Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
24
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 112 KR 194/07
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 24 KR 347/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. März 2007 aufgehoben. Auf die Anschlussberufung wird festgestellt, dass der Bescheid vom 06. August 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05. Februar 2004 rechtswidrig und die Beklagte verpflichtet war, die Kosten für die Versorgung mit einer funktionellen Fingerprothese aus Silikon zu übernehmen. Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin und die Beklagte streiten darum, ob die abgelehnte, zwischenzeitlich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes erfolgte Versorgung mit einer funktionellen Fingerteilprothese rechtswidrig war.
Die im Oktober 1955 geborene Klägerin, die bei der Beklagten versichert ist, ist seit 1999 als Verkaufsstellenverwalterin beschäftigt. Infolge einer 1997 stattgehabten Kreissägenverletzung mit Nachamputation besteht eine Teilamputation des Mittelgliedes des 3. Fingers der linken Hand. Die Beklagte versorgte die Klägerin seither mehrmals mit einer funktionellen Fingerteilprothese.
Im Mai 2003 beantragte die Klägerin erneut bei der Beklagten Gewährung einer solchen Fingerteilprothese. Sie fügte die Verordnung des Facharztes für Chirurgie G vom 10. April 2003 (über eine beruflich bedingte funktionelle Fingerprothese) und den Kostenvoranschlag der OTB O-B GmbH vom 09. Mai 2003 über eine Fingerprothese (Silikon) mit einem Betrag von 1.879,14 Euro nebst zugrunde liegendem Angebot der O GmbH vom 16. Mai 2003 bei.
Nachdem die Beklagte den Befundbericht des Facharztes für Chirurgie G vom 19. Juni 2003 und die Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) des Dr. M vom 29. Juli 2003 eingeholt hatte, lehnte sie mit Bescheid vom 06. August 2003 die beantragte Versorgung ab. Die Fingerprothese sei nicht medizinisch indiziert, sondern als kosmetische Versorgung anzusehen.
Mit dem dagegen eingelegten Widerspruch machte die Klägerin unter Vorlage des Berichtes des Facharztes für Chirurgie G vom 05. September 2003 geltend, die Prothese diene als Kälteschutz, Stoßabfederung und erleichtere ihr den Zugriff beim Einräumen von Ware sowie die Kassentätigkeit, da sie das Geld mit der linken Hand entgegennehme. Ohne die Fingerprothese wäre sie auf ihrer Arbeitsstelle in ständiger Erklärungsnot. Da sie selbst eine neue Prothese nicht bezahlen könne, sei ihr Arbeitplatz in Gefahr.
Die Beklagte veranlasste das MDK-Gutachten des Dr. R vom 12. November 2003.
Mit dem am 09. Februar 2004 zur Post aufgegebenen Widerspruchsbescheid vom 05. Februar 2004 wies die Beklagte den Widerspruch zurück: Aus der Teilamputation des 3. Fingers der linken Hand resultiere keine medizinische Notwendigkeit des vollständigen Gliedmaßenersatzes durch eine Fingerteilprothese. Für die Versorgung mit Hilfsmitteln aus beruflichen Gründen sei nicht die Beklagte, sondern der Rentenversicherungsträger oder die Bundesanstalt für Arbeit zuständig. Aus einer fehlerhaften früheren Bewilligung könne ein Rechtsanspruch auf eine erneute Gewährung nicht hergeleitet werden.
Dagegen hat die Klägerin am 10. März 2004 beim Sozialgericht Berlin Klage erhoben und vorgetragen:
Ihre letzte Prothese sei verschlissen. Sie benötige mithin eine neue Prothese, um die gesamten Anforderungen des Alltags zu meistern. Die Stumpfempfindlichkeit werde durch das Tragen abgemildert, da eine Abpufferung gewährleistet sei. Die Prothese schütze vor Kälte und Hitze. Ohne Prothese könne sie keine Gegenstände halten, keine Tür öffnen und auch nicht telefonieren. Die Prothese sei auch aus hygienischen Gründen notwendig. Wegen des nunmehr prothetisch unversorgten Stumpfes sei ihr psychischer Zustand erheblich beeinträchtigt, auch sei der Stumpf geschwollen und gerötet. Die Klägerin hat mehrere Fotografien vorgelegt.
Während des Klageverfahrens stellte sie beim beigeladenen Rentenversicherungsträger am 22. März 2004 einen Antrag auf Leistungen zur Rehabilitation, mit dem sie Gewährung einer funktionellen Fingerprothese beanspruchte. Die Beigeladene zu 1 lehnte mit Bescheid vom 07. Juli 2004 diesen Antrag ab, da die Fingerprothese nicht ausschließlich berufsbedingt erforderlich sei. Dagegen legte die Klägerin keinen Widerspruch ein.
Die Klägerin beantragte außerdem am 29. März 2004 beim Sozialgericht Berlin (S 86 KR 666/04 ER) den Erlass einer einstweiligen Anordnung, gerichtet auf Versorgung mit einer funktionellen Fingerprothese. Sie legte die Berichte des Dr. F vom 31. März 2004 und 24. März 2004 vor. Die Beklagte wies auf den beigefügten Kostenvoranschlag der O-O GmbH vom 07. Juni 2004 und das vorgelegte MDK-Gutachten des Dr. R vom 25. Juni 2004 hin, wonach die Kosten einer kosmetischen Fingerprothese aus Silikon 358,72 Euro betrügen und sich unter Beachtung der vorgelegten ärztlichen Berichte über einen Thermo-Plattentest eine andere Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit einer funktionellen Fingerprothese nicht ergäbe. Mit Beschluss vom 06. Juli 2004 verpflichtete das Sozialgericht die Beklagte einstweilen, der Klägerin eine funktionelle Fingerprothese zur Versorgung des 3. Fingers der linken Hand zu gewähren: Ob ein Anordnungsanspruch bestehe, lasse sich ohne weitere Ermittlungen nicht feststellen. Jedoch führe eine Rechtsfolgenabwägung dazu, dass der Klägerin die begehrte Fingerprothese zur Verfügung gestellt werden müsse, denn ansonsten bliebe sie bei einer medizinischen Notwendigkeit bis zur Entscheidung in der Hauptsache unversorgt. Daraufhin bewilligte die Beklagte der Klägerin unter dem 29. Juli 2004 die funktionelle Fingerprothese, die am 01. März 2005 durch die OTB O-B GmbH ausgeliefert wurde.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 06. August 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05. Februar 2004 zu verurteilen, die Klägerin mit einer funktionellen Fingerprothese nach Maß aus Silikon zu versorgen.
Das Sozialgericht hat die Befundberichte des Internisten Dr. F vom 25. November 2004, des Facharztes für Chirurgie G vom 30. November 2004 und der Fachärztin für Innere Medizin Dr. O vom 05. Januar 2005 eingeholt sowie Beweis erhoben durch das schriftliche Sachverständigengutachten der Fachärztin für Arbeitsmedizin Dr. F vom 06. Juni 2005.
Die Klägerin ist der Ansicht gewesen, dass der Sachverständigen nicht zu folgen sei. Es liege sehr wohl eine Behinderung vor, die bedeutsam sei. Die ganzen von der Sachverständigen durchgeführten Übungen der linken Hand könnten überhaupt nur von einem Handchirurgen beurteilt werden. Dasselbe gelte für die Feststellung des zweifellos vorhandenen Raynaud-Phänomens mit Durchblutungsstörungen. Die Sachverständige habe lediglich damit Recht, dass die Beeinträchtigung der eigenen körperlichen Integrität durch die Amputation sich nachhaltig auf ihr psychisches Wohlbefinden auswirke. Die Klägerin hat mehrere Fotografien einer funktionellen bzw. einer kosmetischen Prothese vorgelegt.
Das Sozialgericht hat die Sachverständige Dr. F ergänzend gehört (Stellungnahmen vom 05. September 2005 und 26. September 2005).
Die Klägerin hat darauf hingewiesen, bei einer nicht funktionellen Prothese könne jedermann die Finger als nicht zur Hand gehörig erkennen. Dies gefährde nicht nur den alltäglichen Gebrauch des Fingers, sondern auch ihren Arbeitsplatz. Sie leide unter wahnsinnigen Ängsten, dass andere Menschen ihre Amputation sehen könnten. Diese seien durch einen kosmetischen Finger nicht zu beseitigen.
Mit Urteil vom 26. März 2007 hat das Sozialgericht die Beklagte antragsgemäß verurteilt: Die Klägerin habe gegen die Beklagte einen Anspruch auf (endgültige) Versorgung mit einer funktionellen Fingerprothese nach Maß aus Silikon. Sie sei in ihrer körperlichen Funktion beeinträchtigt. Sie habe schlüssig und anschaulich vorgetragen, dass ihre Fähigkeit, mit der linken Hand Gegenstände zu greifen und (sicher) zu halten, eingeschränkt sei. Dies bedeute eine erhebliche bzw. wesentliche Beeinträchtigung. Das begehrte Körperersatzstück sei als Ausgleich dieser Behinderung (geeignet und) erforderlich, denn die Fingerprothese ersetze unmittelbar das verlorene Endglied und gewährleiste damit dessen Funktion beim Greifen und (sicheren) Halten. Es könne dahinstehen, dass die Sachverständige eine bedeutsame funktionelle Störung der linken Hand nicht festgestellt habe, denn sie habe gleichzeitig bestätigt, dass sich die Amputation nachhaltig auf das psychische Wohlbefinden der Klägerin auswirke. Vor allem bei der Kassiertätigkeit müsse die Klägerin abschreckende Reaktionen der Kunden befürchten, wodurch, wie von der Klägerin auch plausibel vorgetragen, ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt sei.
Gegen das ihr am 18. April 2007 zugestellte Urteil richtet sich die am 14. Mai 2007 eingelegte Berufung der Beklagten.
Sie ist der Auffassung, dass die Klägerin nach der Beurteilung der Sachverständigen nicht in ihren körperlichen Funktionen beeinträchtigt sei. Der Verlust eines Teils des Mittelfingers der linken Hand habe keine entstellende oder abstoßende Wirkung. Er sei nicht sogleich erkennbar und löse damit auch kein Erschrecken, Abscheu oder anhaltende Abneigung aus. Die Klägerin sei nach der Sachverständigen zwar psychisch auf eine Versorgung fixiert. Soweit psychische Störungen bestünden, seien diese jedoch mit den Mitteln der Psychiatrie und Psychotherapie zu behandeln. Zwischenzeitlich habe die Klägerin unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung vom 27. März 2007 erneut einen Antrag auf Kostenübernahme einer funktionellen Fingerprothese gestellt, der abgelehnt worden sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. März 2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Anschlussberufung zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise im Wege der Anschlussberufung festzustellen, dass der Bescheid vom 06. August 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05. Februar 2004 rechtswidrig und die Beklagte verpflichtet war, die Kosten für die Versorgung mit einer funktionellen Fingerprothese aus Silikon zu übernehmen.
Die Klägerin betont, dass sie beruflich bei der Handhabung der Ware und beim Kassieren auf die funktionelle Fingerprothese angewiesen sei. Das fehlende Fingerglied verursache bei vielen Menschen, insbesondere auch Kunden, eine abstoßende Wirkung. Ohne diese Prothese könne sie keine großen und schweren Gegenstände halten.
Die Beigeladene zu 1 und die Beigeladene zu 2 stellen keinen Antrag.
Der Senat hat die Sachverständige Dr. F ergänzend gehört (Stellungnahme vom 24. August 2007).
Die Klägerin ist weiterhin der Ansicht, dass eine bedeutsame Störung der Funktion der linken Hand bestehe, da die Greif- und Haltefunktion und die notwendigen Handgriffqualitäten nicht lebensecht geprüft worden seien. Außerdem stelle die körperliche Beeinträchtigung aufgrund der entstellenden Außenwirkung direkt eine Beeinflussung der seelischen Gesundheit dar und wirke sich dadurch als körperliche Einschränkung aus. Eine volle Funktionsfähigkeit der linken Hand einschließlich eines ansprechenden äußeren Erscheinungsbildes sei beruflich erforderlich. Im Übrigen dürften die Voraussetzungen des § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) nicht vorliegen. Der Zeuge A L, Mitarbeiter der O B GmbH, könne bekunden, dass die Klägerin der Prothese bedürfe, um ihre Arbeit ausführen und die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens ausgleichen zu können.
Der Senat hat Beweis erhoben durch das schriftliche Sachverständigengutachten der Fachärztin für Orthopädie Dr. I vom 01. Oktober 2008 nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Beklagte meint, nach der Beurteilung durch die Sachverständige Dr. I sei eher eine Leistungspflicht der Beigeladenen zu 2 gegeben.
Die Beigeladene zu 2 ist der Ansicht, wegen einer bereits über 15jährigen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung sei nicht sie, sondern die Beigeladene zu 1 zuständiger Träger für die berufliche Rehabilitation. Im Weiteren sei festzustellen, dass die Beklagte die Fingerprothese zu gewähren habe.
Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird u. a. auf Blatt 143 bis 150, 186 bis 187, 190 bis 191, 266 bis 267 und 311 bis 320 der Gerichtsakten sowie die Inaugenscheinnahme in der mündlichen Verhandlung am 09. April 2009 verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten (), die Verwaltungsakte der Beigeladenen zu 1 () und der weiteren Gerichtsakte des Sozialgerichts Berlin (S 86 KR 666/04 ER), der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten ist zwar begründet. Die im Wege der Anschlussberufung geänderte Klage ist jedoch gleichfalls begründet.
Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Unrecht verurteilt, die Klägerin mit einer funktionellen Fingerprothese nach Maß aus Silikon zu versorgen. Die Beklagte hat diesen Sachleistungsanspruch aufgrund des Beschlusses des Sozialgerichts vom 06. Juli 2004 mit der Bewilligung durch Bescheid vom 29. Juli 2004 und der am 01. März 2005 erfolgten Auslieferung durch ihren Leistungserbringer bereits erfüllt. Der Rechtsstreit hat sich damit in der Hauptsache erledigt und es geht nur noch um die Frage, ob die Beklagte die Kosten der erbrachten Sachleistung endgültig zu tragen hat.
Bei einer solchen Sachlage kommt als richtige Klageart allein die Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 131 Abs. 1 Satz 3 SGG in Betracht: Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat. Ein solches Interesse ist im Hinblick auf einen möglichen Schadenersatzanspruch der Krankenkasse gegenüber dem Versicherten nach § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 945 ZPO anzunehmen (vgl. auch Bundessozialgericht - BSG - , Urteil vom 10. November 2005 - B 3 KR 38/04 R, abgedruckt in SozR 4-2500 § 37 Nr. 6).
Die folgerichtig im Wege der Anschlussberufung geänderte Klage, bei der es sich nach § 99 Abs. 3 Nr. 3 SGG nicht um eine Klageänderung handelt, denn statt der ursprünglich geforderten Leistung wird wegen einer später eingetretenen Veränderung eine andere Leistung verlangt, nämlich Feststellung, ist begründet. Der Bescheid vom 06. August 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05. Februar 2004 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hatte Anspruch auf Versorgung mit einer funktionellen Fingerteilprothese nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V.
Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.
Eine Behinderung liegt vor, wenn die körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher eine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Eine Behinderung droht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Eine solche körperliche Funktionsbeeinträchtigung kann auch bei Krankheiten und Verletzungen mit entstellender Wirkung gegeben sein (BSG, Urteil vom 23. Juli 2002 – B 3 KR 66/01 R, abgedruckt in SozR 3-2500 § 33 Nr. 45).
Die Teilamputation des 3. Fingers links stellt einen Zustand dar, der von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Ob dadurch eine mehr als unwesentliche Funktionseinschränkung bedingt ist, insbesondere die körperliche Grundfunktion des Greifens (vgl. dazu BSG Urteil vom 16. September 1999 - B 3 KR 8/98 R in SozR 3-2500 § 33 Nr. 31) beeinträchtigt ist, kann dahinstehen. Der Teilamputation des 3. Fingers links kommt jedenfalls entstellende Wirkung zu.
Eine Krankheit oder Verletzung hat entstellende Wirkung, wenn es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handelt, die nahe liegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit und damit zugleich erwarten lässt, dass die Betroffenen ständig viele Blicke auf sicht ziehen, zum Objekt besonderer Beachtung anderer werden und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen drohen, so dass die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist. Um eine Auffälligkeit eines solchen Ausmaßes zu erreichen, muss eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschritten sein. Es genügt nicht allein ein markantes Gesicht oder generell die ungewöhnliche Ausgestaltung von Organen, etwa die Ausbildung eines 6. Fingers an der Hand. Vielmehr muss die körperliche Auffälligkeit in einer solchen Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi "im Vorbeigehen" bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt. Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Rechtsordnung im Interesse der Eingliederung behinderter Menschen fordert, dass Nichtbehinderte ihre Wahrnehmung von Behinderung korrigieren müssen (BSG, Urteil vom 28. Februar 2008 – B 1 KR 19/07 R, abgedruckt in SozR 4-2500 § 27 Nr. 14, m.w.N.). Die Feststellung, dass im Einzelfall ein Versicherter wegen einer körperlichen Anormalität an einer Entstellung leidet, ist in erster Linie Tatfrage (BSG, Urteil vom 28. Februar 2008 - B 1 KR 19/07 R unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 26. Januar 1994 - 9 RV 25/93, abgedruckt in SozR 3-1750 § 372 Nr. 1, BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004 - B 1 KR 3/03 R, abgedruckt in SozR 4-2500 § 27 Nr. 3 = BSGE 93, 252).
Diese Erheblichkeitsschwelle ist nach dem Ergebnis der Inaugenscheinnahme unter Berücksichtigung der vorliegenden Fotografien erreicht. Das Mittelglied des 3. Fingers erweist sich im Verhältnis zu den anderen Fingern der Hände als verdickt. Bei flüchtigem Blick in alltäglichen Situationen springt einem unvoreingenommenen Betrachter die Teilamputation ins Auge, so dass dessen Neugier daran haftet. Diese Behinderung hat bei Frauen eine entstellende Wirkung, denn sie erschwert es bzw. macht es ihr unmöglich, sich frei und unbefangen unter den Mitmenschen zu bewegen. Eine Frau mit einer derartigen Behinderung – hier die Klägerin - zieht naturgemäß ständig alle Blicke auf sich und wird zum Objekt der Neugier. Es ist der Klägerin nicht möglich, sich frei und unbefangen zu bewegen. Dies ist in der mündlichen Verhandlung im Zusammenhang mit der Inaugenscheinnahme deutlich geworden. Vor und nach der eigentlichen Inaugenscheinnahme hat die Klägerin ihre Hand, solange die funktionelle Fingerteilprothese des Mittelgliedes des linken Fingers abgelegt gewesen ist, verdeckt gehalten.
Die Beklagte ist damit verpflichtet gewesen, die Kosten für die Versorgung mit einer funktionellen Fingerprothese aus Silikon zu übernehmen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen hierfür (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) nicht vorliegen.
Tatbestand:
Die Klägerin und die Beklagte streiten darum, ob die abgelehnte, zwischenzeitlich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes erfolgte Versorgung mit einer funktionellen Fingerteilprothese rechtswidrig war.
Die im Oktober 1955 geborene Klägerin, die bei der Beklagten versichert ist, ist seit 1999 als Verkaufsstellenverwalterin beschäftigt. Infolge einer 1997 stattgehabten Kreissägenverletzung mit Nachamputation besteht eine Teilamputation des Mittelgliedes des 3. Fingers der linken Hand. Die Beklagte versorgte die Klägerin seither mehrmals mit einer funktionellen Fingerteilprothese.
Im Mai 2003 beantragte die Klägerin erneut bei der Beklagten Gewährung einer solchen Fingerteilprothese. Sie fügte die Verordnung des Facharztes für Chirurgie G vom 10. April 2003 (über eine beruflich bedingte funktionelle Fingerprothese) und den Kostenvoranschlag der OTB O-B GmbH vom 09. Mai 2003 über eine Fingerprothese (Silikon) mit einem Betrag von 1.879,14 Euro nebst zugrunde liegendem Angebot der O GmbH vom 16. Mai 2003 bei.
Nachdem die Beklagte den Befundbericht des Facharztes für Chirurgie G vom 19. Juni 2003 und die Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) des Dr. M vom 29. Juli 2003 eingeholt hatte, lehnte sie mit Bescheid vom 06. August 2003 die beantragte Versorgung ab. Die Fingerprothese sei nicht medizinisch indiziert, sondern als kosmetische Versorgung anzusehen.
Mit dem dagegen eingelegten Widerspruch machte die Klägerin unter Vorlage des Berichtes des Facharztes für Chirurgie G vom 05. September 2003 geltend, die Prothese diene als Kälteschutz, Stoßabfederung und erleichtere ihr den Zugriff beim Einräumen von Ware sowie die Kassentätigkeit, da sie das Geld mit der linken Hand entgegennehme. Ohne die Fingerprothese wäre sie auf ihrer Arbeitsstelle in ständiger Erklärungsnot. Da sie selbst eine neue Prothese nicht bezahlen könne, sei ihr Arbeitplatz in Gefahr.
Die Beklagte veranlasste das MDK-Gutachten des Dr. R vom 12. November 2003.
Mit dem am 09. Februar 2004 zur Post aufgegebenen Widerspruchsbescheid vom 05. Februar 2004 wies die Beklagte den Widerspruch zurück: Aus der Teilamputation des 3. Fingers der linken Hand resultiere keine medizinische Notwendigkeit des vollständigen Gliedmaßenersatzes durch eine Fingerteilprothese. Für die Versorgung mit Hilfsmitteln aus beruflichen Gründen sei nicht die Beklagte, sondern der Rentenversicherungsträger oder die Bundesanstalt für Arbeit zuständig. Aus einer fehlerhaften früheren Bewilligung könne ein Rechtsanspruch auf eine erneute Gewährung nicht hergeleitet werden.
Dagegen hat die Klägerin am 10. März 2004 beim Sozialgericht Berlin Klage erhoben und vorgetragen:
Ihre letzte Prothese sei verschlissen. Sie benötige mithin eine neue Prothese, um die gesamten Anforderungen des Alltags zu meistern. Die Stumpfempfindlichkeit werde durch das Tragen abgemildert, da eine Abpufferung gewährleistet sei. Die Prothese schütze vor Kälte und Hitze. Ohne Prothese könne sie keine Gegenstände halten, keine Tür öffnen und auch nicht telefonieren. Die Prothese sei auch aus hygienischen Gründen notwendig. Wegen des nunmehr prothetisch unversorgten Stumpfes sei ihr psychischer Zustand erheblich beeinträchtigt, auch sei der Stumpf geschwollen und gerötet. Die Klägerin hat mehrere Fotografien vorgelegt.
Während des Klageverfahrens stellte sie beim beigeladenen Rentenversicherungsträger am 22. März 2004 einen Antrag auf Leistungen zur Rehabilitation, mit dem sie Gewährung einer funktionellen Fingerprothese beanspruchte. Die Beigeladene zu 1 lehnte mit Bescheid vom 07. Juli 2004 diesen Antrag ab, da die Fingerprothese nicht ausschließlich berufsbedingt erforderlich sei. Dagegen legte die Klägerin keinen Widerspruch ein.
Die Klägerin beantragte außerdem am 29. März 2004 beim Sozialgericht Berlin (S 86 KR 666/04 ER) den Erlass einer einstweiligen Anordnung, gerichtet auf Versorgung mit einer funktionellen Fingerprothese. Sie legte die Berichte des Dr. F vom 31. März 2004 und 24. März 2004 vor. Die Beklagte wies auf den beigefügten Kostenvoranschlag der O-O GmbH vom 07. Juni 2004 und das vorgelegte MDK-Gutachten des Dr. R vom 25. Juni 2004 hin, wonach die Kosten einer kosmetischen Fingerprothese aus Silikon 358,72 Euro betrügen und sich unter Beachtung der vorgelegten ärztlichen Berichte über einen Thermo-Plattentest eine andere Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit einer funktionellen Fingerprothese nicht ergäbe. Mit Beschluss vom 06. Juli 2004 verpflichtete das Sozialgericht die Beklagte einstweilen, der Klägerin eine funktionelle Fingerprothese zur Versorgung des 3. Fingers der linken Hand zu gewähren: Ob ein Anordnungsanspruch bestehe, lasse sich ohne weitere Ermittlungen nicht feststellen. Jedoch führe eine Rechtsfolgenabwägung dazu, dass der Klägerin die begehrte Fingerprothese zur Verfügung gestellt werden müsse, denn ansonsten bliebe sie bei einer medizinischen Notwendigkeit bis zur Entscheidung in der Hauptsache unversorgt. Daraufhin bewilligte die Beklagte der Klägerin unter dem 29. Juli 2004 die funktionelle Fingerprothese, die am 01. März 2005 durch die OTB O-B GmbH ausgeliefert wurde.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 06. August 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05. Februar 2004 zu verurteilen, die Klägerin mit einer funktionellen Fingerprothese nach Maß aus Silikon zu versorgen.
Das Sozialgericht hat die Befundberichte des Internisten Dr. F vom 25. November 2004, des Facharztes für Chirurgie G vom 30. November 2004 und der Fachärztin für Innere Medizin Dr. O vom 05. Januar 2005 eingeholt sowie Beweis erhoben durch das schriftliche Sachverständigengutachten der Fachärztin für Arbeitsmedizin Dr. F vom 06. Juni 2005.
Die Klägerin ist der Ansicht gewesen, dass der Sachverständigen nicht zu folgen sei. Es liege sehr wohl eine Behinderung vor, die bedeutsam sei. Die ganzen von der Sachverständigen durchgeführten Übungen der linken Hand könnten überhaupt nur von einem Handchirurgen beurteilt werden. Dasselbe gelte für die Feststellung des zweifellos vorhandenen Raynaud-Phänomens mit Durchblutungsstörungen. Die Sachverständige habe lediglich damit Recht, dass die Beeinträchtigung der eigenen körperlichen Integrität durch die Amputation sich nachhaltig auf ihr psychisches Wohlbefinden auswirke. Die Klägerin hat mehrere Fotografien einer funktionellen bzw. einer kosmetischen Prothese vorgelegt.
Das Sozialgericht hat die Sachverständige Dr. F ergänzend gehört (Stellungnahmen vom 05. September 2005 und 26. September 2005).
Die Klägerin hat darauf hingewiesen, bei einer nicht funktionellen Prothese könne jedermann die Finger als nicht zur Hand gehörig erkennen. Dies gefährde nicht nur den alltäglichen Gebrauch des Fingers, sondern auch ihren Arbeitsplatz. Sie leide unter wahnsinnigen Ängsten, dass andere Menschen ihre Amputation sehen könnten. Diese seien durch einen kosmetischen Finger nicht zu beseitigen.
Mit Urteil vom 26. März 2007 hat das Sozialgericht die Beklagte antragsgemäß verurteilt: Die Klägerin habe gegen die Beklagte einen Anspruch auf (endgültige) Versorgung mit einer funktionellen Fingerprothese nach Maß aus Silikon. Sie sei in ihrer körperlichen Funktion beeinträchtigt. Sie habe schlüssig und anschaulich vorgetragen, dass ihre Fähigkeit, mit der linken Hand Gegenstände zu greifen und (sicher) zu halten, eingeschränkt sei. Dies bedeute eine erhebliche bzw. wesentliche Beeinträchtigung. Das begehrte Körperersatzstück sei als Ausgleich dieser Behinderung (geeignet und) erforderlich, denn die Fingerprothese ersetze unmittelbar das verlorene Endglied und gewährleiste damit dessen Funktion beim Greifen und (sicheren) Halten. Es könne dahinstehen, dass die Sachverständige eine bedeutsame funktionelle Störung der linken Hand nicht festgestellt habe, denn sie habe gleichzeitig bestätigt, dass sich die Amputation nachhaltig auf das psychische Wohlbefinden der Klägerin auswirke. Vor allem bei der Kassiertätigkeit müsse die Klägerin abschreckende Reaktionen der Kunden befürchten, wodurch, wie von der Klägerin auch plausibel vorgetragen, ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt sei.
Gegen das ihr am 18. April 2007 zugestellte Urteil richtet sich die am 14. Mai 2007 eingelegte Berufung der Beklagten.
Sie ist der Auffassung, dass die Klägerin nach der Beurteilung der Sachverständigen nicht in ihren körperlichen Funktionen beeinträchtigt sei. Der Verlust eines Teils des Mittelfingers der linken Hand habe keine entstellende oder abstoßende Wirkung. Er sei nicht sogleich erkennbar und löse damit auch kein Erschrecken, Abscheu oder anhaltende Abneigung aus. Die Klägerin sei nach der Sachverständigen zwar psychisch auf eine Versorgung fixiert. Soweit psychische Störungen bestünden, seien diese jedoch mit den Mitteln der Psychiatrie und Psychotherapie zu behandeln. Zwischenzeitlich habe die Klägerin unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung vom 27. März 2007 erneut einen Antrag auf Kostenübernahme einer funktionellen Fingerprothese gestellt, der abgelehnt worden sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. März 2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Anschlussberufung zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise im Wege der Anschlussberufung festzustellen, dass der Bescheid vom 06. August 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05. Februar 2004 rechtswidrig und die Beklagte verpflichtet war, die Kosten für die Versorgung mit einer funktionellen Fingerprothese aus Silikon zu übernehmen.
Die Klägerin betont, dass sie beruflich bei der Handhabung der Ware und beim Kassieren auf die funktionelle Fingerprothese angewiesen sei. Das fehlende Fingerglied verursache bei vielen Menschen, insbesondere auch Kunden, eine abstoßende Wirkung. Ohne diese Prothese könne sie keine großen und schweren Gegenstände halten.
Die Beigeladene zu 1 und die Beigeladene zu 2 stellen keinen Antrag.
Der Senat hat die Sachverständige Dr. F ergänzend gehört (Stellungnahme vom 24. August 2007).
Die Klägerin ist weiterhin der Ansicht, dass eine bedeutsame Störung der Funktion der linken Hand bestehe, da die Greif- und Haltefunktion und die notwendigen Handgriffqualitäten nicht lebensecht geprüft worden seien. Außerdem stelle die körperliche Beeinträchtigung aufgrund der entstellenden Außenwirkung direkt eine Beeinflussung der seelischen Gesundheit dar und wirke sich dadurch als körperliche Einschränkung aus. Eine volle Funktionsfähigkeit der linken Hand einschließlich eines ansprechenden äußeren Erscheinungsbildes sei beruflich erforderlich. Im Übrigen dürften die Voraussetzungen des § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) nicht vorliegen. Der Zeuge A L, Mitarbeiter der O B GmbH, könne bekunden, dass die Klägerin der Prothese bedürfe, um ihre Arbeit ausführen und die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens ausgleichen zu können.
Der Senat hat Beweis erhoben durch das schriftliche Sachverständigengutachten der Fachärztin für Orthopädie Dr. I vom 01. Oktober 2008 nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Beklagte meint, nach der Beurteilung durch die Sachverständige Dr. I sei eher eine Leistungspflicht der Beigeladenen zu 2 gegeben.
Die Beigeladene zu 2 ist der Ansicht, wegen einer bereits über 15jährigen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung sei nicht sie, sondern die Beigeladene zu 1 zuständiger Träger für die berufliche Rehabilitation. Im Weiteren sei festzustellen, dass die Beklagte die Fingerprothese zu gewähren habe.
Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird u. a. auf Blatt 143 bis 150, 186 bis 187, 190 bis 191, 266 bis 267 und 311 bis 320 der Gerichtsakten sowie die Inaugenscheinnahme in der mündlichen Verhandlung am 09. April 2009 verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten (), die Verwaltungsakte der Beigeladenen zu 1 () und der weiteren Gerichtsakte des Sozialgerichts Berlin (S 86 KR 666/04 ER), der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten ist zwar begründet. Die im Wege der Anschlussberufung geänderte Klage ist jedoch gleichfalls begründet.
Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Unrecht verurteilt, die Klägerin mit einer funktionellen Fingerprothese nach Maß aus Silikon zu versorgen. Die Beklagte hat diesen Sachleistungsanspruch aufgrund des Beschlusses des Sozialgerichts vom 06. Juli 2004 mit der Bewilligung durch Bescheid vom 29. Juli 2004 und der am 01. März 2005 erfolgten Auslieferung durch ihren Leistungserbringer bereits erfüllt. Der Rechtsstreit hat sich damit in der Hauptsache erledigt und es geht nur noch um die Frage, ob die Beklagte die Kosten der erbrachten Sachleistung endgültig zu tragen hat.
Bei einer solchen Sachlage kommt als richtige Klageart allein die Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 131 Abs. 1 Satz 3 SGG in Betracht: Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat. Ein solches Interesse ist im Hinblick auf einen möglichen Schadenersatzanspruch der Krankenkasse gegenüber dem Versicherten nach § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 945 ZPO anzunehmen (vgl. auch Bundessozialgericht - BSG - , Urteil vom 10. November 2005 - B 3 KR 38/04 R, abgedruckt in SozR 4-2500 § 37 Nr. 6).
Die folgerichtig im Wege der Anschlussberufung geänderte Klage, bei der es sich nach § 99 Abs. 3 Nr. 3 SGG nicht um eine Klageänderung handelt, denn statt der ursprünglich geforderten Leistung wird wegen einer später eingetretenen Veränderung eine andere Leistung verlangt, nämlich Feststellung, ist begründet. Der Bescheid vom 06. August 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05. Februar 2004 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hatte Anspruch auf Versorgung mit einer funktionellen Fingerteilprothese nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V.
Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.
Eine Behinderung liegt vor, wenn die körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher eine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Eine Behinderung droht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Eine solche körperliche Funktionsbeeinträchtigung kann auch bei Krankheiten und Verletzungen mit entstellender Wirkung gegeben sein (BSG, Urteil vom 23. Juli 2002 – B 3 KR 66/01 R, abgedruckt in SozR 3-2500 § 33 Nr. 45).
Die Teilamputation des 3. Fingers links stellt einen Zustand dar, der von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Ob dadurch eine mehr als unwesentliche Funktionseinschränkung bedingt ist, insbesondere die körperliche Grundfunktion des Greifens (vgl. dazu BSG Urteil vom 16. September 1999 - B 3 KR 8/98 R in SozR 3-2500 § 33 Nr. 31) beeinträchtigt ist, kann dahinstehen. Der Teilamputation des 3. Fingers links kommt jedenfalls entstellende Wirkung zu.
Eine Krankheit oder Verletzung hat entstellende Wirkung, wenn es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handelt, die nahe liegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit und damit zugleich erwarten lässt, dass die Betroffenen ständig viele Blicke auf sicht ziehen, zum Objekt besonderer Beachtung anderer werden und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen drohen, so dass die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist. Um eine Auffälligkeit eines solchen Ausmaßes zu erreichen, muss eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschritten sein. Es genügt nicht allein ein markantes Gesicht oder generell die ungewöhnliche Ausgestaltung von Organen, etwa die Ausbildung eines 6. Fingers an der Hand. Vielmehr muss die körperliche Auffälligkeit in einer solchen Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi "im Vorbeigehen" bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt. Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Rechtsordnung im Interesse der Eingliederung behinderter Menschen fordert, dass Nichtbehinderte ihre Wahrnehmung von Behinderung korrigieren müssen (BSG, Urteil vom 28. Februar 2008 – B 1 KR 19/07 R, abgedruckt in SozR 4-2500 § 27 Nr. 14, m.w.N.). Die Feststellung, dass im Einzelfall ein Versicherter wegen einer körperlichen Anormalität an einer Entstellung leidet, ist in erster Linie Tatfrage (BSG, Urteil vom 28. Februar 2008 - B 1 KR 19/07 R unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 26. Januar 1994 - 9 RV 25/93, abgedruckt in SozR 3-1750 § 372 Nr. 1, BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004 - B 1 KR 3/03 R, abgedruckt in SozR 4-2500 § 27 Nr. 3 = BSGE 93, 252).
Diese Erheblichkeitsschwelle ist nach dem Ergebnis der Inaugenscheinnahme unter Berücksichtigung der vorliegenden Fotografien erreicht. Das Mittelglied des 3. Fingers erweist sich im Verhältnis zu den anderen Fingern der Hände als verdickt. Bei flüchtigem Blick in alltäglichen Situationen springt einem unvoreingenommenen Betrachter die Teilamputation ins Auge, so dass dessen Neugier daran haftet. Diese Behinderung hat bei Frauen eine entstellende Wirkung, denn sie erschwert es bzw. macht es ihr unmöglich, sich frei und unbefangen unter den Mitmenschen zu bewegen. Eine Frau mit einer derartigen Behinderung – hier die Klägerin - zieht naturgemäß ständig alle Blicke auf sich und wird zum Objekt der Neugier. Es ist der Klägerin nicht möglich, sich frei und unbefangen zu bewegen. Dies ist in der mündlichen Verhandlung im Zusammenhang mit der Inaugenscheinnahme deutlich geworden. Vor und nach der eigentlichen Inaugenscheinnahme hat die Klägerin ihre Hand, solange die funktionelle Fingerteilprothese des Mittelgliedes des linken Fingers abgelegt gewesen ist, verdeckt gehalten.
Die Beklagte ist damit verpflichtet gewesen, die Kosten für die Versorgung mit einer funktionellen Fingerprothese aus Silikon zu übernehmen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen hierfür (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) nicht vorliegen.
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