L 11 KR 2434/09 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 14 KR 1561/09 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 2434/09 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 17. April 2009 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die unter Beachtung der Vorschrift des § 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig, aber nicht begründet. Das Sozialgericht Freiburg hat den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zu Recht abgelehnt.

Nach § 86 Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung).

Vorliegend geht es um die Gewährung einer stationären Behandlung, nämlich einer Magenbandoperation nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 i.V.m. § 39 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Damit richtet sich die Gewährung des einstweiligen Rechtsschutzes auf den Erlass einer Regelungsanordnung. Dies verlangt grundsätzlich die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung).

Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens ergeben sich aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG), wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden (BVerfG, Beschluss vom 25.02.2009 - 1 BvR 120/09 - SGb 2009, 291). Die Gerichte müssen in solchen Fällen, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen (vgl. BVerfG NJW 2003, 1236, 1237; BVerfG NVwZ 2004, 95, 96). Dies gilt insbesondere, wenn das einstweilige Rechtsschutzverfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt. Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller eines Eilverfahrens nicht überspannen. Die Anforderungen haben sich vielmehr am Rechtsschutzziel zu orientieren, das der Antragsteller mit seinem Begehren verfolgt (BVerfG NVwZ 2004, 95, 96). Auch im Verfahren der einstweiligen Anordnung gilt der Amtsermittlungsgrundsatz, was die Möglichkeit einer Beweiserhebung einschließt (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 9. Aufl. 2008, § 86b Rn. 16a). Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (so zuletzt BVerfG, Beschluss vom 25.02.2009 - 1 BvR 120/09 - SGb 2009, 291). Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (vgl. BVerfGK 5, 237 (242 f.)).

Ausgehend hiervon hat das SG den Erlass der einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt. Denn auch unter Beachtung der vorgenannten Grundsätze für die Beurteilung eines einstweiligen Rechtsschutzbegehrens fehlt es sowohl an einem Anordnungsgrund als auch an einem Anordnungsanspruch.

Nach den Ermittlungen des SG sowie den vorliegenden medizinischen Unterlagen der Antragsgegnerin ist nicht ersichtlich, dass eine stationäre Magenbandoperation nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse für die Antragstellerin als Krankenhausbehandlung notwendig ist. Denn sie müsste einen Anspruch auf die Naturalleistung unter Berücksichtigung der besonderen, für eine mittelbare Krankenbehandlung maßgeblichen Kriterien haben (so zuletzt BSG, Urteil vom 16. Dezember 2008 - B 1 KR 2/08 R - SGb 2009, 85 sowie BSG, Urteil vom 19. Februar 2003, B 1 KR 1/02 R, SozR 4-2500 § 137 c Nr. 1). Wenn nämlich wie vorliegend durch die Operation in ein funktionell intaktes Organ eingegriffen und dieses regelwidrig verändert wird, wie das bei der Applikation eines Magenbandes geschieht, bedarf die mittelbare Behandlung nach der ständigen Rechtssprechung auch bei einem massiven Übergewicht einer speziellen Rechtfertigung, wobei die Art und Schwere der Erkrankung, die Dringlichkeit der Intervention, die Risiken und der zu erwartende Nutzen der Therapie sowie etwaige Folgekosten für die Krankenversicherung gegeneinander abzuwägen sind. Da das Behandlungsziel einer Gewichtsreduktion auf verschiedenen Wegen erreicht werden kann, ist zunächst zu prüfen, ob eine Krankenhausbehandlung unter Berücksichtigung der Behandlungsalternativen (diätische Therapie, Bewegungstherapie, medikamentöse Therapie, Psychotherapie) notwendig und wirtschaftlich ist (§ 12 Abs. 1, § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Sodann muss untersucht werden, ob nach dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion aus medizinischer Sicht die Voraussetzungen für einen chirurgischen Eingriff in ein gesundes Körperorgan gegeben sind. Dies kommt nur als ultima ratio bei solchen Patienten in Betracht, die eine Reihe von Bedingungen für eine erfolgreiche Behandlung erfüllen (BMI &8805; 40 oder &8805; 35 mit erheblichen Begleiterkrankungen; ausreichende Motivation, keine manifeste psychiatrische Erkrankung, Möglichkeit einer lebenslangen medizinischen Nachbetreuung u.a.).

Dies dürfte bei der Antragstellerin, die sich ihrem eigenen Vortrag zufolge lediglich erfolglos verschiedenen Diäten unterzogen hat, nicht belegt sein. Nach der evidenzbasierten Leitlinie "Chirurgische Therapie der extremen Adipositas" der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie der Adipositas e. V. und der Deutschen Adipositas Gesellschaft e. V. vom 1. Dezember 2006 (Leitlinie-Chirurgie; im Internet derzeit veröffentlicht unter: http://www.adipositas-gesellschaft.de/daten/Leitlinie-Chirurgie.pdf), die bis Dezember 2009 gültig ist (Nr. 1.1. der Leitlinie-Chirurgie), zeigen chirurgische Verfahren zur Behandlung der Adipositas Grad III (BMI &8805; 40) in gut dokumentierten Langzeitergebnissen zwar eine Reduktion der Komorbiditäten und eine deutlich erhöhte Lebensqualität der von der extremen Adipositas betroffenen Menschen. Sie werden daher international als sichere und effektive Maßnahmen anerkannt (Nr. 2 der Leitlinie-Chirurgie). Dies gilt allerdings nicht für die von der Antragstellerin beanspruchte sleeve Gastrektomie (Schlauchmagenbildung). Für diese Form der restriktiven operativen Therapie liegen nach den Leitlinien noch keine Langzeiterfahrungen vor (Nr. 4.1.3 der Leitlinie-Chirurgie). Adipositaschirurgische Maßnahmen sollten außerdem (nur) bei Patienten in Betracht gezogen werden, die einen BMI &8805; 35 kg/m² mit schwerwiegenden Begleiterkrankungen oder einen BMI &8805; 40 kg/m² aufweisen und bei denen konservative Behandlungsmaßnahmen nachweislich nicht erfolgreich waren. Bei den konservativen Verfahren handelt es sich um multimodale, interdisziplinäre und langfristige Therapieprogramme nach Leitlinien der Deutschen Adipositas Gesellschaft e.V. Neben den rein diätetischen Maßnahmen und der Pharmakotherapie sollten auch Bewegungstherapien bei noch ausreichender Mobilität nachgewiesen werden (Nr. 3 der Leitlinie-Chirurgie).

Den Nachweis, dass konservative Behandlungsmaßnahmen in dem oben beschriebenen Sinne erfolglos durchgeführt worden sind, hat die Antragstellerin nicht erbracht. Die von der Deutschen Adipositas Gesellschaft e. V. in der evidenzbasierten Leitlinie "Prävention und Therapie der Adipositas" Version 2007 (Leitlinie-Adipositas; im Internet derzeit veröffentlicht unter: http://www.adipositas-gesellschaft.de/daten/Adipositas-Leitlinie-2007.pdf) unter Nr. 6.4 vorgeschlagene konservative Therapie umfasst ein abgestuftes Vorgehen, das die Antragstellerin schon nach ihrem eigenen Vorbringen nicht durchlaufen hat. Grundlage jedes Gewichtsmanagements sollte danach ein Basisprogramm sein, das die Komponenten Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie umfasst. Ein Programm zum Gewichtsmanagement sollte zwei Phasen beinhalten. In der 1. Phase steht die Gewichtsreduktion im Vordergrund. Die 2. Phase dient der Gewichtserhaltung mit langfristiger Ernährungsumstellung mit einer ausgewogenen Mischkost, wie sie von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung empfohlen wird, d.h. fettmoderat, polysaccharid- und ballaststoffreich und mit einem Energiegehalt, der eine Stabilisierung des Körpergewichts ermöglicht. Nach den Angaben der Universitätsklinik F., in welcher der Eingriff vorgenommen werden soll, seien eine Vielzahl von Abnehmversuchen ohne dauerhaften Erfolg geblieben. Diese Ausführungen beruhen aber ausschließlich auf den Angaben der Klägerin im Rahmen der Anamneseerhebung (Arztbrief Prof. Dr. W. vom 20. November 2007). Persönliche Abnehmversuche stellen aber nicht einmal ansatzweise eine konservative Behandlungsmaßnahme im oben beschriebenen Sinn dar. Erforderlich hierfür ist ein planvolles, strukturiertes, ärztlich dokumentiertes Vorgehen.

Auch sind an das mit dem Wahleingriff verbundene Operationsrisiko strenge Maßstäbe anzulegen, es darf in keinem Fall die bei ähnlichen Wahleingriffen bekannten Risiken überschreiten. Die Patienten müssen ausreichend motiviert und vollständig über die chirurgischen Verfahren, ihre Risiken und langfristigen Konsequenzen des Eingriffs aufgeklärt sein (informedconsent). Dazu ist in der Regel eine mehrfache Beratung erforderlich. Eine fehlende Compliance des Patienten kann zu lebensbedrohlichen Komplikationen nach adipositaschirurgischen Eingriffen führen (6.4.7. der Leitlinie-Adipositas). Im vorliegenden Fall ist deshalb zu berücksichtigen, dass angesichts der kardiovaskulären Diagnosen auch ein erhöhtes Operationsrisiko bestehen dürfte.

Es fehlt auch an einem Anordnungsgrund, da die Antragstellerin keine Umstände glaubhaft gemacht hat, die hier ein Abwarten der Hauptsacheentscheidung unzumutbar machen würden. Das Gewicht der Antragstellerin wie auch ihr übriger Gesundheitszustand scheinen seit September 2007 unverändert zu sein. Die Antragstellerin hat im September 2007 einmalig einen diagnostischen Kontakt mit der Universitätsklinik F. zur Abklärung möglicher Kontraindikationen für eine Operation am Magen aufgenommen und hat nach dem Arztbericht der Sektion Ernährungsmedizin und Diätetik des Universitätsklinikums F. die Ernährungsberatung auch allein wegen des Anstrebens operativer Verfahren aufgesucht. Was sie seither im Hinblick auf eine Gewichtsreduktion bzw. ihr angeratenen Therapien unternommen hat, hat sie nicht belegt und nicht glaubhaft gemacht.

Bereits dies belegt, dass keine Dringlichkeit für die begehrte Operation besteht. Auch Anhaltspunkte für eine hier gebotene grundrechtsorientierte Auslegung ( vgl. z.B. im Anschluss an BVerfG SozR 4-2500 § 27 Nr 5) sind nicht ersichtlich. Die verfassungskonforme Auslegung setzt u.a. voraus, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende (vgl. BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 4,) oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt (vgl. BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 7). Daran fehlt es bei der Antragstellerin. Mit dem Kriterium einer Krankheit, die zumindest mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung in der Bewertung vergleichbar ist, ist eine strengere Voraussetzung umschrieben, als sie etwa mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung für die Eröffnung des sog Off-Label-Use (vgl. dazu BSG SozR 3-2500 § 31 Nr 8) formuliert ist (vgl. BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 8 und SozR 4-2500 § 27 Nr. 10). Einen solchen Schweregrad erreicht die Erkrankung der Klägerin nach dem gesamten Vorbringen nicht. Das gilt auch vor dem Hintergrund, dass die Folgeerkrankungen der Antragstellerin möglicherweise zunehmen, denn diese sind und werden zunächst einmal konservativ und nicht mittelbar durch eine Operation an einem gesunden Organ zu behandeln und begründen deswegen für sich genommen noch keine dringende OP-Indikation. Der Antragstellerin ist es daher zuzumuten, zunächst den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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