L 34 AS 1336/08

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
34
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 17 AS 10/07
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 34 AS 1336/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteils des Sozialgerichts Neuruppin vom 27. Juni 2007 und der Bescheid des Beklagten vom 23. Juni 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2005 aufgehoben. Der Beklagte wird dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. April 2005 bis zum 23. März 2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers sind vom Beklagten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.

Der 1959 geborene Kläger verbüßte vom 1. Oktober 2002 bis zum 24. März 2006 eine Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt N wobei er ab dem 29. Oktober 2004 den Freigängerstatus erhielt, jedoch keine Beschäftigung aufnehmen konnte, da er keinen Arbeitsplatz fand. In der Justizvollzugsanstalt erhielt er eine Vollverpflegung und nach eigenen Angaben ein monatliches Taschengeld in Höhe von etwa 30,- EUR. Über weitere Einkünfte verfügte er nicht. Seine auch während der Haft zunächst beibehaltene Mietwohnung wurde ihm wegen aufgelaufener Mietrückstände zum 31. Oktober 2005 fristlos gekündigt, so dass er sie aufgeben musste.

Auf den Antrag des Klägers vom 4. November 2004 gewährte der Beklagte mit einem Bescheid vom 13. November 2004 für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis zum 31. März 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Auf den Fortzahlungsantrag vom 1. März 2005 erfolgte am 19. April 2005 lediglich eine Scheckzahlung in Höhe von 49,65 EUR. Mit
Bescheid vom 23. Juni 2005 versagte der Beklagte die weitere Bewilligung der beantragten Leistungen und gab zur Begründung an, der Kläger unterliege einem gesetzlichen Leistungsausschluss, weil er für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht sei. Mit einem weiteren Bescheid vom 23. Juni 2005 wurde die im Wege der Scheckzahlung gewährte Leistung in Höhe von 49,65 EUR rückwirkend aufgehoben und der Betrag zurückgefordert. Der gegen beide Bescheide gerichtete Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 3. November 2005 zurückgewiesen.

Hiergegen hat sich der Kläger mit seiner am 22. November 2005 beim Sozialgericht Neuruppin erhobenen Klage gewandt, die er damit begründet hat, dass er als Freigänger dem Arbeitsmarkt voll zur Verfügung stehe. Als der Kläger am 24. März 2006 aus der Haft entlassen worden ist, hat ihm der Beklagte mit Bescheid vom 26. April 2006 für die Zeit ab dem 24. März 2006 wieder Leistungen bewilligt. Das Sozialgericht hat eine Auskunft der Justizvollzugsanstalt N vom 9. Juni 2006 eingeholt, aus der hervorgeht, dass dem Kläger mit Wirkung ab dem 29. Oktober 2004 der Freigängerstatus gewährt worden sei, so dass für ihn grundsätzlich die Möglichkeit bestanden habe, einem freien Beschäftigungsverhältnis nachzugehen. Der Kläger sei jedoch wegen fehlender Stellen unverschuldet ohne Beschäftigung geblieben. Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 27. Juni 2007 abgewiesen. Nachdem das Urteil dem Kläger am 17. Juli 2007 zugestellt worden ist, hat er am 31. Juli 2007 Berufung eingelegt. Im Erörterungstermin des Senats vom 3. März 2009 hat der Beklagte den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 23. Juni 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2005 aufgehoben.

Der Kläger beantragt jetzt noch sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 27. Juni 2007 und den Bescheid des Beklagten vom 23. Juni 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2005 aufzuheben und den Beklagten dem Grunde nach zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom 1. April 2005 bis zum 23. März 2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Hinsichtlich der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der Verwaltungsvorgänge des Beklagten, die vorgelegen haben und Grundlage der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Mit dem Einverständnis der Beteiligten erfolgt die Entscheidung über die Berufung nach den §§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung und gemäß § 155 Abs. 3 und Abs. 4 SGG durch den Berichterstatter anstelle des Senats.

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid vom 23. Juni 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2005 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Der Kläger hat – wie beantragt – dem Grunde nach einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts aus den §§ 7 Abs. 1 Satz 1, 19 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Dabei ist der streitgegenständliche Anspruch auf die Zeit vom 1. April 2005 bis zum 23. März 2006 beschränkt, da der Beklagte über den Anspruch des Klägers für die Zeit ab dem 24. März 2006 mit einem neuen Bescheid entschieden hat (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 31. Oktober 2007, B 14/11b AS 59/06 R, abrufbar bei der Datenbank Juris). Der Beklagte kann dem Kläger nicht die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 4 SGB II in der bis zum 31. Juli 2006 geltenden Fassung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (BGBl. I S. 2954) entgegenhalten. Nach dieser Vorschrift erhielt Leistungen nach dem SGB II nicht, wer für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht war oder Rente wegen Alters bezog.

Der Kläger war im streitgegenständlichen Zeitraum nicht in einer stationären Einrichtung im Sinne der Vorschrift untergebracht. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, die sich der Senat zu seinem Maßstab macht, kommt es bei dem Begriff der stationären Einrichtung ausschließlich auf die objektive Struktur und Art der Einrichtung an. Ist sie so strukturiert und gestaltet, dass es dem dort Untergebrachten nicht möglich ist, aus der Einrichtung heraus eine Erwerbstätigkeit auszuüben, die dem durch § 8 Abs. 1 SGB II vorgegebenen täglichen Mindestumfang von drei Stunden genügt, so ist der Hilfebedürftige dem SGB XII zugewiesen. Tragender Gesichtspunkt für eine solche Systementscheidung ist die Annahme, dass der in einer Einrichtung Verweilende auf Grund der Vollversorgung und auf Grund seiner Einbindung in die Tagesabläufe der Einrichtung räumlich und zeitlich so weitgehend fremdbestimmt ist, dass er für die für das SGB II im Vordergrund stehenden Integrationsbemühungen zur Eingliederung in Arbeit (§§ 14 ff. SGB II) nicht oder nicht ausreichend zur Verfügung steht. Bei der Abgrenzung von SGB II und SGB XII ist der Begriff der Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II mithin danach zu bestimmen, ob durch die Unterbringung in der Einrichtung die Fähigkeit zur Aufnahme einer mindestens dreistündigen täglichen Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist. Demnach handelt es sich bei einer Justizvollzugsanstalt im Regelfall um eine Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II, da im Normalvollzug eine Teilnahme am allgemeinen Arbeitsmarkt nicht möglich ist, wobei anderes gegebenenfalls bei Freigängern gilt (Urteil vom 16. Dezember 2008, B 4 AS 9/08 R; Urteile vom 6. September 2007, B 14/7b AS 16/07 R, B 14/7b AS 60/06 R, jeweils abrufbar bei der Datenbank Juris)

Nach dieser Maßgabe ist die Justizvollzugsanstalt, in der der Kläger untergebracht war, nicht als stationäre Einrichtung im Sinne der Vorschrift anzusehen. Denn nach der dortigen Auskunft vom 9. Juni 2006 hatte der Kläger als Freigänger grundsätzlich die Möglichkeit, eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aufzunehmen, wobei die tatsächliche Aufnahme einer Beschäftigung nur an fehlenden Arbeitsplätzen scheiterte.

Der Kläger erfüllte im streitigen Zeitraum auch die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II in der bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Fassung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (BGBl. I S. 2954). Leistungen nach dem SGB II erhalten danach Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und das 65.
Lebensjahr noch nicht vollendet haben (Nr. 1), die erwerbsfähig (Nr. 2) und hilfebedürftig (Nr. 3) sind und ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr. 4).

Während die Voraussetzungen der § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 4 SGB II unstreitig erfüllt sind, kann der Beklagte gegen die Hilfebedürftigkeit nicht einwenden, dass der Kläger in der Justizvollzugsanstalt vollständig versorgt worden sei. Nach § 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften oder Mitteln, vor allem nicht durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit oder aus dem zu berücksichtigenden Einkommen und Vermögen, sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen erhält.

Ausgangspunkt der Prüfung der Hilfebedürftigkeit ist der Lebensunterhalt, der sich nach dem anzuerkennenden Bedarf im Sinne der §§ 19 ff. SGB II bemisst (Bundessozialgericht, Urteil vom 23. November 2006, B 11b AS 1/06 R, abrufbar bei der Datenbank Juris). Danach sind hier jedenfalls Regelleistungen nach § 20 SGB II und – solange der Kläger noch über eine ei-gene Wohnung verfügte – Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 SGB II als Bedarf zu berücksichtigen.

Diesen Bedarf konnte der Kläger nicht aus eigenen Mitteln oder durch die Hilfe anderer sichern. Der Kläger konnte nicht auf den Einsatz seiner Arbeitskraft verwiesen werden, da er ohne eigenes Verschulden keine Arbeit fand. Ihm können auch nicht die Verpflegungsleistungen der Justizvollzugsanstalt entgegengehalten werden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bestand in der Zeit bis zum 31. Dezember 2007 weder eine Rechtsgrundlage dafür, die Regelleistungen um eine erhaltene Vollverpflegung zu kürzen, noch durfte die Vollverpflegung gemäß § 11 Abs. 1 SGB II als Einkommen angerechnet werden (Urteil vom 16. Dezember 2008, B 4 AS 9/08 R; Urteil vom 18. Juni 2008, B 14 AS 22/07; Urteil vom 18. Juni 2007, B 14 AS 46/07 R; jeweils abrufbar bei der Datenbank Juris). Soweit der Kläger nach eigenen Angaben von der Justizvollzugsanstalt ein monatliches Taschengeld in Höhe von etwa 30,- EUR bezogen hat, ist bei der Anrechnung als Einkommen zu berücksichtigen, dass gemäß § 3 Nr. 1 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (Alg II-V) vom 20. Oktober 2004 (BGBl. I S. 2622) eine Versicherungspauschale in Höhe von 30,- EUR abzusetzen ist.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Klägers beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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