L 3 R 25/07

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Stendal (SAN)
Aktenzeichen
S 2 R 74/05
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 3 R 25/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Erwerbsminderung, Gerichtsbescheid
Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stendal vom 11. November 2006 auf-gehoben und die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander in beiden Rechtszügen keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob dem Kläger – wie das Sozialgericht ent-schieden hat – ein Anspruch auf Bewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminde-rung auf Dauer zusteht.

Der am 1968 geborene Kläger durchlief nach Beendigung der Schulausbildung von September 1983 bis Februar 1985 eine Berufsausbildung zum Betonbauhelfer und war in der Folgezeit bis Februar 1990 als Produktionsarbeiter – unterbrochen durch Haftstrafen von acht Monaten im Jahr 1986 und von 18 Monaten 1987/1988 – versi-cherungspflichtig beschäftigt. In der Folgezeit war er – unterbrochen durch Zeiten der Arbeitslosigkeit – als Pflasterer, Hilfs- und Forstarbeiter tätig. Von 1993/1994 bis 1997 befand er sich erneut in Haft und in anschließendem Maßregelvollzug wegen schwerer Körperverletzung und ärztlich attestierter Aggressivität unter Alkoholeinfluss. Von 1998 bis 1999 war der Kläger dann nochmals als Bauhelfer tätig, von 1999 bis 2002 arbeits-los und von Juli 2002 bis November 2004 mit Unterbrechungen als Sicherungsposten und Gleisbauhelfer versicherungspflichtig beschäftigt. Seitdem ist der Kläger arbeitslos bzw. arbeitsunfähig erkrankt. Er bezieht Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialge-setzbuch (Grundsicherung für Arbeitssuchende – SGB II).

Von der Unfallkasse Sachsen-Anhalt erhält er Unfallrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 v.H. seit dem 1. Januar 1998 wegen eines am 7. Dezember 1992 als Forstarbeiter erlittenen Unfalls (Zustand nach körperfernem Unterschenkelbruch, Versorgung mit statischem Verriegelungsnagel unter späterer Metallentfernung).

Am 10. Oktober 2003 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Bewilligung von Rente wegen Gelenkschmerzen; er könne nur noch Arbeiten im Wechsel von Stehen und Sitzen verrichten.

Die Beklagte zog zunächst den Rehabilitationsentlassungsbericht der Klinik Sch. S. vom 28. September 2001 über den dortigen Aufenthalt des Klägers vom 19. Juli bis 14. September 2001 bei. Dort waren die Diagnosen der Alkoholabhängigkeit und des Zustands nach Sprunggelenkfraktur genannt. Für die letzte Tätigkeit als Bauhelfer bestehe aufgrund der Einschränkungen nach Sprunggelenkfraktur rechts ein aufgeho-benes Leistungsvermögen. Mittelschwere Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung, vorwiegend im Sitzen, seien vollschichtig zumutbar. Zu vermeiden seien Zwangshal-tungen, Knien und Hocken, häufiges Tragen und Heben ohne Hilfsmittel sowie Tätig-keiten mit Absturzgefahr. Sodann holte die Beklagte einen Behandlungs- und Befund-bericht von dem Facharzt für Orthopädie Dr. W. vom 27. Oktober 2003 ein, der den Kläger zuletzt zwei Jahre zuvor wegen Beschwerden im Bereich des Hüftgelenkes sowie Wetterfühligkeit und Schwellneigung bei längerer Belastung im rechten Fuß behandelt hatte. Dieser fügte das Zweite Rentengutachten von Prof. Dr. W. vom 10. August 2003 für die Unfallkasse Sachsen-Anhalt bei. Danach bestünden als Unfallfol-gen Operationsnarben, eine Gangstörung, eine Bewegungseinschränkung im Bereich des oberen und unteren Sprunggelenkes rechts mit Muskelminderung am rechten Bein (Umfangsdifferenz von bis zu 1 cm) und eine radiologisch erkennbare posttraumati-sche, schon fortschreitende Arthrose im oberen Sprunggelenk rechts sowie eine Kalksalzminderung als Hinweis auf eine chronische Minderbelastung des rechten Beines. Die MdE betrage 20 v.H. Der Kläger sei mit einer Abrollhilfe im Schuh versorgt und komme damit nach seinen Angaben gut zurecht; auch seine Arbeit als Siche-rungsposten im Wechsel von Stehen und Sitzen habe er als zumutbar angegeben.

Im Rahmen eines ebenfalls anhängigen Verwaltungsverfahrens zur Feststellung von Teilhabeleistungen erstattete die Fachärztin für Orthopädie/Rheumatologie und Chefärztin in der KMG E.klinik B. W. GmbH Dr. R. gemeinsam mit der Stationsärztin S. für die Beklagte unter dem 24. Februar 2004 ein fachorthopädisches Gutachten. Der Kläger habe ein links überhängendes Gangbild sowie einen rechts hinkenden Zehen- und Fersengang gezeigt. Sie stellte als Diagnosen eine posttraumatische Arthrose des rechten oberen Sprunggelenkes nach Arbeitsunfall 1992 sowie ein chronisch rezidivie-rendes Lumbalsyndrom mit ISF-Reizung links (Reizung im Bereich der Ileo-Sakral-Fuge) fest. Als Gleisbauhelfer sei der Kläger nicht mehr vollschichtig einsetzbar, als reiner Sicherungsposten mit Wechsel von Sitzen, Gehen und Stehen könne er sechs Stunden und mehr täglich arbeiten. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seien leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten unter Vermeidung von häufigem Heben, Tragen und Bewegen von Lasten über 15 kg, Zwangshaltungen und einseitigen Belastungen sechs Stunden und mehr täglich möglich. Leistungen zur Teilhabe im Sinne einer Rehabilitationsmaßnahme zur Linderung der Lendenwirbelsäulen-(LWS-) /ISF-Beschwerden seien zu empfehlen.

Daraufhin absolvierte der Kläger auf Veranlassung der Beklagten eine Rehabilita-tionsmaßnahme in der Rehabilitationsklinik G. vom 8. bis zum 29. April 2004. Ausweis-lich des Entlassungsberichtes vom 19. Mai 2004 leide der Kläger unter einem Gelenk-schmerz im Knöchel und im Fuß, an einer Lumboischialgie und einer Adipositas (101 kg/191 cm Größe). In der sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung werden die Tätigkeit als Gleisbauer drei bis unter sechs Stunden täglich für gesundheitlich zumut-bar erachtet und leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes auch überwiegend im Stehen, Gehen und Sitzen in allen Schichten für möglich gehalten. Wegen der Funktionseinschränkung des Sprunggelenkes seien häufiges Hocken oder Knien, Treppensteigen, Leitern- oder Gerüststeigen nicht mehr zumutbar.

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag des Klägers mit Bescheid vom 17. Juni 2004 ab. Zwar sei die Erwerbsfähigkeit durch Gelenkschmerzen im Knöchel und im Fuß sowie durch eine Lumboischialgie und Adipositas beeinträchtigt. Gleichwohl könne der Kläger noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allge-meinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein. Hiergegen legte der Kläger am 28. Juni 2004 Widerspruch ein. Aufgrund der deutlichen Schmerzsymptomatik sei seine Lebensquali-tät erheblich beeinträchtigt und er könne nur maximal zwei Stunden täglich arbeiten. Darüber hinaus bestünden wegen der Schmerzen Beeinträchtigungen der Merk- und Konzentrationsfähigkeit, Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfreiheit sowie erhöhte Reiz- und Erregbarkeit, durch die sich soziale Anpassungsschwierigkeiten ergäben.

Daraufhin holte die Beklagte ein Gutachten von der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. M. vom 28./29. Oktober 2004 ein. Dort ist in der Anamnese aufgeführt, dass der Kläger seit dem 6. September 2004 als Vorarbeiter im Gleisbau elf Stunden pro Woche arbeite. Seit dem teilstationären Aufenthalt in der Tagesklinik S. mit nachfolgender Langzeittherapie in Sch. lebe er im Hinblick auf Alkohol abstinent. Er neige wegen der ständigen Schmerzen im rechten Fuß nach Fraktur und wegen der Schmerzen in der Lendenwirbelsäule mit Ausstrahlung in beide Beine unter Schweiß-ausbrüchen, Übelkeit, Schwindel, Schlafstörungen, schneller Reizbarkeit, verminderter Steuerungsfähigkeit, Unzufriedenheit und Neigung zu aggressiven Verhaltensweisen. Es bestehe eine leichte bedrückte Stimmung sowie eine ständige innere Unruhe verbunden mit Antriebs-, Lust- und Interessenminderung. Die Gutachterin stellte eine durchschnittliche Intelligenz sowie leichte Beeinträchtigungen im Bereich der Kon-zentrations- und Merkfähigkeit, Aufmerksamkeit und des Ausdauervermögens fest. Anhaltspunkte für das Vorliegen von paranoidem Denken, Wahrnehmungsstörungen und Ich-Störungen hätten nicht bestanden. Als Diagnosen nannte sie:

1. Depressive Anpassungsstörung. 2. Neigung zu explosiblen aggressiven Verhaltensauffälligkeiten bei kombinierter Persönlichkeitsstörung. 3. Chronischer Alkoholismus, zurzeit abstinent. 4. Posttraumatische Arthrose des rechten oberen Sprunggelenkes nach Arbeitsunfall 1992. 5. Chronisch-rezidivierendes Lumbalsyndroms, zurzeit ohne sichere sensomotori-sche Ausfallsymptomatik.

Aus neuropsychiatrischer Sicht könne der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einfache bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten ohne besondere Anforderungen an Konzentration, Aufmerksamkeit und Schnelligkeit sechs Stunden und mehr täglich verrichten.

Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 26. Januar 2005 als unbegründet zurück. Die im Widerspruchsverfahren durchgeführ-ten medizinischen Ermittlungen hätten das dem Bescheid vom 17. Juni 2004 zugrunde liegende Leistungsvermögen bestätigt.

Hiergegen hat der Kläger am 25. Februar 2005 Klage beim Sozialgericht Stendal erhoben, ohne die Klage näher zu begründen oder einen konkreten Klageantrag zu stellen. Das Sozialgericht hat einen Behandlungs- und Befundbericht von dem Fach-arzt für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. L. vom 13. Mai 2005 eingeholt. Der Kläger habe ihm gegenüber angegeben, nur noch 15 Stunden in der Woche arbeiten zu können. Sodann hat das Sozialgericht die Epikrise des AWO Fachkrankenhauses J. vom 2. Juni 2005 über den stationären Aufenthalt des Klägers vom 13. April bis zum 3. Juni 2005 beigezogen. Dort sind von der Chefärztin Dr. Z. folgende Diagnosen genannt:

1. Somatisierungsstörung. 2. Mittelgradige depressive Episode. 3. Emotional instabile Persönlichkeitsstörung: Impulsiver Typ. 4. Psychische und Verhaltensstörungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen: Abhängigkeitssyndrom. 5. Posttraumatische Arthrose sonstiger Gelenke: Knöchel und Fuß. 6. Läsionen der Lumbosakralwurzeln.

Hinsichtlich des psychischen Befundes werden die Stimmung als gedrückt, eine affektiv eingeschränkte Schwingungsfähigkeit, ein auf die körperliche Problematik eingeengtes Denken, ein verminderter Antrieb, jedoch keine Konzentrations- oder mnestischen Störungen und keine Wahrnehmungsstörungen beschrieben. Die Magnet-resonanztomographie (MRT) der LWS vom 18. April 2005 ist dahingehend ausgewertet worden, dass in den Segmenten L 4/5 und L 5/S 1 allenfalls minimale Bandschei-benprotrusionen ohne Irritationen neuronaler Strukturen und keine primäre oder sekundäre Spinalstenose nachzuweisen seien. Im Zentrum der Behandlung habe die ausgeprägte Somatisierungsstörung des Klägers gestanden. Die große Bandbreite der verschiedenen psychosomatischen Beschwerden habe "in verblüffender Weise" rasch gewechselt und sei von einem großen Bedürfnis nach Zuwendung begleitet gewesen. Zum Ende der stationären Behandlung habe die Therapiemotivation abgenommen, was zu teilweisem Nichteinhalten des Therapieprogramms geführt habe. Versuche der Konfrontation und Klärung seien vom Kläger weit von sich gewiesen und kaum zugelassen worden. Dies sei als Enttäuschung der Hoffnungen auf Unterstützung seines Rentenbegehrens verstanden worden. Nach mehreren behandlungsverzögern-den Krisen mit erheblicher Symptomverstärkung habe der Kläger nach deutlicher Stabilisierung von Stimmung und Antrieb sowie Reduzierung der Somatisierungsstö-rungen aus der stationären Behandlung entlassen werden können. Bei Nichtfortführung der tagesklinischen Behandlung sei der Kläger als arbeitsfähig anzusehen.

Nachdem das Sozialgericht Dr. B. von den Asklepios Kliniken Sch. in S. mit der Begutachtung des Klägers beauftragt hatte, hat die Ärztin für Psychiatrie und Oberärz-tin im Fachkrankenhaus U. M. dem Sozialgericht unter dem 15. August 2005 mitgeteilt, den Kläger vom 7. Juni bis zum 8. August 2005 zum wiederholten Male teilstationär behandelt zu haben. Der Kläger sei ihr langjährig bekannt und befinde sich jetzt in einem erschreckend desolaten Zustand. Er leide seit seiner Kindheit an einer hyperki-netischen Störung des Sozialverhaltens, später verbunden mit einer sekundären Alkoholabhängigkeit. In den letzten Jahren sei ein multipler Substanzmissgebrauch hinzugetreten, insbesondere von Schmerz- und Aufputschmitteln, wodurch eine anhaltende kognitive Beeinträchtigung entstanden sei. Die von ihm geklagten Kon-zentrations- und Gedächtnisstörungen spiegelten sich in dem von ihr erhobenen psychologischen Befund wider. Aktuell habe sie ihm aufgrund der Erkrankung das Führen eines Kraftfahrzeuges untersagt. Auch unter Benutzung öffentlicher Verkehrs-mittel sei ihm allenfalls die Überwindung geringer Strecken zuzumuten. Auf ihren Rat hin habe er am 27. Juni 2005 einen neuerlichen Rentenantrag bei der Beklagten gestellt. Frau M. hat psychologische Befunde der Diplompsychologin D. vom 18. und 21. Juli 2005 beigefügt, welche den Verdacht auf das Vorliegen einer cerebralen Insuffizienz und einer schweren Konzentrationsstörung bei guter Motivation zur Testdiagnostik gezeigt hätten. Sodann hat das Sozialgericht einen Behandlungs- und Befundbericht von Frau M. vom 7. September 2005 und den Entlassungsbericht vom 16. August 2005 über die stationäre Behandlung vom 7. Juni bis 8. August 2005 beigezogen. Nach Einschätzung von Frau M. habe sich der Gesundheitszustand des Klägers erheblich verschlechtert und er sei seit dem 22. April 2005 arbeitsunfähig.

Nachdem der Kläger am 15. Juni 2005 einen neuerlichen Rentenantrag gestellt hatte, hat die Beklagte einen Bericht von Frau M. vom 5. Juli 2005 beigezogen, in dem diese u.a. ausführte, durch die Rechtsstreitigkeiten mit dem Rentenversicherungsträger habe sich der Kläger gezwungen gesehen, wieder eine Arbeit aufzunehmen, und sich dabei so überfordert gefühlt, dass er wahllos Tabletten und Getränke mit Aufputschmitteln zu sich genommen hatte, bis dies zu einem psychischen und physischen Zusammenbruch geführt habe. Bei der Ausprägung des Krankheitsbildes hätte auch eine hirnorganische Schädigung durch multiplen Substanzmissgebrauch eine Rolle gespielt. Die Beklagte hat mit Bescheid vom 11. Oktober 2005 den neuerlichen Rentenantrag abgelehnt und die Rechtsmittelbelehrung erteilt, der Bescheid werde gemäß § 96 Sozialgerichtsge-setz (SGG) Gegenstand des anhängigen Sozialgerichtsverfahrens.

Sodann hat das Sozialgericht ein Gutachten von dem Facharzt für Psychiatrie und Neurologie Dr. S. vom 25. April 2006 eingeholt. Der Sachverständige hat ein durch rechtsbetontes Schonhinken geprägtes Gangbild bei Beweglichkeitseinschränkung des rechten Sprunggelenkes und eine damit verbundene Abrollbehinderung festgestellt. Das Lasègue-Zeichen sei beidseits bei 70 bis 80 Grad positiv gewesen; eine geltend gemachte Hypästhesie im rechten Bein sei nicht klar abgrenzbar gewesen. Die vegetativen Symptome hat der Gutachter als weitgehend ausgeglichen beurteilt; anderweitige neurologische Auffälligkeiten seien nicht feststellbar gewesen. Bei der Exploration sei der Kläger bewusstseinsklar und orientiert gewesen; der Kontakt habe schnell hergestellt und die gestellten Fragen flüssig beantwortet werden können. Schwierigkeiten habe der Kläger dabei gehabt, komplexe Zusammenhänge umfassend zu beschreiben. Die Stimmung sei bedrückt, klagsam, auch ängstlich gereizt, zeitweise resigniert gewesen. Die emotionale Schwingungsfähigkeit und affektive Modulationsfä-higkeit hätten sich eingeengt dargestellt, wobei der depressive Affekt nur wenig zu erkennen gewesen sei. Die Psychomotorik sei intakt, zeitweise hektisch-unkonzentriert, dann wiederum eher lahm und verlangsamt gewesen. Die hyperkineti-schen Symptome während der Gespräche werden als weitgehend kompensiert beurteilt. Die Intelligenz habe im Normbereich gelegen, die Konzentrationsfähigkeit und das Anpassungsvermögen hätten etwas herabgesetzt gewirkt. Die Testergebnisse hätten eine leichte kognitive Beeinträchtigung ohne mnestische Störungen gezeigt. Urteils- und Kritikfähigkeit hätten, vor allem die eigenen Belange betreffend, etwas herabgesetzt gewirkt. Der Kläger habe eine psychische Fehlentwicklung im Rahmen einer primären Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen Verhaltensweisen, hyperkinetischen Störungen, Störungen des Sozialverhaltens und der Neigung zu Somatisierungsstörungen mit somatoformen Beschwerden gezeigt. Ferner bestehe eine Suchtstruktur mit unterschiedlichen Suchtzielen (Alkohol, Medikamente, Energy-Drinks usw.).

Diagnostisch handele es sich um komplexes Krankheitsgeschehen mit psychischer und körperlicher Morbidität. Nach Erlangung der Alkoholabstinenz hätten sich andere Suchtfelder gezeigt und es seien depressive Verstimmungszustände, somatoforme Störungen, teilweise auf dem Boden körperlicher Symptome (komplizierte Fraktur des rechten Sprunggelenkes) entstanden. Die sich hieraus ergebende psychische Fehl-entwicklung habe in einer Eskalation der komplexen Beschwerden, im Rentenbegeh-ren und in akuten Verstimmungszuständen mit latenter Suizidalität geendet. Eine Trennung zwischen den körperlichen und geistigen Bereich sei nicht möglich, da zwischen beiden deutliche Wechselwirkungen bestünden. Den komplexen Symptomen sei ein echter Krankheitswert zuzusprechen. Die Symptome und die geklagten Be-schwerden könnten nur in begrenztem Maße durch zumutbare Willensanstrengungen überwunden werden. Sie entzögen sich weitgehend dem Willen, zumal sie für die Betroffenen ein unverzichtbares Kompensationsmittel bei der Bewältigung darstellen würden bis hin zur Herausbildung eines Rentenbegehrens. Wesentlich sei, dass die psychische Belastbarkeit für die Bewältigung einer neuen Arbeitssituation beim Kläger nicht mehr gegeben sei. Obwohl der Kläger in der Untersuchungssituation bei der Beschreibung seiner Beschwerden zu aggravierendem Verhalten geneigt habe, sei dies der Angst, dass seine Beschwerden und Symptome nicht ausreichend erkannt und akzeptiert werden könnten, geschuldet.

Der Kläger könne nur noch leichte körperliche Arbeiten im Wechsel der Haltungsarten unter Ausschluss von Akkord- und Fließbandarbeit, Zwangshaltungen und Wechsel-schichten verrichten. Auch Tätigkeiten mit Überkopfarbeiten, gebückter Haltung, an Maschinen mit besonderer Verletzungsgefahr, auf Leitern und Gerüsten sowie unter Lärm und Stress seien zu vermeiden. Zumutbare Arbeiten könne er nur noch unter drei Stunden täglich verrichten. Er sei nicht hinreichend in der Lage, über einen längeren Zeitraum eine Arbeitssituation zu bewältigen und sich in einen Arbeitsablauf zu integrieren. Auch die üblichen Ruhepausen würden nicht ausreichen, um die nach zwei bis drei Stunden erreichte Erschöpfung auszugleichen. Auch eine Tätigkeit als Produk-tionsarbeiter, Sortierer und Verpacker kleiner Teile könne er nur bis zu drei Stunden täglich verrichten. Der Zustand könne unter Beachtung des Entlassungsberichtes der Psychiaterin Dr. M. vom 16. August 2005 ab 1. Juli 2005 als gegeben erachtet werden. Es bestehe wenig begründete Aussicht, dass der Gesundheitszustand in absehbarer Zeit behoben sein könne. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass der Kläger in den letzten zwölf Monaten mit Unterbrechungen fast ein halbes Jahr lang in stationärer und teilstationärer Behandlung gewesen sei. Eine weitere intensive ambulante Behandlung, psychosoziale Beratungen, die Teilnahme an Selbsthilfegruppen sowie die Fortführung der Enthaltsamkeit bezüglich des Alkohols und anderer Suchtmittel sei notwendig. Die therapeutischen Möglichkeiten seien leider weitestgehend ausgeschöpft; erst in einer weiteren längeren Erholungsphase sei mit einer Gesamtbesserung des Zustandsbildes zu rechnen. Der Kläger könne mit einer Pause viermal täglich mindestens 500 Meter zu Fuß zurücklegen und sei auch in der Lage, ein Fahrrad und ein öffentliches Ver-kehrsmittel zu benutzen; derzeit sei seine Fahrtauglichkeit für einen Pkw durch die Einnahme der Medikamente beeinträchtigt.

Der Sachverständige weiche von dem Gutachten von Dr. M. ab, da sie die psychischen Hintergründe, die somatoformen Beschwerden und die depressiven Verstimmungszu-stände nicht berücksichtigt habe, obwohl diese damals bereits teilweise schon bestan-den hätten. Zudem habe sich die Beschwerdekonstellation im Zeitraum danach offensichtlich verdichtet und sei komplexer geworden. Er hat ferner ausgeführt, dass ein anderer Gutachter seines Fachgebietes möglicherweise auch zu anderen Ergeb-nissen gelangen könnte.

Die Beklagte hat sich mit dem Gutachten von Dr. S. nicht einverstanden erklärt. Die Beschränkung auf körperlich leichte Arbeiten sei nicht nachvollziehbar; aus fachortho-pädischer Sicht seien auch mittelschwere Arbeiten zumutbar. Im Gutachten fehlten Angaben zur derzeitigen familiären Situation, zu Alltagsaktivitäten, zur Freizeitgestal-tung und zur derzeitigen Berufstätigkeit; insoweit werde lediglich mitgeteilt, dass der Kläger sich während seines 1-Euro-Jobs als Deichwache an der Elbe überfordert gefühlt habe. Er nehme die verordneten Medikamente nur unregelmäßig ein; deshalb könne nicht davon ausgegangen werden, dass die therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft worden seien. Nachvollziehbare Gründe für die beschriebene Symptom-verschlechterung seit Juli 2005 seien nicht angegeben, eine abschließende Plausibili-tätsprüfung sei nicht vorgenommen worden. Zwar habe der Kläger ein Schonhinken rechts gezeigt; umschriebene Muskelathrophien, die bei ständigem Schonhinken zu erwarten seien, habe der Gutachter aber nicht gefunden. Zudem wären die Angaben bezüglich der erheblichen Schmerzsymptomatik und der unregelmäßigen Medikamen-teneinnahme zu hinterfragen gewesen. Die Beklagte hat beantragt, den Sachverstän-digen mit der Stellungnahme zu konfrontieren und dessen ergänzende Meinung einzuholen.

Das Sozialgericht Stendal hat ohne weitere medizinische Ermittlungen nach Durchfüh-rung eines Erörterungstermins am 4. Juli 2006, in dem es darauf hingewiesen hat, durch Gerichtsbescheid gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden zu wollen, die Beklagte mit Gerichtsbescheid vom 11. Dezember 2006 unter Aufhebung des Bescheides vom 17. Juni 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2005 sowie des Bescheides vom 11. Oktober 2005 verurteilt, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer ab dem 1. Juli 2005 zu gewähren. Zur Überzeugung des Gerichts bestehe beim Kläger ein komplexes Krankheitsgesche-hen im Rahmen einer psychischen Fehlentwicklung und einer primären Persönlich-keitsstörung mit Verhaltensstörung, depressiven Verstimmungen und somatoformen Schmerzstörungen. Die wesentliche Haupteinschränkung des Klägers bestehe darin, dass die psychische Belastbarkeit für die Bewältigung einer neuen Arbeitssituation nicht mehr gegeben sei. Darüber hinaus leide der Kläger an einer komplizierten Sprunggelenksfraktur. Aufgrund dessen sei er nur noch in der Lage, leichte körperliche Arbeiten im Wechsel der Haltungsarten und Ausschluss von Akkord- und Fließarbeit, Zwangshaltungen und Wechselschichten sowie weiteren qualitativen Einschränkungen zu verrichten. Dies ergebe sich aus dem Gutachten von Dr. S. vom 25. April 2006.

Die von der Beklagten gegen das Gutachten vorgebrachten Einwände seien nicht stichhaltig. Sie ließen eine Gesamtschau der qualitativen Leistungseinschränkungen vermissen, räumten zugleich aber eine erhebliche Verschlechterung der Symptomatik im Juli 2005 ein.

Es könne dahinstehen, ob der Kläger noch in der Lage sei, unter drei Stunden täglich zu arbeiten oder ob er noch sechs Stunden und mehr täglich tätig sein könne. Für die Tatsache, dass er nur noch ein unter dreistündiges Leistungsvermögen besitze, sprächen die schlüssigen Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. S ... Hierzu tendiere das Gericht. Es stehe fest, dass der Kläger mit seinem Leistungsver-mögen nicht einmal mehr durchschnittlichen Anforderungen genüge, die an einem Arbeitnehmer bei Eingehung eines Arbeitsverhältnisses gestellt würden. Das Gericht sei überzeugt, dass kein Arbeitgeber den Kläger in Kenntnis der Tatsache, dass er nicht in der Lage sei, eine Arbeitssituation zu bewältigen und sich in einem Arbeitsab-lauf zu integrieren, den Kläger einstellen würde. Der Kläger sei offensichtlich nicht in der Lage, seinen arbeitsvertraglichen Verpflichtungen in normalem Umfang nachzu-kommen. Der Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung liege seit dem 30. Juni 2005 vor. Es sei unwahrscheinlich, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden könne. Nach den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen machten es schwerwiegende medizinische Gründe unwahrscheinlich, dass die Erwerbsminde-rung bei dem Kläger behoben werden könne, sodass die Rente als Dauerrente zu leisten sei.

Gegen den ihr am 21. Dezember 2006 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 12. Januar 2007 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Die Beklagte bemängelt zunächst erneut, dass ihre Einwände gegen das Gutachten von Dr. S. diesem nicht zur ergänzenden Stellungnahme zugeleitet worden sind. Dr. S. habe selbst in seinem Gutachten darauf hingewiesen, dass ein anderer Fachgutachter seines Fachgebiets möglicherweise auch zu anderen Ergebnissen gelangen könnte, da die Betrachtung des komplizierten Bedingungsgefüges bei der Gewichtung und Wertung der komplexen psychischen und körperlichen Hintergründe des Krankheitsge-schehens im gewissen Maße subjektiven Faktoren des Gutachters unterläge. Auch habe sich die Kammer offensichtlich der Feststellung des quantitativen Leistungsver-mögens nicht vollumfänglich anschließen können, denn ansonsten hätte sie sich zur Begründung der vollen Erwerbsminderung nicht auf die fehlende Fähigkeit des Klägers berufen müssen, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes arbeiten zu können. Insoweit habe das Gericht in den Entscheidungsgründen aber auch nicht deutlich gemacht, ob es vom Tatbestand einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen ausgehe. Ein solcher Summierungstatbestand liege nach Auffassung der Beklagten jedoch nicht vor, da der Kläger noch in der Lage sei, sechs Stunden und mehr täglich körperlich leichte Arbeiten zu verrichten. Eine erneute psychiatrische Begutachtung werde für erforderlich gehalten.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stendal vom 11. November 2006 auf-zuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Er hat sich zunächst zur Berufung der Beklagten nicht geäußert.

Das Sozialgericht hat einen Behandlungs- und Befundbericht der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. N. vom 3. Oktober 2007 eingeholt. Danach leidet der Kläger an Angstzuständen, Alpträumen und Existenzängsten. Er habe Angst, unter Menschen zu sein. Zu Hause sitze er vor dem Fernsehapparat und am Computer und fange an zu trinken. Dr. N. hat den Entlassungsbericht der S. GmbH Fachkrankenhaus U. vom 22. März 2006 über die stationären Aufenthalte des Klägers vom 18. Oktober bis 22. November 2005 sowie vom 30. November bis 29. Dezember 2005 übersandt. Die stationäre Einweisung zum 18. Oktober 2005 sei wegen eines schwergradigen depres-siven Einbruchs mit Grübeln über die Vergangenheit, erheblichen Zukunftsängsten sowie massiven Rückzugstendenzen zustande gekommen. Die Wiedereinweisung am 30. November 2005 sei wegen eines anhaltenden schweren psychomotorischen Erregungszustands im Zusammenhang mit dem massiven Missbrauch von Energy-Drinks notwendig geworden. Zum Therapieverlauf des ersten Aufenthaltes wird mitgeteilt, dass die Kommunikation mit dem auf seine Beschwerden fixierten Kläger recht schwierig gewesen sei; therapeutische Aktivierungsversuche seien von ihm als "unfreundlicher Akt" interpretiert worden in dem Sinne, dass man ihm die körperlichen Beschwerden bzw. seine depressive bedingte Leistungsschwäche nicht glaube. Nach mehreren erfolgreichen Belastungserprobungen und einer teilweisen Besserung und Stabilisierung sei der Kläger dann mit der Empfehlung weiterer tagesklinischer Thera-pie entlassen worden. Während des zweiten Aufenthaltes habe er eine arbeitsthera-peutische Belastungserprobung in der Druckerei der Einrichtung erhalten und sei nach einer weiteren Besserung und Stabilisierung, soweit dies bei Beschwerdefixierung und Berentungswunsch möglich sei, entlassen worden.

Ferner hat der Senat einen Behandlungs- und Befundbericht von Frau M. vom 12. Juni 2008 eingeholt. Nach der Entlassung aus der stationären Behandlung in U. habe der Kläger sich am 10. April 2006 erneut bei ihr vorgestellt und darüber geklagt, sich die verordneten Medikamente nicht leisten zu können sowie von einer Ess-Brech-Störung, Grübeln und Schlafstörungen berichtet. Nach einer nochmaligen Behandlung am 21. April 2006 habe er sich dann am 18. Januar 2007 letztmalig bei ihr vorgestellt und den Eindruck geäußert, man könne ihm sowieso nicht helfen; insoweit habe er eine "buddhistische Therapie" begonnen, die ihm auch nicht helfe. Es sei deutlich gewor-den, dass er Medikamente und Energy-Drinks nach Belieben einnehme. Konkrete Befunde habe sie nicht erhoben. Bis zum 18. Januar 2007 habe eine kontinuierliche Verschlechterung beobachtet werden können. Neu hinzugetreten sei das Erbrechen bei sonstigen psychischen Störungen.

Schließlich hat der Senat ein psychiatrisch-neurologisches Gutachten von Priv. Doz. (PD) Dr. G. vom 16. Januar 2009 eingeholt. Dem Sachverständigen gegenüber hat der Kläger angegeben, unter Schmerzen und Bewegungseinschränkungen im Bereich des rechten Fußes zu leiden; die mögliche Tagesgehstrecke hänge vom jeweiligen Zustand ab, sodass er manchmal 500 Meter, manchmal auch einen Kilometer ohne erhebliche Schmerzen zurücklegen könne. Vorwiegend fahre er Fahrrad. Er habe einen Führer-schein und ein Auto, das nicht behindertengerecht umgebaut sei, mit dem er kürzere Strecken zurücklege. Ferner leide er unter ständigen Kopfschmerzen, was nach seinen Angaben kein Wunder sei, wenn er den ganzen Tag vor dem Computer sitze. Jede Form von Überanstrengung schlage ihm auf den Magen. Wenn er den Garten umgra-be, könne er nicht auf den Spaten auftreten und brauche einen extrem langen Stiel. Nach einer Belastung von nur zweieinhalb oder drei Stunden sei er schon erledigt. Ferner würde ihm der letzte Wirbel der Wirbelsäule weh tun. Er wohne mit seiner Frau in einem Einfamilienhaus, das sie erworben hätten, und wozu ein Grundstück von etwa 1.300 m² gehöre. Er stehe in der Regel als Erster auf, mache dann zunächst seinen Computer an und schaue, was "im Internet los sei". Manchmal sitze er zehn Stunden am Tag vor seinem Computer; dort sei auch ein Fernseher angeschlossen, sodass er sich von dort nicht wegbewegen müsse. Nach dem Frühstück mache er ein wenig sauber und räume den Geschirrspüler ein. Seine Ehefrau betreue einen Jugendklub im Nachbarort. Sie würde das Geld heranschaffen; er "spiele" den Hausmann. Einkaufen fahre er in der Regel mit dem Fahrrad ca. eineinhalb km. Seine Eltern würden sie recht regelmäßig besuchen, etwa einmal im Monat, sie blieben dann auch über Nacht. Der Kläger habe einen leicht rechts hinkenden Gang gezeigt. Der Tonus der unteren Extremitäten sei normoton und seitengleich und die Reflexe beidseits in normaler Stärke auslösbar gewesen. Die Stimmungslage sei nicht depressiv ausgelenkt, die Zukunftssicht nicht in depressionsspezifischer Weise hoffnungsarm verdunkelt, sondern realitätsbezogen besorgt erschienen. Auffällig sei gewesen, dass der Kläger von einem Thema zum anderen gesprungen und auch in der gutachterlichen Explorati-on eine leichte Konzentrationsbeeinträchtigung hervorgetreten sei. In Bezug auf die Sucht und die Abstinenz habe der Kläger glaubhaft gewirkt. Nachvollziehbar habe er die spezifischen kurzfristig positiven Wirkungen des Alkohols und auch der jetzigen stark koffeinhaltigen Getränke beschrieben. Während der gesamten Exploration sei eine deutliche psychomotorische Bewegungsunruhe – bei ansonsten situationsadäqua-ter Psychomotorik – zu erkennen gewesen. Insgesamt sei ein diskretes hyperkineti-sches Bewegungsbild aufgefallen. Die testpsychologischen Zusatzuntersuchungen hätten eine durchschnittliche Intelligenz ergeben. Alle Untersuchungen hätten gezeigt, dass relevante alkoholtoxische Schädigungsfolgen nicht vorlägen. Hinsichtlich der Testergebnisse sei die Frage nach einer ungenügenden Anstrengungsbereitschaft zu stellen gewesen.

Der Gutachter ist zu dem Ergebnis gelangt, dass beim Kläger ein klassisches Auf-merksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) vorliege. Der Beginn des Syndroms lasse sich bis in das frühe Kindesalter zurückverfolgen. Ferner bestehe eine emotional instabile Persönlichkeit vom impulsiven Typ. Zudem lägen neurologische hyperkinetische Bewegungsstörungen vor. Schließlich bestehe eine Alkoholabhängig-keit vom Gamma-Typ, gegenwärtig abstinent. Der angegebene massive Genuss von koffeinhaltigen Energy-Drinks erkläre sich als Selbstbehandlungsmaßnahme des ADHS. Typischerweise erfolge die Behandlung bei Kindern mit der Substanz Ritalin, deren Wirkmechanismus im Gehirn partiell durch Koffein ersetzt werden könne. Der massive Koffeingebrauch stelle somit keine eigenständige Sucht, sondern eine Selbstbehandlungsmaßnahme dar. Schließlich seien der Zustand nach komplizierter Fraktur des rechten Fußes mit posttraumatischer Arthrose des rechten oberen Sprung-gelenkes, ein unspezifisches Lumbalsyndrom ohne Ausfälle sensibler und motorischer Nerven und ein Bluthochdruck, wie er sich häufig bei Menschen nach langjähriger Alkoholsucht finde, zu berücksichtigen.

Wegen der motorischen Erscheinungen seien intensive feinmotorische Dauerkoordina-tionsaufgaben als eingeschränkt anzusehen. In geistiger Hinsicht bestünden leichtgra-dige Einschränkungen von Aufmerksamkeit und Konzentration. Beeinträchtigungen bei Arbeiten unter Zeitdruck, am Fließband oder im Schichtdienst seien nicht zu erkennen; auch gelegentlicher Publikumsverkehr sei zumutbar. Der Kläger verfüge über eine gute durchschnittliche intellektuelle Befähigung und zeige keine Hinweise für ein klinisch relevantes hirnorganisches Psychosyndrom. Das Konzentrationsvermögen sei aller-dings bei Langzeitbelastung als deutlich eingeschränkt zu bezeichnen. Insgesamt könnten Arbeiten mit durchschnittlichen Anforderungen an Reaktionsfähigkeit, Über-sicht, Aufmerksamkeit, Verantwortungsbewusstsein und Zuverlässigkeit verrichtet werden. Insbesondere körperliche Arbeiten wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken und Zusammenset-zen von Teilen seien körperlich zumutbar, sofern eine Belastung des rechten Fußes vermieden werde. Viermal 500 Meter könne der Kläger täglich jedenfalls zurücklegen. Zumutbare Arbeiten könne er mindestens sechs Stunden täglich verrichten.

Dem Gutachten von Dr. S. könne er – PD Dr. G. – nicht zustimmen. Der Selbstbehand-lungsversuch mit Energy-Drinks sei nachvollziehbar und nicht als erneute Sucht einzuordnen. Auch habe der Kläger durch die mehrjährige Abstinenzphase unter Beweis gestellt, dass er lern- und steuerungsfähig sei. Die Entscheidung des Klägers, beispielsweise die – für ihn geeignete – Tätigkeit eines Sicherungspostens wegen diskrepanter Einschätzung zur Urlaubsgewährung hinzuwerfen, liege in seinem vertretbaren Verantwortungsbereich. Die Einschätzung des Kollegen S., dass sich diese seine Verhaltensweisen "weitgehend dem Willen entziehen", sei nach Ein-schätzung von PD Dr. G. fehlerhaft. Die Voraussetzungen für eine besondere Ausei-nandersetzung lägen im Bereich der möglichen Willensanspannung. Nach Auffassung von PD Dr. G. liege beim Kläger eine erhebliche Aggravation vor und ein Rentenbe-gehren sei zu bejahen. Der Kläger habe einen – im konkreten sozialen Kontext durchaus nachvollziehbaren – Wunsch nach sicherer Versorgung. Eine massive intrapsychische Konflikthaftigkeit liege jedoch nicht vor; der Kläger könne stolz auf die erzielten gesundheitlichen Erfolge sein und sei dies auch in gewissem Maße.

Nach Übersendung des Gutachtens an die Beteiligten hat der Kläger darauf hingewie-sen, er habe sich in seiner bisherigen Arbeitswelt nur selten sechs Stunden lang konzentrieren können, schon gar nicht unter Zeitdruck. Das Gericht möge ein Obergut-achten einholen.

Unter dem 23. März 2009 hat die Berichterstatterin darauf hingewiesen, die Einholung eines Obergutachtens sei nicht beabsichtigt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakte der Beklagten, die sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Dementsprechend waren der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts abzuändern und die Klage abzuweisen. Denn die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Dem Kläger steht kein Anspruch auf Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab dem 1. Juli 2005 gegen die Beklagte zu.

Der Bescheid der Beklagten vom 17. Juni 2004 in der Fassung des Widerspruchsbe-scheides vom 26. Januar 2005 ist rechtmäßig, da mit diesen Bescheiden der mit dem Rentenantrag vom 10. Oktober 2003 geltend gemachte Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung zutreffend abgelehnt wurde. Auch nach der Entscheidung des Sozialgerichts bestand erst nach Stellung des weiteren Rentenantrags am 15. Juni 2005 aufgrund des Eintritts des Leistungsfalls der vollen Erwerbsminderung am 30. Juni 2005 ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung (auf Dauer). Unter Zugrundelegung der – unzutreffenden – Rechtsauffassung des Sozialgerichts, wonach der Bescheid vom 11. Oktober 2005 gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des anhängigen Gerichtsverfahrens geworden ist, hätte der Bescheid vom 17. Juni 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2005 des Bescheides jedenfalls nur abgeändert (und nicht aufgehoben) werden können. Da der Kläger zu keiner Zeit des Klageverfahrens einen konkreten Klageantrag formuliert und der Vorsitzende auch in dem am 4. Juli 2006 durchgeführten Erörterungstermin nicht gemäß § 106 Abs. 1 Satz 1 SGG auf die Stellung eines solchen Antrag hingewirkt hat, konnte von einer Rücknahme der Klage auf Bewilligung einer Rente ab Rentenantrag-stellung bis zum 30. Juni 2005 nicht ausgegangen werden und es hätte jedenfalls insoweit die Klage abgewiesen werden müssen. Einen Antrag gemäß § 140 Abs. 1 Satz 1 SGG auf Ergänzung des Gerichtsbescheides hat der Kläger aber nicht in der hierfür vorgesehenen Frist von einem Monat nach Zustellung des Gerichtsbescheides (§ 140 Abs. 1 Satz 2 SGG) gestellt.

Der Senat hatte daher lediglich über die Berufung der Beklagten gegen die vom Sozialgericht ausgesprochene Verurteilung zur Zahlung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer ab dem 1. Juli 2005 zu entscheiden.

Der Senat konnte auch in der Sache entscheiden, obwohl das sozialgerichtliche Verfahren an einem erheblichen Mangel leidet. Das Sozialgericht hätte nicht durch Gerichtsbescheid des Kammervorsitzenden entscheiden dürfen; dies ist nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG nur erlaubt, wenn die Sache u.a. keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist. Hier wies der medizinische Sachverhalt erhebliche Schwierigkeiten auf. Insbesondere lagen divergierende medizinische Einschätzungen von Dr. M. und Dr. S. zum Leistungsvermögen des Klägers vor. Dr. S. selbst hat eingeräumt, dass ein anderer Fachgutachter auch zu einer anderen Beurtei-lung hätte kommen können. Von der Beklagten sind eine Vielzahl von Einwänden erhoben worden, mit dem Antrag, hierzu eine ergänzende Stellungnahme des Dr. S. einzuholen. Zudem war nicht geklärt, ob der Kläger eine gerichtliche Entscheidung über den geltend gemachten Rentenanspruch für den gesamten Zeitraum ab Renten-antragstellung erstrebte.

Das Sozialgericht hat damit verfahrensfehlerhaft durch den Kammervorsitzenden als Einzelrichter ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter entschieden, obwohl die Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht vorgelegen haben. Dadurch hat es dem Kläger seinen gesetzlichen Richter im Sinne des Artikel 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) entzogen, nämlich die Kammer in voller Besetzung (vgl. auch Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 16. März 2006 – B 4 RA 59/04 R –, NZS 2007, 51). Dieser Mangel ist auch wesentlich, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Kammer in der gesetzlich vorgeschriebenen Besetzung zu einer anderen Entschei-dung gekommen wäre, insbesondere die Einholung der von der Beklagten beantragten ergänzenden Stellungnahme von Dr. S. vorab zur weiteren Sachverhaltsaufklärung für erforderlich erachtet hätte.

Trotz dieses wesentlichen Verfahrensmangels konnte der Senat jedoch in der Sache selbst entscheiden, weil er gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG zwar befugt, aber nicht zwingend verpflichtet war, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts aufzuheben und die Sache an das Sozialgericht zurückzuverweisen (vgl. BSG, Urteil vom 16. März 2006, a.a.O.). Im Rahmen seines Ermessens hat der Senat das Interesse der Beteilig-ten an einer möglichst zeitnahen Erledigung des Rechtsstreits einerseits mit den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz andererseits gegeneinander abgewogen. Angesichts der schon längeren Verfahrensdauer hat der Senat hier eine Zurückverweisung nicht für sachgerecht.

Nach § 43 Abs. 1, Abs. 2 SGB VI in der ab dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersrente Anspruch auf Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise oder voll erwerbsgemin-dert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Der Kläger war ab dem 1. Juli 2005 weder teilweise noch voll erwerbsgemindert. Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind voll erwerbsgemin-dert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeits-marktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Der Kläger kann nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme unter den üblichen Bedin-gungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auch seit dem 1. Juli 2005 mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein. Dabei geht der Senat von folgendem Leistungsbild aus: Der Kläger kann noch sechs Stunden und mehr täglich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auch überwiegend im Stehen, Gehen und Sitzen, in allen Schichten verrichten. Es besteht eine volle Gebrauchsfähigkeit beider Hände, wobei intensive feinmotorische Dauerkoordinationsaufgaben ausgeschlossen sind. Der Kläger ist ferner normalen Anforderungen an das Seh- und Hörvermögen gewachsen. Er kann Arbeiten mit gelegentlichem Publikumsverkehr, unter Zeitdruck, am Fließband und im Schichtdienst ausführen. Zu vermeiden sind Kontakt mit Alkohol, häufiges Hocken, Knien oder Treppensteigen, Zwangshaltungen oder das Tragen und Bewegen von Lasten ohne Hilfsmittel von über 15 kg, Gerüst- und Leiterarbeiten, Arbeiten an Maschinen mit besonderer Verletzungsgefahr, Arbeiten mit besonderem Stress oder unter hoher Lärmeinwirkung sowie besondere Anforderungen an sein Reaktions- und Umstellungsvermögen, an Aufmerksamkeit und Übersicht. An das Konzentrationsver-mögen können nur geringe Anforderungen gestellt werden.

Der Kläger leidet seit seiner Kindheit an ADHS. Auswirkungen der Erkrankung sind im hier maßgeblichen Zeitraum ab Juli 2005 eine deutliche psychomotorische Bewegung-sunruhe, ein diskretes hyperkinetisches Bewegungsbild und ein eingeschränktes Konzentrationsvermögen. Hieraus ergeben sich für die Erwerbsfähigkeit Einschrän-kungen des Konzentrationsvermögens und intensiver feinmotorischer Dauerkoordinati-onsaufgaben. Darüber hinaus liegen keine Beeinträchtigungen der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit sowie weitergehende Einschränkungen der mnestischen Fähigkeiten vor.

Der Zustand nach komplizierter Fraktur des rechten Fußes mit posttraumatischer Arthrose des rechten oberen Sprunggelenkes hat eine Belastungseinschränkung des rechten Fußes zur Folge. In klinischer Hinsicht bestehen keine wesentliche Muskel-minderung oder sonstige Zeichen eines Nichtgebrauchs der rechten unteren Extremi-tät. Schon bei Dr. W. ist in dem zweiten Rentengutachten im August 2003 nur eine Umfangsminderung des rechten Beines von bis zu 1 cm nachweisbar gewesen. Auch Dr. R. hat keine Muskelatrophien oder wesentliche Muskelverschmächtigungen festgestellt und lediglich Arbeiten mit einer überwiegenden Geh- und Stehbelastung sowie häufiges Heben, Tragen und Bewegen von Lasten über 15 kg für ausgeschlos-sen erachtet. Bereits in der sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung des Ostseeba-des Göhren im Mai 2004 sind auch Arbeiten überwiegend im Gehen und Stehen wieder für zumutbar erachtet worden. PD Dr. G. hat schließlich einen seitengleichen und normotonen Tonus der unteren Extremitäten und lediglich Funktionsstörungen beim Zehenspitz- und Zehenhackenstand festgestellt. Insoweit sind im hier maßgebli-chen Zeitraum ab Juli 2005 Arbeiten mit häufigem Hocken, Knien oder Treppensteigen, Tragen und Bewegen von Lasten ohne Hilfsmittel von über 15 kg, Gerüst- und Leiter-arbeiten und Arbeiten mit ständigem Gehen und Stehen ausgeschlossen.

Aus dem Lumbalsyndrom ohne neurologische Ausfälle resultiert darüber hinausgehend der Ausschluss von Arbeiten in Zwangshaltungen. Weitere Einschränkungen ergeben sich nicht. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass die MRT-Aufnahme der LWS vom 18. April 2005 lediglich in den Segmenten L 4/5 und L 5/S 1 minimale Bandschei-benprotrusionen ohne Nervenbeteiligung und Spinalstenose nachgewiesen hat. Bewegungseinschränkungen, Fehlhaltungen, Druckschmerz oder erhebliche muskulä-re Dysbalancen, die eine weitergehende Auswirkung auf das qualitative Leistungsver-mögen hätten, sind weder im Rehabilitationsentlassungsbericht vom 19. Mai 2004 noch von PD Dr. G. festgestellt worden.

Weitere Gesundheitsstörungen, die die Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Ar-beitsmarkt beeinträchtigen, liegen nicht vor. Insbesondere besteht beim Kläger kein hirnorganisches Psychosyndrom oder eine psychiatrische Erkrankung. Aus der beim Kläger bestehenden emotionalen instabilen Persönlichkeit vom impulsiven Typ ergeben sich keine das Leistungsvermögen weitergehenden Einschränkungen. In Bezug auf die Alkoholabhängigkeit liegt seit Ende des Jahres 2000 Abstinenz vor. Eine weitere Suchterkrankung besteht nicht. Insbesondere der Konsum von sogenannten Energy-Drinks ist nicht als Suchterkrankung, sondern als Behandlung des ADHS zu verstehen, da die Energy-Drinks Koffein und damit eine Substanz enthalten, die die klinischen Auswirkungen der ADHS-Erkrankung lindert.

Der Senat stützt die vorstehende Beurteilung des medizinischen Leistungsvermögens des Klägers auf die Ergebnisse der Begutachtung durch PD Dr. G. in dessen Gutach-ten vom 16. Januar 2009. Der Senat folgt nicht der Einschätzung von Dr. M., nach der beim Kläger eine depressive Anpassungsstörung vorliegt, und auch nicht der Beurtei-lung von Dr. S., der eine psychische Fehlentwicklung im Rahmen einer primären Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen Verhaltensweisen, der Neigung zu Somatisierungsstörungen mit somatoformen Beschwerden und einer Suchtstruktur angenommen hat, die das Leistungsvermögen des Klägers in quantitativer Hinsicht auf unter drei Stunden täglich reduziert. Das Gutachten von Dr. S. ist nach Auffassung des Senats nicht verwertbar, da dieser keine anamnestischen Angaben hinsichtlich des Tagesablaufs, der Alltags- und Freizeitaktivitäten und der Arbeitsmöglichkeiten des Klägers vorgenommen hat. Dementsprechend konnte er die eigenen Angaben des Klägers über sein aufgehobenes Leistungsvermögen nicht kritisch hinterfragen und hat vielmehr die Behauptungen des Klägers seiner Beurteilung ungeprüft zugrunde gelegt. Wie sich jedoch bereits aus dem Entlassungsbericht von Dr. Z. vom AWO Fachkran-kenhauses J. vom 2. Juni 2005 ableiten lässt und in der Epikrise der S. GmbH Fach-krankenhaus U. vom 22. März 2006 sowie im Gutachten von PD Dr. G. ausdrücklich ausgeführt wird, bestehen beim Kläger ein Rentenbegehren und der Wunsch nach finanzieller Versorgung. Während der stationären Krankenhausaufenthalte sowohl im AWO Fachkrankenhaus J. als auch im Fachkrankenhaus U. gab der Kläger eine erhebliche Leistungsinsuffizienz, erhebliche Konzentrations- und Gedächtnisstörungen und ständig wechselnde körperliche Beschwerden an. Demgegenüber schilderte er dem gerichtlichen Sachverständigen PD Dr. G., zu Hause als Hausmann zu fungieren, d.h. den Haushalt zu erledigen, Einkäufe mit dem Fahrrad zu tätigen und an manchen Tagen bis zu zehn Stunden am Computer im Internet zu surfen, Spiele zu spielen und Fernsehen zu schauen. Ferner hat er angegeben, nach einer Belastung von nur zweieinhalb bis drei Stunden mit Umgrabearbeiten im Garten völlig erschöpft zu sein. Letzteres zeigt, dass der Kläger auch zu körperlich sehr anstrengenden Tätigkeiten zeitweise in der Lage ist. Seine anamnestischen Angaben zum Tagesablauf und zu seinen Aktivitäten stehen diametral den dargebotenen Einschränkungen während der stationären Krankenhausaufenthalte entgegen. Nachdem er von dem AWO Fachkran-kenhaus J. mit seiner fehlenden Mitwirkungsbereitschaft konfrontiert und die Hoffnung auf Unterstützung des Rentenbegehrens enttäuscht worden war, hat er sich auch dort nicht wieder in stationäre Behandlung begeben, sondern sich von der Oberärztin M. im Krankenhaus U. behandeln lassen. Deren Einschätzungen hält der Senat gleichfalls nicht für nachvollziehbar. Denn auch aus ihren Berichten wird deutlich, dass sie die Angaben des Klägers ihr gegenüber ohne kritisches Hinterfragen übernommen und keine fassbaren Diagnosen gestellt hat. So berichtet sie im Befundbericht vom 15. August 2005 über eine undifferenzierte Somatisierungsstörung, die möglicherweise durch eine hirnorganische Veränderung, bedingt durch Alkohol- und Substanzmiss-brauch, mitverursacht sei. Untersuchungen, die den organischen Nachweis einer hirnorganischen Veränderung hätten erbringen können, sind jedoch nicht durchgeführt worden. Der Alkoholmissbrauch ist seit dem Jahr 2000 eingestellt. Auch in ihrem letzten Bericht für den Senat hat sie als weitere Diagnose eine Ess-Brech-Störung aufgenommen, obwohl das Körpergewicht des Klägers unverändert bei knapp über 100 kg bei einer Körpergröße von 194 cm geblieben ist und damit ein leicht adipöser Ernährungszustand während des gesamten Behandlungszeitraums vorgelegen hat; keinem der anderen Ärzte bzw. Gutachter hat der Kläger über eine solche Störung berichtet. Zudem hat sie eine kontinuierliche Verschlechterung bis zum 18. Januar 2007 attestiert, obwohl sie den Kläger lediglich am 10. und 21. April 2006 und dann nochmals am 18. Januar 2007 gesehen hat, ohne allerdings konkrete Befunde erhoben zu haben.

Bei dem Kläger liegen auch keine schwere spezifische Leistungsbehinderung oder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor, die trotz des vollschichtigen Leistungsvermögens zur Verschlossenheit des allgemeinen Arbeits-marktes führen würden. Die Beklagte war daher nicht verpflichtet, einen konkreten Arbeitsplatz zu benennen. Das Restleistungsvermögen des Klägers reicht vielmehr noch für leichte bis mittelschwere körperliche Verrichtungen im Wechsel der drei Körperhaltungen wie z.B. Zureichen, Abnehmen, leichte Reinigungsarbeiten ohne Zwangshaltungen, Kleben, Sortieren, Verpacken und Zusammensetzen von Teilen sowie Bürohilfsarbeiten aus (vgl. die Aufzählungen in dem Beschluss des Großen Senats des BSG vom 19. Dezember 1996 - GS 2/95 -, SozR 3-2600 § 44 SGB VI Nr. 8 = BSGE 80, 24, 33f.).

Dem Kläger dürften die vorgenannten Tätigkeiten ebenso wie die von ihm wegen Streitigkeiten über Urlaubsgewährung aufgegebene Arbeit des Sicherungspostens oder des Pförtners an der Nebenpforte gesundheitlich zumutbar sein. Schließlich hat die Persönlichkeitsstörung keine schwere spezifische Leistungsbehinderung zur Folge, mit der der Kläger nicht mehr unter betriebsüblichen Bedingungen arbeiten könnte. Zwar hat diese Störung in der Vergangenheit im Zusammenwirken mit dem Alkohol-missbrauch zu aggressiven Impulsdurchbrüchen und einem gewalttätigen Verhalten geführt. Der Senat geht jedoch auf der Grundlage der Ausführungen von PD Dr. G. davon aus, dass der Kläger nach der langjährigen Alkoholabstinenz inzwischen in der Lage ist, bei entsprechender Willensanspannung sich in einen Betriebsablauf zu integrieren und überlegt sowie verantwortlich zu handeln und dass seine Handlungen nicht seiner Willenssteuerung wesentlich mehr entzogen sind, als dies bei gesunden Versicherten der Fall ist, die gleichfalls mit vorgegebenen Arbeitsplatzbedingungen zurecht kommen müssen.

Auch liegt im Falle des Klägers kein Seltenheits- oder Katalogfall vor, der zur Pflicht der Benennung eines konkreten Arbeitsplatzes führen würde (vgl. BSG, Großer Senat, a.a.O., Seite 35). Der Arbeitsmarkt gilt unter anderem als verschlossen, wenn einem Versicherten die so genannte Wegefähigkeit fehlt. Zur Erwerbsfähigkeit gehört auch das Vermögen, einen Arbeitsplatz aufsuchen zu können. Dabei ist nach der Recht-sprechung des BSG ein abstrakter Maßstab anzuwenden. Ein Katalogfall liegt nicht vor, soweit ein Versicherter täglich viermal Wegstrecken von knapp mehr als 500 Meter mit einem zumutbaren Zeitaufwand von bis zu 20 Minuten zu Fuß zurücklegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten unter Berücksich-tigung aller ihm zur Verfügung stehender Mobilitätshilfen benutzen kann. Dann gilt die Erwerbsfähigkeit als nicht in beachtlichem Maße einschränkt und die konkrete Benen-nung einer Verweisungstätigkeit ist nicht erforderlich. Sind Arbeitsplätze auf andere Art als zu Fuß erreichbar, zum Beispiel mit dem eigenen Kraftfahrzeug bzw. mit einem Fahrrad, ist der Arbeitmarkt ebenfalls nicht verschlossen (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1991 - 13/5 RJ 73/90 - SozR 3-2200 § 1247 RVO Nr. 10).

Die Gehfähigkeit des Klägers ist bei längeren Wegstrecken eingeschränkt. Gehstre-cken von viermal knapp mehr als 500 Meter kann er jedoch mehrmals täglich zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen. Auch insoweit stützt sich der Senat auf das Gutachten von PD Dr. G ...

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht.

Rechtsmittelbelehrung und Erläuterungen zur Prozesskostenhilfe I. Rechtsmittelbelehrung Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Revision nur zu, wenn sie nachträglich vom Bundessozialgericht zugelassen wird. Zu diesem Zweck kann die Nichtzulassung der Revision durch das Landessozialgericht mit der Beschwerde angefochten werden.

Die Beschwerde ist von einem bei dem Bundessozialgericht zugelassenen Prozessbe-vollmächtigten innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich beim Bundessozialgericht Kassel, Graf-Bernadotte-Platz 5, 34119 Kassel, einzulegen. Die Beschwerdeschrift muss bis zum Ablauf der Monatsfrist beim Bundessozialgericht eingegangen sein.

Als Prozessbevollmächtigte sind nur zugelassen: a) Rechtsanwälte b) Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule mit Befähigung zum Richteramt c) zur Vertretung ihrer Mitglieder und bei einem Handeln durch Personen mit Befähi-gung zum Richteramt oder durch Diplomjuristen - selbständige Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung - berufsständische Vereinigungen der Landwirtschaft - Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände oder andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung - Vereinigungen, deren satzungsgemäße Aufgaben die gemeinschaftliche Interessen-vertretung, die Beratung und Vertretung der Leistungsempfänger nach dem sozialen Entschädigungsrecht oder der behinderten Menschen wesentlich umfassen und die unter Berücksichtigung von Art und Umfang ihrer Tätigkeit sowie ihres Mitgliederkrei-ses die Gewähr für eine sachkundige Prozessvertretung bieten d) juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der zu c) genannten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt. Dazu ist ein Handeln durch Personen mit Befähigung zum Richteramt oder Diplomjuristen und die Haftung der Organisation für die Tätigkeit der Prozessbevollmächtigten Voraussetzung.

Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse sowie private Pflegeversicherungsunternehmen können sich durch eigene Beschäftigte oder solche anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts ein-schließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusam-menschlüsse vertreten lassen. Diese Beschäftigten müssen die Befähigung zum Richteramt haben oder Diplomjurist sein.

Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils von einem zugelassenen Prozessbevollmächtigten schriftlich zu begründen.

In der Begründung muss die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, des Bundessozialgerichts oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes, von der das Urteil abweicht, oder ein Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, bezeichnet werden. Als Verfahrensmangel kann eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht und eine Verlet-zung des § 103 SGG nur gerügt werden, soweit das Landessozialgericht einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. II. Erläuterungen zur Prozesskostenhilfe Für die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision kann ein Beteiligter, der nicht schon durch einen Bevollmächtigten der unter I. c) und I. d) genannten Vereini-gungen, Gewerkschaften oder juristischen Personen vertreten ist, Prozesskostenhilfe zum Zwecke der Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragen.

Der Antrag kann von dem Beteiligten persönlich gestellt werden; er ist beim Bundesso-zialgericht entweder schriftlich einzureichen oder mündlich vor dessen Geschäftsstelle zu Protokoll zu erklären.

Dem Antrag sind eine Erklärung des Beteiligten über seine persönlichen und wirt-schaftlichen Verhältnisse (Familienverhältnisse, Beruf, Vermögen, Einkommen und Lasten) sowie entsprechende Belege beizufügen; hierzu ist der für die Abgabe der Erklärung vorgeschriebene Vordruck zu benutzen. Der Vordruck kann von allen Gerichten und ggf. durch den Schreibwarenhandel bezogen werden.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und die Erklärung über die persön-lichen und wirtschaftlichen Verhältnisse - ggf. nebst entsprechenden Belegen - müssen bis zum Ablauf der Frist für die Einlegung der Beschwerde (ein Monat nach Zustellung des Urteils) beim Bundessozialgericht eingegangen sein.

Mit dem Antrag auf Prozesskostenhilfe kann ein zur Vertretung bereiter Rechtsanwalt benannt werden.

Ist dem Beteiligten Prozesskostenhilfe bewilligt worden und macht er von seinem Recht, einen Rechtsanwalt zu wählen, keinen Gebrauch, wird auf seinen Antrag der beizuordnende Rechtsanwalt vom Bundessozialgericht ausgewählt.

gez. Klamann gez. Fischer gez. Müller-Rivinius

Der Beschwerdeschrift und allen folgenden Schriftsätzen sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden. Das Bundessozialgericht bittet darüber hinaus um je zwei weitere Abschriften.
Rechtskraft
Aus
Saved