L 4 V 977/98

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 7 V 249/95
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 V 977/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 V 12/01 R
Datum
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 1. April 1998 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Kosten auch des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer erhöhten Pflegezulage nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Bei dem 1934 geborenen Kläger sind durch Bescheid vom 8. Oktober 1958 mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v. H. der Verlust des linken Auges und die völlige Erblindung des rechten Auges als Schädigungsfolgen anerkannt worden. Nach einem versorgungsärztlichen Gutachten vom 17. Mai 1995 (Vertragsärztin R.) finden sich bei dem Kläger außer den anerkannten Schädigungsfolgen keine pathologischen Befunde. Der Kläger ist Jurist, bis September 1994 war er als Regierungsdirektor bei der Wehrbereichsverwaltung tätig. Seit dem 1. Oktober 1994 beschäftigt er entsprechend den allgemeinen Vertragsrichtlinien des Deutschen Caritasverbandes für Haushaltspflegekräfte (AVR) nach der Vergütungsgruppe 6 b eine staatlich geprüfte Wirtschafterin als Pflegerin. Am 18. Oktober 1994 beantragte der Kläger eine Erhöhung der Pflegezulage gemäß § 35 Abs. 2 BVG.

Mit Bescheid vom 4. Januar 1995 gewährte die Beklagte eine erhöhte Pflegezulage vom 1. Oktober 1994 bis 31. März 1995. Zugrunde gelegt war ein erstattungsfähiger Pflegeumfang von täglich vier Stunden bei Vergütungsgruppe 9 der Anlage 2 des AVR. Dagegen erhob der Kläger am 2. Februar 1995 Widerspruch. Er war der Ansicht, der Pflegeumfang sei erheblich höher als vier Stunden täglich und seine Pflegerin sei als staatlich geprüfte Wirtschafterin höher als nach Vergütungsgruppe 9 zu entlohnen. Der Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 10. März 1995 zurück.

Dagegen hat der Kläger am 23. März 1995 Klage vor dem Sozialgericht in Wiesbaden erhoben. Mit Abhilfebescheid vom 22. April 1996 hat der Beklagte den erstattungsfähigen Pflegeumfang auf täglich 8 Stunden erhöht. Der Kläger begehrt nunmehr nur noch erhöhte Pflegezulage auf der Grundlage einer Eingruppierung seiner Pflegekraft in die Vergütungsgruppe 6 b. Vergütungsgruppe 9 betreffe nur einfachste Arbeiten, für die Pflege eines Blinden seien jedoch qualifizierte Kräfte notwendig, die auch bei geistigen Tätigkeiten helfen könnten. Für die Vergütung sei auf die Qualifikation seiner Pflegekraft abzustellen, so wie dies auch der Verwaltungspraxis in Baden-Württemberg entspreche. Der Beklagte führte aus, nach hessischer Verwaltungspraxis werde zur Vereinfachung das Prinzip der Pauschalabgeltung gewählt, das nur eine Eingruppierung in die Vergütungsgruppe 7 oder 9 zulasse. Ausschlaggebend sei das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit. Nur in besonders schweren Fällen sei die Vergütungsgruppe 7 angemessen. Beim Kläger liege ein überwiegend betreuerisches und die persönliche Versorgung sicherstellendes Pflegebedürfnis vor, jedoch kein besonders schwerer Leidenszustand, der eine Behandlungspflege erforderlich mache.

Das Sozialgericht hat am 15. Februar 1996 den Kläger und die Pflegerin informatorisch über den Pflegeumfang befragt. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 1. April 1998 wurde der Sachbereichsleiter für den Bereich Mobile Altenhilfe beim Caritasverband W., K. P. zur Eingruppierung der Pflegerin des Klägers gehört. In Kenntnis der Niederschrift der Anhörung hat er am 15. Februar 1996 ausgeführt, dass eine Eingruppierung in die Gruppe 9 unangemessen sei und die von der Pflegerin in hoher Verantwortlichkeit und Selbständigkeit durchgeführten pflegenahen Tätigkeiten mit der Gruppe 8 und nach Bewährungsaufstieg der Gruppe 7 zu entlohnen seien.

Mit Urteil vom 1. April 1998 hat das Sozialgericht entsprechend der Sachverständigenaussage der Klage teilweise stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, dem Kläger sei nicht darin zu folgen, dass ausschließlich auf die berufliche Aus- und Vorbildung der Pflegekraft abzustellen sei, weil dann jeglicher Bezug zu den konkreten Bedürfnissen des Pflegezulagenempfängers fehle. Die Verwaltungspraxis des Beklagten, nach der lediglich zwei Vergütungsgruppen herangezogen würden, differenzierten nicht aber ausreichend in dem konkreten Einzelfall. Entsprechend den Ausführungen des Sachverständigen sei hier die Lohngruppe 7 angemessen.

Gegen das ihm am 2. Juli 1998 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 15. Juli 1998 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt.

Der Senat hat Beweis erhoben und die Pflegerin durch den Berichterstatter am 4. April 2000 als Zeugin über die von ihr verrichtete Arbeit vernommen. Der Deutsche Caritasverband, Generalsekretariat in F., hat auf Anfrage mit Schreiben vom 9. Februar 2001 mitgeteilt, dass Pflegekräfte in ambulanten Einrichtungen nicht nach Vergütungsgruppe 9 der Anlage 2 AVR, sondern nach den Vergütungsgruppen KR 1 bis KR 10 der Anlage 2 c AVR vergütet würden.

Der Beklagte beantragt unter Wiederholung seines erstinstanzlichen Vorbringens:
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 1. April 1998 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger, der das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend hält, beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Wegen Einzelheiten der Beweiserhebung in beiden Rechtszügen und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den übrigen Akteninhalt, insbesondere den Inhalt der beigezogenen Akten des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung (§§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) ist sachlich unbegründet. Das Sozialgericht hat zutreffend entschieden, dass das erhöhte Pflegegeld auf Grundlage der Vergütungsgruppe 7 der Anlage 2 AVR zu gewähren ist.

Nach § 35 Abs. 2 BVG wird die Pflegezulage um den übersteigenden Betrag erhöht, wenn fremde Hilfe im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG von Dritten auf Grund eines Arbeitsvertrages geleistet wird und die dafür aufzuwendenden angemessenen Kosten den Betrag der pauschalen Pflegezulage übersteigen. Hilfe im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG ist eine solche, derer ein Beschädigter für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange dauernd bedarf. Der Kläger beschäftigt auf Grund eines Arbeitsvertrages eine Pflegekraft, deren Kosten das ihm gewährte Pflegegeld übersteigen. Streitig ist, in welcher Höhe diese Kosten angemessen sind. Die "Angemessenheit" bezieht sich zum einen auf den notwendigen Hilfeumfang. Dieser bestimmt sich zunächst nach der Legaldefinition in Abs. 1. Angemessen sind somit nur die Kosten, die für eine notwendige erhebliche Hilfe für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens dauernd erforderlich sind.

Bei der Berechnung der erhöhten Pflegezulage können deshalb nur Lohnkosten für entsprechend qualifizierte Hilfskräfte zugrunde gelegt werden, eine Überqualifikation bleibt unberücksichtigt. Zu Recht hat das Sozialgericht es deshalb abgelehnt, nach dem baden-württembergischen Modell allein die Qualifikation als Maßstab zu nehmen. Nicht berücksichtigungsfähig sind weiterhin solche Hilfeleistungen, die nicht die gewöhnlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens betreffen, im vorliegenden Falle also die Hilfe bei der juristischen ehrenamtlichen Tätigkeit. Die Notwendigkeit einer besonderen Qualifikation für das Vorlesen juristischer Texte darf deshalb nicht in die Berechnungsgrundlage des erhöhten Pflegegeldes einfließen. Der Mehraufwand für die fremde Hilfe bei der Ausübung des Ehrenamtes ist aus der Grundrente und der Schwerstbeschädigtenzulage zu decken, die auch der Abgeltung des Mehraufwandes dienen, der dem Kläger als Folge der Schädigung "in allen Lebenslagen" erwächst (vgl. BSG, Urteil vom 2. Juli 1997 - 9 Rv 19/95, S. 5 m. w. N.).

Der notwendige Hilfebedarf bezieht sich vor allem auf die Grundpflege, Mobilitätshilfen, Behandlungspflege und Kommunikationshilfe. Beim Kläger fallen die besonderen Hilfeleistungen an, die ein im Übrigen gesunder Blinder benötigt; im Vordergrund steht nicht die Behandlungspflege, sondern in Teilbereichen Verrichtungen der Grundpflege, vor allem aber Mobilitäts- und Kommunikationshilfen. Der Sachverständige hat den Hilfebedarf als "pflegenahe Tätigkeiten" bezeichnet. Zur Kommunikationshilfe gehört u.a. auch die geistige Erholung, das Führen unterhaltender Gespräche, Lesen usw. (Rohr-Strässer, BVG, § 35 - K 8). Die Qualität und der Umfang der Kommunikationshilfe hängen von der Persönlichkeit, den Interessen, den geistigen Fähigkeiten und der Bildung des Pflegebedürftigen ab. Bei den Kommunikationshilfen für den akademisch gebildeten Kläger ist eine gewisse Qualifikation notwendig, etwa beim Vorlesen schwieriger Zeitungsartikel oder dem Erklären von Fernsehbildern.

Die Angemessenheit bezieht sich zum zweiten auf die ortsüblichen Lohnkosten, die für eine Hilfsperson mit der notwendigen Qualifikation aufgewendet werden müssen (vgl. Rohr-Strässer, BVG, § 35 - K 20).

Sowohl die Feststellung des notwendigen Pflegebedarfes als auch die Feststellung der dafür aufzuwendenden Kosten sind individuell zu treffen. Angemessen sind die Kosten dann, wenn sie dem Einzelfall angepasst sind (Wilcke/Förster, Soziales Entschädigungsrecht, § 35 Rdnr. 30). "Angemessen" bedeutet auch im allgemeinen Sprachgebrauch "richtig bemessen" (Duden, Großes Wörterbuch der deutschen Sprache). Die in Hessen geübte Verwaltungspraxis, die Berechnung der erhöhten Pflegezulage zu pauschalieren, entspricht nicht dem Gesetzeswortlaut. Weder ermittelt der Beklagte den konkreten Pflegebedarf, sondern stuft alle Pflegebedürftigen in nur zwei pauschale Gruppen ein; noch ermittelt er den tatsächlichen, derzeitigen örtlichen Lohn, der für eine entsprechende Pflegeleistung notwendig ist.

Zutreffend und in Übereinstimmung mit dem Gesetzeswortlaut hat das Sozialgericht konkret und individuell den notwendigen Pflegeumfang und die dafür entstehenden Kosten ermittelt. Der vom Sozialgericht im Termin angehörte K. P. ist als Sachbereichsleiter für den Bereich Mobile Altenhilfe beim Caritas-Verband W. sowohl sachverständig für die Bestimmung des Pflegeumfanges als auch die örtlich übliche Einstufung einer entsprechenden Pflegekraft. Mit dem Sachverständigen und auf Grund der Zeugenaussage der Pflegerin und der vorliegenden medizinischen Unterlagen geht der Senat davon aus, dass beim Kläger im Wesentlichen pflegenahe Tätigkeiten, nicht aber pflegerische, im Vordergrund stehen. Ein Teil der Tätigkeit der Pflegerin besteht in hauswirtschaftlichen Verrichtungen, ein weiterer Teil in Hilfeleistungen, für die keine besondere Qualifikation notwendig ist. Auf der anderen Seite sind aber an die Kommunikationshilfen erhöhte Maßstäbe zu legen. Wegen der spezifischen Defizite des Klägers bedarf es auch, wie der Sachverständige festgestellt hat, einer erhöhten Selbständigkeit und Verantwortlichkeit der Pflegekraft. Eine Einstufung in die Lohngruppe 9, die heute nur noch für hauswirtschaftliche Hilfskräfte verwendet wird (Lohngruppe 9, Nr. 24 AVR), ist deshalb nicht gerechtfertigt, genauso wenig allerdings auch eine Einstufung, die für ausgebildete Pflegekräfte vorgesehen ist. Der Senat ist von der Richtigkeit der Ansicht des Sachverständigen überzeugt, der eine Einstufung nach Lohngruppe 8 - nach zwei Jahren Bewährungsaufstieg Lohngruppe 7 - für angemessen hält. Bestätigt wird der Sachverständige auch durch die schriftliche Stellungnahme des Generalsekretariats des Deutschen Caritasverband, nach der Pflegekräfte in die Lohngruppe 9 überhaupt nicht mehr eingestuft werden.

Es ist nicht zu beanstanden, der Berechnung der erhöhten Pflegezulage die Lohngruppen der Arbeitsvertragsrichtlinien des Deutschen Caritasverbandes zu Grunde zu legen. Diese sind dem Bundesangestelltentarif (BAT) angelehnt und können als Maßstab für die übliche Entlohnung gelten. Da dem Kläger nicht zuzumuten ist, eine Pflegekraft auszuwechseln, wenn diese wegen Erreichung des Bewährungsaufstieges oder einer höheren Altersstufe höher zu entlohnen ist, hat der Beklagte die erhöhte Pflegezulage an dem tatsächlich, konkreten, nach Tarifvertrag der angestellten Pflegekraft zu gewährenden Lohn der angestellten Pflegekraft zu bemessen.

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG.

Die Revision wird zugelassen (§ 160 Abs. 1 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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