Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 7 KN 27/07
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 2 KN 253/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 31.10.2008 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens einschließlich derjenigen des Berufungsverfahrens bleibt dem Sozialgericht vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Gewährung von Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung.
Der am 00.00.1964 in der Türkei geborene Kläger war ab 1983 in Deutschland zumeist im Bergbau, zuletzt als Hauer in der Gewinnung beschäftigt und ist seit 1999 arbeitsunfähig krank bzw. arbeitslos. Seit dem 01.03.2000 bezieht er von der Beklagten die Rente für Bergleute.
Nach einem vorangegangenen Streitverfahren (S 6 KN 244/00) stellte der Kläger erneut am 15.11.2005 einen Antrag auf Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung. Er stützte den Antrag auf ein Attest des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. N vom 30.08.2005, der den Kläger für erwerbsunfähig hielt. Die Beklagte ließ den Kläger daraufhin vom Sozialmedizinischen Dienst (SMD) begutachten. Beim Kläger wurde eine Minderbelastbarkeit der Halswirbelsäule bei Bandscheibenvorwölbung in Höhe C5/C6 mit chronischem oberen Cervikalsyndrom, eine Minderbelastbarkeit der Lendenwirbelsäule bei minimalen medialen Bandscheibenvorfall in Höhe L4/L5 mit segmentaler Funktionsstörung, eine Adipositas, eine ekzematöse Hautläsion im Bereich des rechten Innenknöchels sowie eine depressiv gefärbte somatoforme Entwicklung diagnostiziert. Des weiteren holte die Beklagte ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten von Dr. N1 ein. Er fand beim Kläger eine ängstlich-deprimiert-resignative Versagenshaltung bei mangelnder positiver Zukunftsausrichtung sowie multiple körperliche Beschwerden leichtgradigen Ausmaßes ohne Hinweise auf eine dauernde Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit. Er stellte fest, dass beim Kläger keine Depression von Krankheitswert, Psychose oder Hirnleistungsschwäche vorliege. Es liege weder Berufs- noch Erwerbsunfähigkeit beim Kläger vor. In einer abschließenden Stellungnahme des SMD wurde der Kläger für fähig erachtet, körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten mit nur gelegentlicher Zwangshaltung und gelegentlichen Bück-, Hebe- und Tragebeanspruchungen im Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen zu bewältigen.
Mit Bescheid vom 30.08.2006 lehnte die Beklagte die Gewährung von Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung mit der Begründung ab, dass der Kläger noch für fähig erachtet werde, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Der Kläger legte unter Bezugnahme auf ein Attest von Dr. N Widerspruch ein und erklärte, seine Beschwerdesymptomatik habe zugenommen. Mit Widerspruchsbescheid von 25.01.2007 wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen.
Mit seiner am 05.02.2007 erhobenen Klage hat der Kläger sein Rentenbegehren weiter verfolgt.
Er hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 30.08.06 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.01.07 zu verurteilen, bei ihm ab 15.11.05 einen Zustand von voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung anzunehmen und ihm die Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren sowie hilfsweise Gutachten gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG), wie schriftsätzlich beantragt, einzuholen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben über das gesundheitliche Leistungsvermögen des Klägers und Befundberichte der behandelnden Ärzte beigezogen. Anschließend hat das Gericht ein chirurgisch-sozialmedizinisches Gutachten von Frau Dr. E sowie ein neurologisch-psychiatrisches Zusatzgutachten von Dr. I eingeholt.
Die Sachverständigengutachten sind am 10.04.2008 den Bevollmächtigten mit der Bitte um Stellungnahme binnen 4 Wochen und den Fragen, ob die Klage zurückgenommen oder ein Antrag gemäß § 109 SGG gestellt werde, übersandt worden. Unter dem 08.05.2008 wurde die Streitsache zur Sitzung verfügt. Mit Schriftsatz vom 08.05.2008, eingegangen am 13.05.2008, haben die Bevollmächtigten des Klägers einen Antrag nach § 109 SGG unter Benennung zweier Ärzte gestellt. Mit gleichem Datum ist der Rechtsstreit zur mündlichen Verhandlung am 31.10.2008 geladen worden.
Mit Urteil vom 31.10.2008 hat das Sozialgericht Gelsenkirchen die Klage abgewiesen. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt worden, der Kläger habe nach dem Gesamtergebnis der Ermittlungen keinen Anspruch auf die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Der Hilfsantrag des Klägers auf Einholung von Gutachten gemäß § 109 SGG habe keinen Erfolg haben können. Der Antrag sei gemäß § 109 Abs. 2 SGG als verspätet abzulehnen. Nach der freien Überzeugung des Gerichts sei der Antrag des Klägers aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden. Dabei müsse sich der Kläger gemäß § 73 Abs. 4 SGG i.V.m. § 85 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) auch das Verhalten seiner Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen. Die Sachverständigengutachten seien am 10.04.2008 an die Beteiligten übersandt worden, an die Bevollmächtigten des Klägers mit der Bitte um Stellungnahme binnen 4 Wochen, ob die Klage zurückgenommen oder ein Antrag gemäß § 109 SGG gestellt werde. Diese Anfrage sei bei den Bevollmächtigten am 11.04.08 eingegangen, so dass die 4-Wochen-Frist am 09.05.08 abgelaufen gewesen sei. Durch die Zulassung der am 13.05.08 nach Fristablauf eingegangen Anträge wäre unzweifelhaft die Erledigung des Rechtsstreits verzögert worden.
Gegen das am 07.11.2008 zugestellte Urteil hat der Kläger am 17.11.2008 Berufung eingelegt. Er hält an dem Begehren einer Rentenleistung fest.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils vom 31.10.2008 nach dem Schlussantrag erster Instanz zu erkennen,
hilfsweise,
das Urteil des Sozialgerichts vom 31.10.2008 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gerichts zur weiteren Ermitllung nach § 109 SGG zu verweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält an ihrer Entscheidung fest.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, der Verwaltungsakten der Beklagten, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist im Sinne des Hilfsantrages begründet. Da die bisherigen Tatsachenfeststellungen für eine Sachentscheidung nicht ausreichen, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Streitsache an das Sozialgericht (SG) zurückzuverweisen. Denn das Verfahren leidet an einem wesentlichen Mangel gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG.
Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Das Verfahren leidet an einem wesentlichen Mangel, wenn das SG auf dem Weg zu seiner abschließenden Entscheidung eine das Klageverfahren regelnde Verfahrensvorschrift verletzt hat. Wesentlich ist dieser Mangel, wenn die Entscheidung des SG auf der Verletzung der Verfahrensvorschrift beruhen kann (Keller in: Meyer-Ladewig, SGG-Kommentar 9. Auflage 2008, § 159 Rdnr 3a, mwN). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Im sozialgerichtlichen Verfahren ist gem. § 109 Abs. 1 SGG auf Antrag des Versicherten, des behinderten Menschen, des Versorgungsberechtigten oder des Hinterbliebenen ein bestimmter Arzt gutachterlich zu hören. Die Anhörung wird in aller Regel von der Einzahlung eines Kostenvorschusses abhängig gemacht (§ 109 Abs. 1 S. 2 SGG) und kann ansonsten nur unter den Voraussetzungen des § 109 Abs. 2 SGG abgelehnt werden. Damit ist eine Ablehnung dieses Beweisantrags nur dann möglich, wenn der Antrag entweder (lediglich) in Verschleppungsabsicht oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist. Beide Fallkonstellationen setzen zunächst voraus, dass es bei einer Zulassung des Beweisantrags zu einer Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits komme.
Insbesondere ergeben sich aus dem Ablauf des erstinstanzlichen Klageverfahrens keine Hinweise für eine Prozessverschleppungsabsicht des Klägers bzw. des Prozessbevollmächtigten vor. Zunächst ist nicht ersichtlich, warum der Kläger, der die Gewährung einer Rente begehrt, die Absicht haben sollte, die Erledigung des Rechtsstreites zu verzögern.
Eine Verzögerung des Rechtsstreit ist grundsätzlich nur anzunehmen, wenn der Rechtsstreit im Zeitpunkt der Ablehnung einer Beweisaufnahme nach § 109 SGG bereits terminiert war. Dies war vorliegend nicht der Fall, denn die Ladung (13.05.2009) erfolgte erst nach der Ablehnung der Beweisaufnahme und der Rechtsstreit war erst ca. 5 Monate später zur Entscheidung vorgesehen. Innerhalb dieses Zeitraumes wären Ermittlungen durchaus möglich gewesen. Es bleibt offen, ob im Zeitpunkt des Eingangs des Antrages nach § 109 SGG die Erledigung des Rechtsstreites durch die Einholung eines Gutachtens tatsächlich verzögert worden wäre. Tatsachen, die diese Annahme rechtfertigen, finden sich nicht. Eine Anfrage des SG an die benannten Sachverständigen, wie lange sie für die Erstellung des Gutachtens benötigen, fehlt. Es ist gut denkbar, dass die Gutachten den Beteiligten so rechtzeitig vorgelegen hätten, dass noch vor einem Termin sachgerecht Stellung bezogen werden konnte. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts, kann eben nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Erledigung des Rechtsstreits "unzweifelhaft" verzögert hätte. Hätte die mündliche Verhandlung gleichwohl vertagt werden müssen, hätte dies über § 192 SGG (die dortigen Voraussetzungen unterstellt) sanktioniert werden können.
Eine verspätete Antragstellung aus grober Nachlässigkeit kann nicht angenommen werden. Verspätung aus grober Nachlässigkeit liegt vor, wenn jede zur sorgfältigen Prozessführung erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen worden ist, wenn also nicht getan wird, was jemanden in der betreffenden Situation einleuchten würde (BSG, Urteil vom 27.05.2008 - B 2 U 5/07 R, UV-Recht Aktuell 2008,1091). Das SG hat eine sehr kurze Frist (mindestens 4 Wochen bzw. 1 Monat vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25.09.2003 - L 7 SB 104/02; Keller in: Meyer-Ladewig, a.a.0. Rn 11; Kolmetz, SGb 2004 83, 88 jeweils m.w.N.) gesetzt, ohne die Verfügung zu zustellen (vgl. zum Zustellungserfordernis: LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 08.02.2007 - L 2 KN 236/06). Ungeachtet dessen, das der Kläger bzw. sein Bevollmächtiger die gesetzte Frist versäumt hat, vermag dies keine Verkürzung oder Einschränkung des Antragsrechts des Klägers nach § 109 SGG zu rechtfertigen. Maßstab ist diejenige Sorgfalt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten ist und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war.
Selbst ein erst am 13.05.2009 eingegangener Antrag kann nicht als verspätet angesehen werden. Denn die vom Sozialgericht gesetzte Frist von 4 Wochen war nicht angemessen. Der Antrag nach § 109 SGG darf nur dann mit Hinweis auf eine Fristversäumnis abgelehnt werden, wenn die Frist angemessen gewesen ist. Ob die Frist angemessen gewesen ist, beurteilt sich nach dem Sach- und Rechtsstand zum Zeitpunkt der Fristsetzung. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, ob der Kläger - zum Zeitpunkt der Fristsetzung - bereits über solche Kenntnisse verfügt, die für seine Entscheidung, einen Antrag gem. § 109 SGG zu stellen, von Bedeutung sind. Im Vordergrund steht insoweit die Möglichkeit, das Ergebnis der medizinischen Sachverhaltsaufklärung ausreichend würdigen zu können. Daher beurteilt sich die Angemessenheit einer Frist auch nach Art und Umfang der (bisherigen) medizinischen Beweisaufnahme, die zunächst vom Kläger gewürdigt werden muss. Je komplexer und schwieriger sich die Beweisaufnahme darstellt - etwa bei der Beurteilung von Zusammenhangsfragen - und je mehr Gutachten eingeholt wurden, desto länger muss dem Kläger Zeit gegeben werden, einen Sachverständigen seines Vertrauens zu benennen. Zu beachten ist dabei, dass es dem Kläger regelmäßig nicht ohne Rücksprache mit seinen behandelnden Ärzten möglich sein wird, das Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme zu beurteilen. Soweit der Kläger durch einen Bevollmächtigten vertreten wird, ist weiter zu berücksichtigen, dass allein die Korrespondenz zwischen Gericht, Klägerbevollmächtigten und Kläger - selbst bei unterstellter sofortiger Bearbeitung - bereits mehrere Tage in Anspruch nimmt. Im Weiteren muss der Kläger bzw. in der Regel sein Bevollmächtigter die Frage der Kostentragung klären und letztlich einen geeigneten Sachverständigen finden. Vor diesem Hintergrund ist eine generelle, schematische Fristsetzung von 4 Wochen, wie sie die Verfügung vom 09.04.2008 zu erkennen gibt, nicht geeignet, um den am 13.05.2008 gestellten Antrag, allein mit Hinweis auf eine Fristversäumnis abzulehnen. Denn dem Kläger ist aufgegeben worden, zu zwei Gutachten von Fachärzten, die einen Umfang von 30 bzw. 40 Seiten haben, nicht nur Stellung zu nehmen, sondern zugleich zu entscheiden, ob ein Antrag gem. § 109 SGG gestellt wird. In einem solchen Fall muss eine Frist von 4 Wochen als unangemessen kurz angesehen werden.
Das SG hätte dem wirksam gestellten Beweisantrag des Klägers stattgeben müssen, da keine Ablehnungsgründe nach § 109 Abs. 2 SGG vorliegen. Folglich hat das erstinstanzliche Gericht gegen die Verfahrensvorschriften des § 109 SGG und damit auch gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens (fair trial) (vgl. dazu Keller in: Meyer-Ladewig. aa0. vor § 60 Rdnr 1b mwN.) verstoßen.
Die rechtsfehlerhafte Ablehnung des Beweisantrags nach § 109 SGG stellt einen wesentlichen Verfahrensfehler i.S.d. § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG dar (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteile vom 30.01.2003 - L 7 SB 157/02 und vom 08.02.2007 L 2 KN 236/06; LSG für das Saarland, Urteil vom 18.11.2005 - L 2 U 65/05; Udsching, NZS 1992, 50, 55; Keller in: Meyer-Ladewig a.a.O., § 109 Rn 20).
Der Senat hält es im Rahmen seines Ermessen für sachgerecht und zweckmäßig, die Streitsache an das SG zurückzuverweisen. Denn der Rechtsstreit hätte nach weiterer Beweisaufnahme zu einem anderen Ergebnis führen können. Auch unter Berücksichtigung des Gedankens der Prozessökonomie und des Interesses des Klägers an einer zeitnahen Sachentscheidung überwiegt sein Interesse, die erforderliche Sachaufklärung durch das Instanzgericht in einem fairen Klageverfahren (und erst danach ggf. in einer zweiten Instanz) vornehmen zu lassen. Der Kläger hat durch seinen Hilfsantrag dokumentiert, dass diese Verfahrensweise in seinem Interesse liegt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 Satz 1, 193 Abs. 1 SGG.
Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht; § 160 Abs. 2 SGG.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Gewährung von Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung.
Der am 00.00.1964 in der Türkei geborene Kläger war ab 1983 in Deutschland zumeist im Bergbau, zuletzt als Hauer in der Gewinnung beschäftigt und ist seit 1999 arbeitsunfähig krank bzw. arbeitslos. Seit dem 01.03.2000 bezieht er von der Beklagten die Rente für Bergleute.
Nach einem vorangegangenen Streitverfahren (S 6 KN 244/00) stellte der Kläger erneut am 15.11.2005 einen Antrag auf Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung. Er stützte den Antrag auf ein Attest des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. N vom 30.08.2005, der den Kläger für erwerbsunfähig hielt. Die Beklagte ließ den Kläger daraufhin vom Sozialmedizinischen Dienst (SMD) begutachten. Beim Kläger wurde eine Minderbelastbarkeit der Halswirbelsäule bei Bandscheibenvorwölbung in Höhe C5/C6 mit chronischem oberen Cervikalsyndrom, eine Minderbelastbarkeit der Lendenwirbelsäule bei minimalen medialen Bandscheibenvorfall in Höhe L4/L5 mit segmentaler Funktionsstörung, eine Adipositas, eine ekzematöse Hautläsion im Bereich des rechten Innenknöchels sowie eine depressiv gefärbte somatoforme Entwicklung diagnostiziert. Des weiteren holte die Beklagte ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten von Dr. N1 ein. Er fand beim Kläger eine ängstlich-deprimiert-resignative Versagenshaltung bei mangelnder positiver Zukunftsausrichtung sowie multiple körperliche Beschwerden leichtgradigen Ausmaßes ohne Hinweise auf eine dauernde Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit. Er stellte fest, dass beim Kläger keine Depression von Krankheitswert, Psychose oder Hirnleistungsschwäche vorliege. Es liege weder Berufs- noch Erwerbsunfähigkeit beim Kläger vor. In einer abschließenden Stellungnahme des SMD wurde der Kläger für fähig erachtet, körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten mit nur gelegentlicher Zwangshaltung und gelegentlichen Bück-, Hebe- und Tragebeanspruchungen im Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen zu bewältigen.
Mit Bescheid vom 30.08.2006 lehnte die Beklagte die Gewährung von Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung mit der Begründung ab, dass der Kläger noch für fähig erachtet werde, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Der Kläger legte unter Bezugnahme auf ein Attest von Dr. N Widerspruch ein und erklärte, seine Beschwerdesymptomatik habe zugenommen. Mit Widerspruchsbescheid von 25.01.2007 wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen.
Mit seiner am 05.02.2007 erhobenen Klage hat der Kläger sein Rentenbegehren weiter verfolgt.
Er hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 30.08.06 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.01.07 zu verurteilen, bei ihm ab 15.11.05 einen Zustand von voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung anzunehmen und ihm die Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren sowie hilfsweise Gutachten gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG), wie schriftsätzlich beantragt, einzuholen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben über das gesundheitliche Leistungsvermögen des Klägers und Befundberichte der behandelnden Ärzte beigezogen. Anschließend hat das Gericht ein chirurgisch-sozialmedizinisches Gutachten von Frau Dr. E sowie ein neurologisch-psychiatrisches Zusatzgutachten von Dr. I eingeholt.
Die Sachverständigengutachten sind am 10.04.2008 den Bevollmächtigten mit der Bitte um Stellungnahme binnen 4 Wochen und den Fragen, ob die Klage zurückgenommen oder ein Antrag gemäß § 109 SGG gestellt werde, übersandt worden. Unter dem 08.05.2008 wurde die Streitsache zur Sitzung verfügt. Mit Schriftsatz vom 08.05.2008, eingegangen am 13.05.2008, haben die Bevollmächtigten des Klägers einen Antrag nach § 109 SGG unter Benennung zweier Ärzte gestellt. Mit gleichem Datum ist der Rechtsstreit zur mündlichen Verhandlung am 31.10.2008 geladen worden.
Mit Urteil vom 31.10.2008 hat das Sozialgericht Gelsenkirchen die Klage abgewiesen. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt worden, der Kläger habe nach dem Gesamtergebnis der Ermittlungen keinen Anspruch auf die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Der Hilfsantrag des Klägers auf Einholung von Gutachten gemäß § 109 SGG habe keinen Erfolg haben können. Der Antrag sei gemäß § 109 Abs. 2 SGG als verspätet abzulehnen. Nach der freien Überzeugung des Gerichts sei der Antrag des Klägers aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden. Dabei müsse sich der Kläger gemäß § 73 Abs. 4 SGG i.V.m. § 85 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) auch das Verhalten seiner Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen. Die Sachverständigengutachten seien am 10.04.2008 an die Beteiligten übersandt worden, an die Bevollmächtigten des Klägers mit der Bitte um Stellungnahme binnen 4 Wochen, ob die Klage zurückgenommen oder ein Antrag gemäß § 109 SGG gestellt werde. Diese Anfrage sei bei den Bevollmächtigten am 11.04.08 eingegangen, so dass die 4-Wochen-Frist am 09.05.08 abgelaufen gewesen sei. Durch die Zulassung der am 13.05.08 nach Fristablauf eingegangen Anträge wäre unzweifelhaft die Erledigung des Rechtsstreits verzögert worden.
Gegen das am 07.11.2008 zugestellte Urteil hat der Kläger am 17.11.2008 Berufung eingelegt. Er hält an dem Begehren einer Rentenleistung fest.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils vom 31.10.2008 nach dem Schlussantrag erster Instanz zu erkennen,
hilfsweise,
das Urteil des Sozialgerichts vom 31.10.2008 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gerichts zur weiteren Ermitllung nach § 109 SGG zu verweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält an ihrer Entscheidung fest.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, der Verwaltungsakten der Beklagten, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist im Sinne des Hilfsantrages begründet. Da die bisherigen Tatsachenfeststellungen für eine Sachentscheidung nicht ausreichen, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Streitsache an das Sozialgericht (SG) zurückzuverweisen. Denn das Verfahren leidet an einem wesentlichen Mangel gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG.
Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Das Verfahren leidet an einem wesentlichen Mangel, wenn das SG auf dem Weg zu seiner abschließenden Entscheidung eine das Klageverfahren regelnde Verfahrensvorschrift verletzt hat. Wesentlich ist dieser Mangel, wenn die Entscheidung des SG auf der Verletzung der Verfahrensvorschrift beruhen kann (Keller in: Meyer-Ladewig, SGG-Kommentar 9. Auflage 2008, § 159 Rdnr 3a, mwN). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Im sozialgerichtlichen Verfahren ist gem. § 109 Abs. 1 SGG auf Antrag des Versicherten, des behinderten Menschen, des Versorgungsberechtigten oder des Hinterbliebenen ein bestimmter Arzt gutachterlich zu hören. Die Anhörung wird in aller Regel von der Einzahlung eines Kostenvorschusses abhängig gemacht (§ 109 Abs. 1 S. 2 SGG) und kann ansonsten nur unter den Voraussetzungen des § 109 Abs. 2 SGG abgelehnt werden. Damit ist eine Ablehnung dieses Beweisantrags nur dann möglich, wenn der Antrag entweder (lediglich) in Verschleppungsabsicht oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist. Beide Fallkonstellationen setzen zunächst voraus, dass es bei einer Zulassung des Beweisantrags zu einer Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits komme.
Insbesondere ergeben sich aus dem Ablauf des erstinstanzlichen Klageverfahrens keine Hinweise für eine Prozessverschleppungsabsicht des Klägers bzw. des Prozessbevollmächtigten vor. Zunächst ist nicht ersichtlich, warum der Kläger, der die Gewährung einer Rente begehrt, die Absicht haben sollte, die Erledigung des Rechtsstreites zu verzögern.
Eine Verzögerung des Rechtsstreit ist grundsätzlich nur anzunehmen, wenn der Rechtsstreit im Zeitpunkt der Ablehnung einer Beweisaufnahme nach § 109 SGG bereits terminiert war. Dies war vorliegend nicht der Fall, denn die Ladung (13.05.2009) erfolgte erst nach der Ablehnung der Beweisaufnahme und der Rechtsstreit war erst ca. 5 Monate später zur Entscheidung vorgesehen. Innerhalb dieses Zeitraumes wären Ermittlungen durchaus möglich gewesen. Es bleibt offen, ob im Zeitpunkt des Eingangs des Antrages nach § 109 SGG die Erledigung des Rechtsstreites durch die Einholung eines Gutachtens tatsächlich verzögert worden wäre. Tatsachen, die diese Annahme rechtfertigen, finden sich nicht. Eine Anfrage des SG an die benannten Sachverständigen, wie lange sie für die Erstellung des Gutachtens benötigen, fehlt. Es ist gut denkbar, dass die Gutachten den Beteiligten so rechtzeitig vorgelegen hätten, dass noch vor einem Termin sachgerecht Stellung bezogen werden konnte. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts, kann eben nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Erledigung des Rechtsstreits "unzweifelhaft" verzögert hätte. Hätte die mündliche Verhandlung gleichwohl vertagt werden müssen, hätte dies über § 192 SGG (die dortigen Voraussetzungen unterstellt) sanktioniert werden können.
Eine verspätete Antragstellung aus grober Nachlässigkeit kann nicht angenommen werden. Verspätung aus grober Nachlässigkeit liegt vor, wenn jede zur sorgfältigen Prozessführung erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen worden ist, wenn also nicht getan wird, was jemanden in der betreffenden Situation einleuchten würde (BSG, Urteil vom 27.05.2008 - B 2 U 5/07 R, UV-Recht Aktuell 2008,1091). Das SG hat eine sehr kurze Frist (mindestens 4 Wochen bzw. 1 Monat vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25.09.2003 - L 7 SB 104/02; Keller in: Meyer-Ladewig, a.a.0. Rn 11; Kolmetz, SGb 2004 83, 88 jeweils m.w.N.) gesetzt, ohne die Verfügung zu zustellen (vgl. zum Zustellungserfordernis: LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 08.02.2007 - L 2 KN 236/06). Ungeachtet dessen, das der Kläger bzw. sein Bevollmächtiger die gesetzte Frist versäumt hat, vermag dies keine Verkürzung oder Einschränkung des Antragsrechts des Klägers nach § 109 SGG zu rechtfertigen. Maßstab ist diejenige Sorgfalt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten ist und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war.
Selbst ein erst am 13.05.2009 eingegangener Antrag kann nicht als verspätet angesehen werden. Denn die vom Sozialgericht gesetzte Frist von 4 Wochen war nicht angemessen. Der Antrag nach § 109 SGG darf nur dann mit Hinweis auf eine Fristversäumnis abgelehnt werden, wenn die Frist angemessen gewesen ist. Ob die Frist angemessen gewesen ist, beurteilt sich nach dem Sach- und Rechtsstand zum Zeitpunkt der Fristsetzung. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, ob der Kläger - zum Zeitpunkt der Fristsetzung - bereits über solche Kenntnisse verfügt, die für seine Entscheidung, einen Antrag gem. § 109 SGG zu stellen, von Bedeutung sind. Im Vordergrund steht insoweit die Möglichkeit, das Ergebnis der medizinischen Sachverhaltsaufklärung ausreichend würdigen zu können. Daher beurteilt sich die Angemessenheit einer Frist auch nach Art und Umfang der (bisherigen) medizinischen Beweisaufnahme, die zunächst vom Kläger gewürdigt werden muss. Je komplexer und schwieriger sich die Beweisaufnahme darstellt - etwa bei der Beurteilung von Zusammenhangsfragen - und je mehr Gutachten eingeholt wurden, desto länger muss dem Kläger Zeit gegeben werden, einen Sachverständigen seines Vertrauens zu benennen. Zu beachten ist dabei, dass es dem Kläger regelmäßig nicht ohne Rücksprache mit seinen behandelnden Ärzten möglich sein wird, das Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme zu beurteilen. Soweit der Kläger durch einen Bevollmächtigten vertreten wird, ist weiter zu berücksichtigen, dass allein die Korrespondenz zwischen Gericht, Klägerbevollmächtigten und Kläger - selbst bei unterstellter sofortiger Bearbeitung - bereits mehrere Tage in Anspruch nimmt. Im Weiteren muss der Kläger bzw. in der Regel sein Bevollmächtigter die Frage der Kostentragung klären und letztlich einen geeigneten Sachverständigen finden. Vor diesem Hintergrund ist eine generelle, schematische Fristsetzung von 4 Wochen, wie sie die Verfügung vom 09.04.2008 zu erkennen gibt, nicht geeignet, um den am 13.05.2008 gestellten Antrag, allein mit Hinweis auf eine Fristversäumnis abzulehnen. Denn dem Kläger ist aufgegeben worden, zu zwei Gutachten von Fachärzten, die einen Umfang von 30 bzw. 40 Seiten haben, nicht nur Stellung zu nehmen, sondern zugleich zu entscheiden, ob ein Antrag gem. § 109 SGG gestellt wird. In einem solchen Fall muss eine Frist von 4 Wochen als unangemessen kurz angesehen werden.
Das SG hätte dem wirksam gestellten Beweisantrag des Klägers stattgeben müssen, da keine Ablehnungsgründe nach § 109 Abs. 2 SGG vorliegen. Folglich hat das erstinstanzliche Gericht gegen die Verfahrensvorschriften des § 109 SGG und damit auch gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens (fair trial) (vgl. dazu Keller in: Meyer-Ladewig. aa0. vor § 60 Rdnr 1b mwN.) verstoßen.
Die rechtsfehlerhafte Ablehnung des Beweisantrags nach § 109 SGG stellt einen wesentlichen Verfahrensfehler i.S.d. § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG dar (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteile vom 30.01.2003 - L 7 SB 157/02 und vom 08.02.2007 L 2 KN 236/06; LSG für das Saarland, Urteil vom 18.11.2005 - L 2 U 65/05; Udsching, NZS 1992, 50, 55; Keller in: Meyer-Ladewig a.a.O., § 109 Rn 20).
Der Senat hält es im Rahmen seines Ermessen für sachgerecht und zweckmäßig, die Streitsache an das SG zurückzuverweisen. Denn der Rechtsstreit hätte nach weiterer Beweisaufnahme zu einem anderen Ergebnis führen können. Auch unter Berücksichtigung des Gedankens der Prozessökonomie und des Interesses des Klägers an einer zeitnahen Sachentscheidung überwiegt sein Interesse, die erforderliche Sachaufklärung durch das Instanzgericht in einem fairen Klageverfahren (und erst danach ggf. in einer zweiten Instanz) vornehmen zu lassen. Der Kläger hat durch seinen Hilfsantrag dokumentiert, dass diese Verfahrensweise in seinem Interesse liegt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 Satz 1, 193 Abs. 1 SGG.
Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht; § 160 Abs. 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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