L 10 AS 617/09 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 53 AS 2276/09 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 10 AS 617/09 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin Arbeitslosengeld II in Höhe von 254,00 Euro (Regelleistung) und 326,24 Euro (Kosten der Unterkunft) monatlich – zum 01. Juli angepasst nach Maßgabe der Erhöhung der Regelleistung – vorläufig bis zum 31. Dezember 2009 zu zahlen. Für den Monat Juni erfolgt die Zahlung anteilig ab dem Tage des Zugangs dieses Beschlusses als Telefax bei der Antragsgegnerin.

Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe:

Die 1957 geborene Antragstellerin, die polnische Staatsbürgerin ist und deren Erwerbsfähigkeit außer Zweifel steht, ist nach ihren Angaben abgesehen von den Einkünften aus einer Teilzeitbeschäftigung als Reinigungskraft ohne Einkommen und Vermögen. Seit der Trennung von ihrem Partner im Dezember 2008 lebt sie allein in einer ca. 40 m² großen Wohnung, für die eine Bruttowarmmiete von 332,88 Euro zu entrichten ist. Der Antragstellerin ist eine Bescheinigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) erteilt worden (Bezirksamt Treptow-Köpenick vom 12. Juni 2007) sowie eine Arbeitsberechtigung/EU (Agentur für Arbeit Berlin-Süd vom 05. März 2009). Die Antragstellerin ist seit dem 01. Dezember 2006 durchgängig bei der Firma F F für sieben Stunden wöchentlich als Reinigungskraft bei einem Stundenlohn von Euro beschäftigt (monatliches Nettoentgelt von Euro, das ihr abzugsfrei ausgezahlt wird – Bescheinigung der Firma F vom 15. Dezember 2008).

Die Antragsgegnerin lehnt die Gewährung von Grundsicherungsleistungen ab. Die Antragstellerin sei nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr 2 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) von diesen Leistungen ausgeschlossen, da sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe. Das Sozialgericht (SG) Berlin, das zu einem Zeitpunkt entschieden hat, zu dem die Arbeitsberechtigung/EU noch nicht erteilt war, hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit der Begründung abgelehnt, die Antragstellerin sei nicht erwerbsfähig, da ihr die Aufnahme von Arbeit nicht erlaubt sei und nicht erlaubt werden könne.

Die zulässige (§§ 172, 173 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) Beschwerde ist begründet. Dass die in § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II bestimmtem Voraussetzungen für die Gewährung von Grundsicherungsleistungen iS von § 19 Abs. 1 SGB II und damit ein Anordnungsanspruch gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG (Lebensalter zwischen 15 und 64 Jahren, Erwerbsfähigkeit, Hilfebedürftigkeit, gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet) erfüllt sind, steht fest bzw. kann – bzgl. der Hilfebedürftigkeit – nicht mit der Gewissheit verneint werden, die in einer Hauptsacheentscheidung für eine Klageabweisung notwendig wäre, wobei der Ausschlusstatbestand nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr 2 des SGB II nicht erfüllt ist – dazu (1) –. Diese Situation reicht in Ansehung des grundrechtlichen Schutzes, den die Sicherung des Existenzminimums genießt, zumindest zur Leistungsgewährung im Rahmen einer Folgenabwägung aus, die begehrte einstweilige Anordnung mit den Beschränkungen, die sich aus der Einstweiligkeit der Entscheidung ergeben – dazu (2) – zu erlassen (zu dem Maßstab der Entscheidung, insbesondere zur Folgenabwägung vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 12. Mai 2005 –1 BvR 569/05 - 3. Kammer des Ersten Senats – info also 2005, 166).

(1) Die Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat, ist nicht wegen fehlender rechtlicher Möglichkeit einer (beliebigen) Tätigkeit nachzugehen ausgeschlossen, da ihr eine Arbeitsberechtigung/EU erteilt ist (§ 8 Abs. 2 SGB II). Sie ist nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II (in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S 1970)) von den Leistungen der Grundsicherung ausgenommen. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II schließt diejenigen Ausländer aus, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Dies trifft, auch wenn die Antragstellerin zur Arbeitssuche eingereist sein sollte, für den in Frage stehenden Leistungszeitraum auf sie nicht zu, denn sie ist aufgrund ihrer Beschäftigung bei der Firma F Arbeitnehmerin, für die ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU besteht. Da dieser Status begründet ist, sind die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht erfüllt (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. November 2006 – L 14 B 963/06 AS RdNr 6, 7, zitiert nach juris; LSG NRW, Beschluss vom 30. Januar 2008 – L 20 B 76/07 SO RdNr 15, zitiert nach juris; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, § 7 RdNr 16, 24; Schreiber, info also 2008, 3, 4; Loose - GK/SGB II § 7 Rdnr 31). Der Arbeitnehmerbegriff des § 2 Abs 1, 2 FreizügG/EU ist europarechtlich bestimmt, da die Norm zum Inhalt hat, die den gemeinschaftsrechtlich begründeten Freizügigkeitsrechten entsprechende nationale Regelung zu schaffen (vgl. Hailbronner, ZFSH/SGB, 2009, 195, 200; Huber/Göbel - Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Auflage 2008, RdNr 1407). Arbeitnehmer iSv Artikel 39 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV), der VO 1612/68 bzw der Richtlinie 2004/38/EG (des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mittelstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ABl 2004, L 229, S 35, L 197, S 34, sowie ABl 2007, L 204, S 28) ist eine Person, die eine Tätigkeit in einem Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübt. Der Begriff ist nicht eng auszulegen. Er ist nach objektiven Kriterien bestimmt, die das Arbeitsverhältnis in Ansehung der Rechte und Pflichten der betreffenden Personen charakterisieren und die in ihrer Gesamtheit zu betrachten sind (EuGH, Urteil vom 06. November 2003, Rs C 413/01). Wesentliches Merkmal des Arbeitnehmers ist, dass er Dienste für einen anderen nach dessen Weisung erbringt und dafür eine Gegenleistung/Vergütung erhält. Welchen Umfang die Tätigkeit haben muss – eine Bagatellgrenze – wird in Rechtsprechung und Schrifttum nicht positiv bestimmt (vgl Erfurter Kommentar - Wißmann, Artikel 39 EGV Rndr 7 aE). Es finden sich Einzelaussagen, eine allgemeine Formulierung zur Bestimmung der Untergrenze und die anderen Entscheidungen zugrunde liegenden Sachverhalte geben Anhaltspunkte. Zur Begründung der Arbeitnehmereigenschaft reicht danach eine Teilzeitbeschäftigung aus. Sie muss nicht den Umfang haben, dass aus ihr Einkommen erzielt wird, das im Beschäftigungsgebiet als Minimaleinkommen definiert ist oder angesehen wird (bereits EuGH, Urteil vom 23. März 1982, Rs 53/81) bzw. das den Bezug ergänzender Sozialleistungen nötig macht bzw ausschließt (EuGH, Urteil vom 03. Juni 1986, Rs 139/85). Nationale Geringfügigkeitsgrenzen können zur Abgrenzung nicht herangezogen werden. Die Arbeitnehmereigenschaft kann allerdings nicht durch Tätigkeiten begründet werden, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen (grundlegend EuGH, Urteil vom 23. März 1982 aaO, etwa auch EuGH, Urteil vom 06. November 2003 aaO). In der Rechtsprechung des EuGH ist die Bagatellklausel nicht als erfüllt angesehen worden bei einer von Beginn an zeitlich auf zweieinhalb Monate befristeten (Vollzeit-) Tätigkeit (EuGH, Urteil vom 06. November 2003 aaO), bei einer 30 Wochenstunden umfassenden Tätigkeit eines Rehabilitanden gegen Unterkunft und Taschengeld (EuGH, Urteil vom 07. September 2004 Rs, C 456/02), bei einem Zeitumfang von 12 Wochenstunden (Urteil vom 03. Juni 1986 Rs, 139/85) und auch von 10 Wochenstunden (Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs C 444/93). Zuletzt ist die Arbeitnehmereigenschaft – in diesem Falle auch vom vorlegenden Bundessozialgericht – nicht in Frage gestellt worden bei einer Beschäftigungszeit zwischen 3 und 14 Stunden wöchentlich bei einem Einkommen zwischen 40 und 168,67 Euro (Urteil vom 18. Juli 2007, Rs C 213/05) sowie bei einer "kurzen und nicht existenzsichernden" geringfügigen bzw. einer "wenig als mehr als einen Monat dauernden" Beschäftigung (Urteil vom 04. Juni 2009, Rs C 22/08 verbunden mit C 23/08). Von den nationalen Gerichten hat das LSG NRW eine Tätigkeit im Umfang von 4 Stunden pro Woche bei einem Monatslohn von 160,00 Euro für ausreichend gehalten, die Arbeitnehmereigenschaft zu begründen (Beschluss vom 30. Januar 2008 – L 20 B 76/07 SO) und das LSG Berlin-Brandenburg eine Beschäftigung von 10 Stunden pro Woche bei tariflicher Entlohnung (Beschluss vom 30. Mai 2008 – L 14 B 282/08 AS ER).

Ausgehend von den so zu beschreibenden Zusammenhängen und Wertungen ist es sachgerecht, die Antragstellerin Kraft ihrer Beschäftigung bei der Firma F als Arbeitnehmerin anzusehen. Es handelt sich zweifelsfrei um "echte" abhängige Arbeit gegen Entgelt; zu diskutieren ist allein, ob der Umfang ausreicht. Dabei bietet insbesondere die aufgezeigte Kasuistik, die als sachgerechte Konkretisierung der Unwesentlichkeit erscheint, keinen Anlass, eine Tätigkeit von sieben Wochenstunden gegen ein wohl nicht als unüblich zu bewertendes Entgelt nicht ausreichen zu lassen, zumal die Beschäftigung bereits für einen längeren Zeitraum "stabil" ausgeübt worden ist und eine Bewertung als von untergeordneter Bedeutung gerade im Vergleich zu kurzfristigen Beschäftigungen kaum überzeugen könnte.

(2) Der Antragstellerin sind Leistungen im Umfang von 254,00 Euro (Regelleistung) und 326,24 Euro Kosten der Unterkunft (KdU) – Bedenken gegen die Angemessenheit der Kosten bestehen nicht – (Bruttowarmmiete von 332,88 Euro abzgl. einer Warmwasseraufbereitungspauschale von 6,64 Euro monatlich) vorläufig zu gewähren. Wie dargelegt handelt es sich hier um eine Gewährung im Rahmen einer Folgenabwägung. Zwar entscheidet der Senat die im Vordergrund stehende Rechtsfrage nach der Arbeitnehmereigenschaft der Antragstellerin nicht nur "provisorisch", sondern nach abschließender rechtlicher Würdigung wie sie anlässlich einer Entscheidung durch Urteil im Hauptsacheverfahren erfolgt. Die der Entscheidung zu Grunde liegenden Tatsachen sind indes zum Teil – dies betrifft insbesondere die Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin – nur nach dem im einstweiligen Verfahren geltenden Maßstab der Glaubhaftmachung festgestellt, ein Verwaltungsverfahren, das ihre Feststellung zum Gegenstand gehabt hätte, hat im Hinblick auf die von der Antragsgegnerin herangezogenen Ablehnungsgründe erkennbar nicht stattgefunden. Dass insoweit nicht die für eine Entscheidung in der Hauptsache erforderliche Richtigkeitsgewähr besteht, steht einer Gewährung ohne jede Einschränkung entgegen. Der Senat beschränkt deshalb bei Sachverhalten, in denen im Ergebnis offen ist, ob sich die nicht positiv feststehende(n) Anspruchsvoraussetzung(en) erweisen werden, den zuzusprechenden Teil auf 85 vH (ausführlich unter Darstellung der Abhängigkeit der "Quote" von der Erfolgsprognose Senatsbeschluss vom 19. August 2008 - L 10 B 1481/08 AS ER). Dabei ist es hier sachgerecht, die Begrenzung nur bzgl. der Regelleistung vorzunehmen, da die Antragstellerin mit ihren Ausführungen im Schreiben vom 07. Mai 2009 Zweifel am Vorliegen ihrer Hilfebedürftigkeit weitgehend zerstreuen konnte, wobei es angemessen erscheint der damit günstigen Prognose durch eine Regelung Rechnung zu tragen, die die Entstehung vom Mietrückständen vermeidet. Der Umfang der vorläufig zuzusprechenden Regelleistung (von 254,00 Euro) ergibt sich nach § 11 Abs. 2 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 Nr 6 iVm § 30 Satz 2 Nr 1 SGB II wie folgt: Regelleistung iHv 351,00 Euro abzgl. 52,16 Euro (=298,84) x 85 vH = 254,01 Euro, gerundet nach § 41 Abs 2 SGB II auf 254,00 Euro. Dabei ergibt sich der Abzugsbetrag aus dem Einkommen (165,20 Euro) ermäßigt um die Summe (von 113,04 Euro) aus "allgemeinem Erwerbstätigenfreibetrag" von 100,00 Euro (§ 11 Abs 2 Satz 2 SGB II) zzgl. 13,04 Euro Freibetrag nach § 30 Satz 2 Nr. 1 SGB II (= 65,20 Euro x 20 vH).

Der Senat begrenzt die Verpflichtung im Hinblick auf die Vorläufigkeit des Verfahrens bis zum 31. Dezember 2009 und spricht im einstweiligen Verfahren regelmäßig keine Leistungen für die Vergangenheit zu.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG

Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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