L 4 VG 5/00

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 16 VG 1522/98
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 VG 5/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 4. November 1999 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben sich einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig der Anspruch des Klägers auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Der 1963 geborene Kläger beantragte am 5. September 1995 bei dem Beklagten Leistungen nach dem OEG. Dabei gab er an, dass er am 4. März 1995 von G. B. (Schädiger) durch einen Pistolenschuss verletzt worden sei. Der Schädiger wurde durch Urteil des Amtsgerichts Gießen vom 20. Juni 1996 wegen unerlaubten Erwerbes und unerlaubten Führens einer automatischen Selbstladewaffe, in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und 6 Monaten auf Bewährung verurteilt.

Das Amtsgericht ging dabei von folgenden Feststellungen aus:

"Am 03.03.1995 hielt sich der Angeklagte zunächst am Nachmittag im Cafe S. in G. auf, wo er nach seinen Angaben 5 bis 6 Cola-Bier trank. Anschließend ging er nach Hause, holte sich besagte Pistole, steckte sie mit Munition in ein Holster unter sein Hemd und verließ am späteren Abend seine Wohnung und machte sich auf den Weg in eine Gaststätte. Nach 23.00 Uhr kam er in der Gaststätte "K." in der R-Straße in G. an. Er bestellte sich Getränke und kam mit verschiedenen Leuten ins Gespräch. Er trank einige Bier und Bacardi. Gegen Ende seines Aufenthalts in der Gaststätte "K." hatte der Angeklagte einen Streit mit dem Freund der Wirtin, dem in der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen und Nebenkläger A. T ... Ein Gast des Lokals, der in der Hauptverhandlung vernommene Zeuge O. V., suchte die beiden zu trennen. Der Angeklagte schlug seitlich auf V. ein, der zurückschlug und den Angeklagten u. a. im Gesicht traf, so dass dessen Nase blutete. T. und V. verbrachten den Angeklagten schließlich zum Ausgang der Gaststätte. V. verblieb im Lokal, während T. den Angeklagten die Treppe hoch zur Straße begleitete. Oben auf der Straße gab der Angeklagte wegen eines vermeintlichen oder wirklichen körperlichen Angriffs auf sich mit seiner Pistole, die er unter dem Hemd hervorzog und durchlud, zwei Schüsse ab, nach seiner Darstellung Warnschüsse, in die Luft. Der Zeuge V. unten im Lokal hörte die Schüsse und lief nach draußen auf die Straße. Er sah dort den Angeklagten stehen mit der Pistole in der Hand, gerichtet auf den wenige Meter entfernt stehenden T ... Ein weiterer vorheriger Gast des Lokals, der den Keller schon vor dem Angeklagten verlassen hat, ein Mann namens H., stand drei bis vier Pkw-Längen weiter entfernt bei einer Telefonzelle und brachte sich in Deckung. V. eilte von rückwärts zum Angeklagten, stürzte sich auf ihn, riss ihn am Arm, um ihn zu Boden zu zerren. Der Angeklagte riss seinen Arm wieder los und feuerte mit der Pistole einen Schuss ab, der den Zeugen und Nebenkläger T. an der Hüfte traf. Das Projektil trat in der Leiste des Zeugen ein und verließ als Durchschuss seine rechte Gesäßhälfte. V. drückte nun den Arm des Angeklagten auf das Straßenpflaster und versuchte, ihm die Waffe zu entwinden, was ihm nicht gelang. Auch dem hinzukommenden H. gelang es nicht, dem Angeklagten die Pistole abzunehmen. Erst ein Autofahrer, der sein Auto vor den auf der Straße liegenden Männern anhielt und ausstieg, half, dem Angeklagten die Pistole abzunehmen. Ein vierter Schuss ging los in die Luft, dann konnte dem Angeklagten die Pistole abgerungen werden."

Bei dem Kläger wurden nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) mit einem GdB von 40 und Zubilligung des Nachteilsausgleichs "G" als Behinderungen anerkannt (Bescheid vom 12. Februar 1999):

"Teillähmung und Gebrauchsminderung des rechten Beines nach Schussverletzung."

Nach Beiziehung ärztlicher Unterlagen und der Akten des Amtsgerichts Gießen lehnte der Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 7. April 1998 ab, da mangels des Nachweises einer vorsätzlichen Gewalttat kein Anspruch auf Versorgung gegeben sei.

Der Widerspruch des Klägers vom 5. Mai 1998 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 27. Juli 1998 zurückgewiesen.

Hiergegen hat der Kläger am 6. August 1998 bei dem Sozialgericht Gießen Klage erhoben und einen ärztlichen Bericht des Psychiaters Dr. Fx., G., (18. Februar 1999) vorgelegt. Das Sozialgericht hat die Akten der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Gießen beigezogen und mit Urteil vom 4. November 1999 die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Der Nachweis eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs sei nicht erbracht und ein solcher Angriff sei auch nicht glaubhaft gemacht worden. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei nach dem Tathergang eine bewusst fahrlässige Handlung des Verursachers B. mindestens genauso wahrscheinlich wie die Annahme eines bedingt vorsätzlichen Handelns. Der Verursacher selbst habe sich dahingehend eingelassen, dass er die Waffe nur zur Abschreckung ohne Verletzungsvorsatz mitgeführt habe und zunächst nur zwei Warnschüsse in die Luft abgegeben habe. Erst bei einem "Gerangel" mit dem Zeugen V., während der Kläger auf ihn zugelaufen sei, habe sich der dritte Schuss gelöst und den Kläger getroffen. Diese Einlassung des Verursachers, welche der Annahme eines bedingten Vorsatzes im Sinne des Einverständnisses mit einem den Kläger treffenden Schuss entgegenstehe, sei durch die verschiedenen Zeugenaussagen nicht widerlegt. Möglicherweise habe der Täter es billigend in Kauf genommen, dass sich ein Warnschuss löse, eine Intention bezüglich der Verletzung des Klägers sei damit jedoch noch nicht belegt. Dies ergebe sich insbesondere auch aus der Aussage des Zeugen V., an deren Glaubwürdigkeit das Gericht keinen Zweifel habe. Ein Indiz für die Annahme, dass der dritte Schuss lediglich bewusst fahrlässig abgegeben worden sei, sei im Übrigen auch die Feststellung des Gerichtsmediziners, dass der Schusskanal von oben nach unten und nicht etwa horizontal in Armhöhe verlaufen sei, wie dies bei einem gezielten Schuss zu erwarten gewesen wäre.

Gegen dieses dem Kläger gegen Empfangsbekenntnis am 8. Dezember 1999 zugestellte Urteil hat er am 4. Januar 2000 bei dem Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt und verfolgt sein Begehren weiter. Der Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen G. B., O. V., O. Y., H. K. und T. P ... Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme im Einzelnen wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 4. November 1999 sowie den Bescheid des Beklagten vom 7. April 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juli 1998 aufzuheben und diesen zu verurteilen, ihm ab 1. September 1995 wegen der am 4. März 1995 erlittenen Verletzungen Entschädigung in gesetzlichem Umfang nach dem OEG zu gewähren,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Akteninhalt Bezug genommen sowie auf den der beigezogenen Akten der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Gießen (XXXXX) und der Akten des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, denn sie ist insbesondere form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Sie ist jedoch sachlich unbegründet.

Das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 4. November 1999 und die Bescheide des Beklagten vom 7. April 1998 und 27. Juli 1998 sind nicht zu beanstanden. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Leistungen nach dem OEG.

Eine vorsätzliche Tat i. S. von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist nicht nachgewiesen.

Das Sozialgericht hat sich bei seiner Entscheidung im Wesentlichen auf die Aussage der im strafgerichtlichen Verfahren vernommenen Zeugen gestützt. Es ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass der 3. Schuss (der den Kläger verletzt hat) gefallen sei, als der Zeuge V. versucht habe, dem Schädiger (Zeuge B.) die Waffe zu entreißen. Aus den Zeugenaussagen könne möglicherweise geschlossen werden, der Schädiger habe es billigend in Kauf genommen, dass sich ein Warnschuss löse, eine Intention bezüglich der Verletzung des Klägers sei damit jedoch noch nicht belegt. Nach Durchführung der Beweisaufnahme folgt der Senat im Ergebnis den Ausführungen im angefochtenen Urteil. Zutreffend stellt das Sozialgericht dabei zunächst die Voraussetzungen des bedingten Vorsatzes und der bewussten Fahrlässigkeit gegenüber. Danach setzt bedingter Vorsatz voraus, dass der Täter seine Handlung auch unbedingt wollen muss, d. h. der bedingt vorsätzlich Handelnde ist mit dem Eintreten des Erfolges, hier der Verletzung des Klägers, in dem Sinne einverstanden, dass er ihn billigend in Kauf nimmt. Dem gegenüber liegt bewusst fahrlässiges Handeln vor, wenn der Handelnde mit der durchaus als möglich erkannten Folge nicht einverstanden ist und deshalb auf ihren Nichteintritt vertraut. Bei der Abgrenzung der beiden Handlungsformen ist vom Willen des Handelnden auszugehen. Der Täter muss bei Annahme des bedingten Vorsatzes mit der Tatbestandsverwirklichung einverstanden sein, auch wenn dieser Erfolg für ihn unerwünscht ist. Bei der bewussten Fahrlässigkeit hingegen kennt der Handelnde zwar die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung, ist aber nicht mit ihr einverstanden und handelt lediglich entgegen seiner Einsicht pflichtwidrig.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist es dabei ausreichend, dass jemand mit bedingtem Vorsatz handelt (Urteile vom 4. Februar 1998 - B 9 VG 5/96 R - und vom 3. Februar 1999 - B 9 VG 7/97 R -). Die Vorsatztat muss aber nachgewiesen sein. Um einen "vorsätzlichen" Angriff i. S. des § 1 Abs. 1 OEG annehmen zu können, müssen wenigstens die äußeren Tatumstände überzeugende Hinweise auf den Willen geben, unmittelbar gegen eine Person vorzugehen (Urteil des LSG München vom 6. Mai 1987 - L 10 VG 7/86 in Breithaupt 1989, 259).

Nach den von dem Senat getroffenen Feststellungen kann bei den Handlungen des Zeugen B. nicht von einer - begingt - vorsätzlichen Tat ausgegangen werden. Die Zeugen Y. und P. können zu dem Ablauf, insbesondere wie es zu dem "3. Schuss" gekommen ist, der den Kläger verletzt hat, keine näheren Angaben machen. Auch die Erklärungen des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 14. Dezember 2000 tragen nicht zur weiteren Sachaufklärung bei. Soweit der Zeuge V. bei seiner Vernehmung am 14. Dezember 2000 u. a. bekundet hat, dass der Arm des Zeugen B. auch im Zeitpunkt der Schussabgabe (3. Schuss) über seinem Kopf gewesen sei, erhärtet dieser Geschehnisablauf nicht die Annahme eines bedingten Vorsatzes. Es ist danach vielmehr fraglich, ob der Kläger dabei überhaupt getroffen geworden wäre. Bei seiner Vernehmung am 10. April 2001 hat der Zeuge V. dann jedoch eine andere Schilderung des Ablaufs gegeben. In der Aussage vom 14. Dezember 2000 hatte er zunächst bekundet, dass zwei Schüsse (die Schüsse 3 und 4) direkt hintereinander gefallen seien, während er den Arm des Zeugen B. mit beiden Händen nach oben gedrückt habe. Andererseits hatte er nach seiner Aussage vor dem Senat (10. April 2001) bei dem 3. Schuss den Zeugen B. noch nicht erreicht. Vielmehr habe der Zeuge B. vor Abgabe des 3. Schusses die Waffe mit ausgestreckter rechter Hand auf den Kläger gerichtet gehabt. Er wisse jedoch nicht mehr, ob der Kläger durch den 3. Schuss getroffenen worden sei. Auf den Vorhalt des Senats bezüglich der unterschiedlichen Angaben bei seinen Vernehmungen im Dezember 2000 und April 2001 kann der Zeuge V. diese Diskrepanz nicht nachvollziehbar erklären. Seine Begründung, es sei alles zu schnell gegangen, ist für den Senat bei einer Zeitspanne von lediglich vier Monaten zwischen den beiden Aussagen nicht überzeugend. Auch die Aussage des Zeugen K. trägt nicht zur weiteren Sachverhaltsaufklärung bei. Vielmehr schildert dieser einen gegenüber den Bekundungen des Zeugen V. nochmals anderen Ablauf des Geschehens. Danach hat der Zeuge B. mit ausgestrecktem Arm zwei Schüsse direkt auf den Kläger abgegeben, wovon der 2. Schuss diesen getroffen habe. Danach seien dann noch zwei weitere Schüsse gefallen.

Dem gegenüber hat der Zeuge B. einen noch anderen Verlauf der Ereignisse geschildert. Wie bei seinen Vernehmungen am 6. März 1995 und 18. Juni 1996 hat der dem Senat gegenüber erklärt, dass er nicht bewusst auf eine Person geschossen habe, es habe sich vielmehr ein Schuss gelöst, als man versucht habe, ihm die Waffe zu entreißen.

Angesichts der widersprüchlichen Zeugenaussagen zum Ablauf der Ereignisse, die letztlich zur Verletzung des Klägers geführt haben, ist nach Überzeugung des Senats nicht nachgewiesen, dass der Zeuge B. mit - bedingtem - Vorsatz gehandelt hat. Abgesehen von der Aussage des Zeugen B. bezüglich seiner inneren Einstellung, die nicht den Schluss zulässt, dass er sich über die Möglichkeit des Erfolgseintritts der Körperverletzung im Klaren gewesen ist und diese in Kauf genommen hat, kann wegen der unterschiedlichen Angaben zum Ablauf des Geschehens auch nicht aus den äußeren Umständen auf den - bedingten - Vorsatz geschlossen werden. Die Zeugenaussagen lassen vielmehr mehrere Geschehnisabläufe zu, die jeweils zutreffend sein können. Der Senat konnte daher auch nach Vernehmung der Zeugen nicht feststellen, ob ein - bedingt - vorsätzlicher tätlicher Angriff gegen den Kläger i. S. von § 1 Abs. 1 OEG vorgelegen hat. Nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast geht diese Ungewissheit zu Lasten des Klägers, der die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen (Meyer-Ladewig, SGG, § 103 Rdnr. 19a m. w. N.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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