch im Nachhinein angemessen berücksichtigt würden, beschränke sich auf die noch nicht bestandskräftigen Bescheide. Eine weitergehende Verpflichtung der Beklagten ergebe sich auch nicht aus § 44 SGB 10, der im Gebiet der Arbeitsförderung durch § 330 Abs. 1 SGB 3 ersetzt werde. Danach seien unanfechtbare Entscheidungen nur mit Wirkung für die Zeit nach der Entscheidung des BVerfG zurückzunehmen. Der Kläger könne seinen Anspruch aber auch nicht auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch stützen, schon deshalb nicht, da die seinerzeitige Handhabung dem damals geltenden Recht entsprochen habe und der Kläger nach den Hinweisen im Bescheid und dem Merkblatt unschwer hätte erkennen können, dass das Weihnachtsgeld nicht berücksichtigt worden sei. Gegen das ihm am 6. Juni 2002 zugestellte Urteil hat der Kläger am 20. Juni 2002 Berufung eingelegt, mit der er im Wesentlichen seinen bisherigen Vortrag wiederholt.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 23. April 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 6. September 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Oktober 2001 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 1. April 1999 bis zum 21. Juni 2000 höheres Arbeitslosengeld unter Berücksichtigung von Einmalzahlungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte bezieht sich im Wesentlichen auf das angefochtene Urteil und ihren bisherigen Vortrag und führt ergänzend aus, die Ausführungen des Klägers zum sozialrechtlichen Herstellungsanspruch könnten nicht überzeugen. So ergebe sich schon aus dem Merkblatt für Arbeitslose (S. 33), dass bei der Bemessung nur das arbeitslosenversicherungspflichtige Arbeitsentgelt ohne Einmalzahlungen (zum Beispiel Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld) und ohne Arbeitsentgelt berücksichtigt werde, das wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses gezahlt worden sei.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der Verwaltungsakten ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung, § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG), ist zulässig, jedoch unbegründet.

Der erkennende Senat hält die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Nach vorheriger schriftlicher Anhörung der Beteiligten ist der erkennende Senat nach pflichtgemäßer Ermessensausübung zu dem Ergebnis gelangt, die Berufung durch Beschluss zurückzuweisen, § 153 Abs. 4 SGG. Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 23. April 2002 ist nicht rechtsfehlerhaft und war deshalb nicht aufzuheben. Die Beklagte hat es mit dem angefochtenen Bescheid vom 6. September 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Oktober 2001 ohne Rechtsfehler abgelehnt, eine nachträgliche Erhöhung des Arbeitslosengeldes des Klägers für die Zeit vor dem 22. Juni 2000 vorzunehmen. Bei Überprüfung der dem Kläger gewährten Leistungen im streitbefangenen Zeitraum nach § 44 SGB 10 konnte nicht festgestellt werden, dass der Kläger rechtswidrig zu niedrige Leistungen erhalten hat. Das Bemessungsentgelt wurde von der Beklagten zu Beginn der Arbeitslosengeldgewährung (1. April 1999) zutreffend mit DM 1.240,- festgestellt, § 132 SGB 3. Im Bemessungszeitraum der letzten 52 abgerechneten Wochen des Beschäftigungsverhältnisses (§ 130 SGB 3) erzielte der Kläger ausweislich der Arbeitsbescheinigung ein Bruttoentgelt in Höhe von DM 64.464,-. Damit erzielte der Kläger ein durchschnittliches Bruttoarbeitsentgelt je Woche in Höhe von DM 1.239,69, das entsprechend § 132 Abs. 3 SGB 3 auf DM 1.240,- zu runden war. Nach der Leistungsverordnung für 1999 ergab sich daraus bei Leistungsklasse C (Lohnsteuerklasse 3) und Kindermerkmal 0 ein wöchentlicher Leistungssatz von DM 495,30, wie ihn die Beklagte dem Kläger auch tatsächlich für die Zeit ab 1. April 1999 gewährt hat. Für die Zeit ab 1. Januar 2000 ergab sich nach der Leistungsverordnung 2000 ein wöchentlicher Leistungssatz in Höhe von DM 507,01. Ab 1. April 2000 war das Bemessungsentgelt (vor Rundung) nach § 138 SGB 3 mit dem Anpassungsfaktor 1,0159 anzupassen, so dass sich ein Bemessungsentgelt in Höhe von DM 1.256,35 und nach Rundung von DM 1260,- ergab mit einem entsprechenden Leistungssatz für die Zeit ab 1. April 2000 nach Leistungsverordnung 2000 in Höhe von DM 512,26, wie jeweils auch von der Beklagten tatsächlich gewährt. Die Aufhebung bestandskräftiger Bescheide wegen einer nachträglich festgestellten Unvereinbarkeit einer Rechtsnorm mit dem Grundgesetz ist nach § 330 Abs. 1 SGB 3 auf die Zeit nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes begrenzt. Weitergehende Ansprüche kann der Kläger für die streitbefangene Zeit auch nicht aus der Entscheidung des BVerfG vom 24. Mai 2000 (1 BvL 1/98, 1 BvL 4/98 und 1 BvL 15/99) oder aus § 434c Abs. 1 SGB 3 herleiten. So hat das BVerfG in seiner Entscheidung vom 24.5.2000 (s.o.) darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber durch geeignete Regelungen sicherzustellen habe, dass einmalig gezahlte Arbeitsentgelte bei den Lohnersatzleistungen berücksichtigt würden, soweit über deren Gewährung für die Zeit nach dem 1. Januar 1997 noch nicht bestandskräftig entschieden worden sei. Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung längstens bis zum 30. Juni 2001 wurde die Fortgeltung der verfassungswidrigen Vorschrift § 223 SGB 3 zugelassen. In der Begründung des Entwurfs des "Einmalzahlungs-Neuregelungsgesetzes" - BT Drucksache 14/4371 heißt es zu § 434c SGB 3: "Die Regelung soll sich dabei nicht nur auf Leistungsansprüche beschränken, über die am Tag der Wirksamkeit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes am 21. Juni 2000 noch nicht unanfechtbar entschieden war. Sie soll darüber hinaus für die Zukunft auch alle Leistungsansprüche erfassen, über die an diesem Tag bereits bestandskräftig entschieden war. In die Übergangsregelung werden auch Ansprüche einbezogen, die in der Zeit vom Tag der Wirksamkeit der Entscheidung bis zum Tag vor Inkrafttreten des Gesetzes entstanden sind oder entstehen." Dementsprechend hat der neue § 434c Abs. 1 Satz 2 SGB 3 (Einmalzahlungs-Neuregelungsgesetz vom 21.12.2000, BGBl. I, 1971), der am 1. 1. 2001 in Kraft getreten ist, bei Ansprüchen, über die am 21. Juni 2000 bereits unanfechtbar entschieden war, die Erhöhung ab 22. Juni 2000 normiert. Nach § 434c Abs. 1 Satz 1 SGB 3 wird die Erhöhung pauschal durch eine Erhöhung des Bemessungsentgeltes um 10% durchgeführt, wie es das BVerfG als vereinfachte Lösung vorgeschlagen hat. Eine Erhöhung der bestandskräftig festgestellten Leistungen des Klägers für die Zeit vor dem 22. Juni 2000 ergibt sich daraus ebenfalls nicht. Es war dabei nicht zu prüfen, ob der Kläger sich tatsächlich wegen der von ihm behaupteten Unkenntnis der Berechnung des Bemessungsentgeltes von der Einlegung eines Widerspruches gegen den Bescheid vom 19. April 1999 hat abhalten lassen. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch lässt sich daraus unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt herleiten. Es fehlt an einem Haftungstatbestand der objektiven Pflichtverletzung durch die Beklagte im Hinblick auf eine unterlassene oder zwar vorgenommene, aber unvollständige, falsche oder wirtschaftlich unrentable Auskunft oder Beratung (vgl. Brugger in AöR 1987, 389). Der Bescheid vom 19. April 1999 entsprach der damaligen Rechtslage und der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, wie sie vom erkennenden Senat auch gehandhabt wurde (vgl. etwa Beschluss vom 23. Juli 1997 - L-6/Ar-312/97). Die Beklagte hatte daher objektiv keinen Anlass, den Kläger zum damaligen Zeitpunkt abweichend zu beraten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision hat der erkennende Senat nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, da er der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zumisst.
Rechtskraft
Aus
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