L 4 KR 38/08 NZB

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 4 KR 256/06
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 4 KR 38/08 NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Grundsätzliche Bedeutung der Auslegung der Krankentransportrichtlinien
Auf die Beschwerde der Beklagten wird die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 9. Juni 2008 zugelassen.

Gründe:
I.

Umstritten ist die Erstattung von Fahrkosten.

Der 1977 geborene und bei der Beklagten krankenversicherte Kläger zog sich nach einem Sturz aus großer Höhe am 19. Januar 2006 einen doppelten Beckenbruch zu. Vom 19. Januar bis 10. Februar 2006 wurde er deswegen im Krankenhaus am R. GmbH in S. stationär behandelt. Die Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. B. verordnete ihm für den 16. Februar 2006 einen Krankentransport für eine ambulante Behandlung in einer chirurgischen Praxis in H ...

Der Leistungserbringer – der Taxibetrieb K. aus H. – übersandte der Beklagten eine Fahrkostenrechnung in Höhe von 50,60 EUR. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 24. April 2006 die Erstattung der Fahrkosten ab. Hiergegen legte der Kläger am 4. Mai 2006 Widerspruch ein und machte geltend: Er habe am 16. Februar 2006 wegen seiner Sturzverletzungen einen Rollstuhl benötigt und nicht mehr aufstehen können. Die Beklagte holte eine Stellungnahme von Dr. B. vom 23. Mai 2006 ein. Die Gutachterin des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) Dipl.-Med. H. vertrat unter dem 7. Juni 2006 die Auffassung, der Kläger erreiche nicht die nach den Krankentransportrichtlinien erforderliche Behandlungsbedürftigkeit bzw. Bewegungseinschränkung. Mit Widerspruchsbescheid vom 17. August 2006 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 14. September 2006 "Widerspruch" beim SG Halle eingelegt und sein Begehren weiter verfolgt.

Das Sozialgericht Halle hat einen Befundbericht von Dr. B. vom 29. Januar 2007 und vom Chirurgen B. vom 16. Februar 2007 eingeholt. Dr. B. gab an, der Kläger habe vom 10. Februar 2006 bis Ende April 2006 einen Rollstuhl genutzt. Nach Herrn B. sei der Kläger vom 19. Januar 2006 bis 22. März 2006 absolut gehunfähig gewesen. Seine letzte Behandlung sei am 18. September 2006 erfolgt. Auf Nachfrage des Sozialgerichts hat der Kläger erklärt, er habe die Fahrtkosten bisher nicht bezahlt.

Das Sozialgericht Halle hat mit Urteil vom 9. Juni 2007 den Bescheid vom 24. April 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. August 2006 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Kläger von den Kosten der Taxifahrt vom 16. Februar 2006 freizustellen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Mobilitätseinschränkung des Klägers zum Zeitpunkt des Transports habe einer Schwerbehinderung mit dem Merkzeichen "aG" entsprochen. Auch habe sich der Kläger in der Zeit vom 19. Januar 2006 bis 18. September 2006, mithin über einen längeren Zeitraum, in ambulanter Behandlung befunden. Die Voraussetzungen des § 8 Abs. 3 der Krankentransport-richtlinien seien daher erfüllt. In den Entscheidungsgründen hat das Sozialgericht die Berufung für nicht statthaft erklärt.

Gegen das ihr am 28. Juli 2008 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 26. August 2008 Nichtzulassungsbeschwerde erhoben und geltend gemacht: Die Frage, wann eine vergleichbare Beeinträchtigung der Mobilität nach § 8 Abs. 3 der Krankentransport-richtlinien vorläge, sei höchstrichterlich nicht geklärt. Der Rechtsstreit habe wegen acht vergleichbarer rechtshängiger Verfahren grundsätzliche Bedeutung.

Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,

die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 9. Juni 2008 zuzulassen.

Der Kläger hat (auch sinngemäß) keinen Antrag gestellt.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

II.

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts Halle vom 9. Juni 2008 ist gem. § 145 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig und auch begründet.

1. Die im Grundsatz nach § 143 SGG statthafte Berufung ist hier kraft Gesetzes ausgeschlossen. Gegenstand des Rechtsstreits ist die Frage, wer die Fahrkosten für eine einmalige ambulante Behandlung in Höhe von 50,80 EUR zu tragen hat. Die Berufung bedarf somit der Zulassung, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes den Beschwerdewert von 750,00 EUR nicht übersteigt.

Das Sozialgericht hat zwar nicht im Urteilstenor, jedoch in den Entscheidungsgründen die Voraussetzungen der Zulassung der Berufung verneint und die Beklagte in der Rechtsmittelbelehrung zutreffend auf die Nichtzulassungsbeschwerde verwiesen. Nach § 145 Abs. 1 Satz 1 SGG kann die Nichtzulassung der Berufung durch das Sozialgericht mit der Beschwerde angefochten werden. Dies ist durch die Beklagte form- und fristgerecht (§ 145 Abs. 1 S. 2 SGG) erfolgt.

2. Die Berufung ist zuzulassen.

Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG.

Nach § 144 Abs. 2 SGG ist die Berufung zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr. 1), das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, der Gemeinsamen Senate der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr. 2) oder ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (Nr. 3).

Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG liegt vor, wenn das Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen Rechtsprechung und Fortentwicklung des Rechts berührt ist bzw. wenn zu erwarten ist, dass die Entscheidung dazu führen kann, die Rechtseinheit in ihrem Bestand zu erhalten oder die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern. Dies kann der Fall sein, wenn die Klärung einer Zweifelsfrage mit Rücksicht auf eine Wiederholung ähnlicher Fälle erwünscht ist bzw. wenn von einer derzeitigen Unsicherheit eine nicht unbeträchtliche Personenzahl betroffen ist (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 8. Aufl., § 144 Rdnr. 28 i. V. m. § 160 Rdnr. 6b). Von der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache kann daher nur ausgegangen werden, wenn sich eine Rechtsfrage ernsthaft stellt, deren Klärung über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung im allgemeinen Interesse erforderlich (Klärungsbedürftigkeit) und deren Klärung durch das Revisionsgericht zu erwarten (Klärungsfähigkeit) ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr. 60 und 65; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr. 16 m.w.N.; BVerwG, NJW 1999, 304; vgl. auch BVerfG SozR 3-1500 § 160a Nr. 7). Die bloße Klärung von Tatsachenfragen, die möglicherweise nur verallgemeinerungsfähige Auswirkungen erwarten lässt, genügt dagegen nicht (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 144 Rdnr. 29).

Diese Voraussetzungen sind im Streitfall gegeben. Wegen der acht von der Beklagten angegebenen rechtshängigen Parallelverfahren ist eine hohe praktische Bedeutung der Auslegung der Krankentransportrichtlinien bei der Gewährung von Fahrkosten anzunehmen. Daher besteht auch das Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen Rechtsanwendung. Auch eine Klärungsbedürftigkeit von Rechtsfragen ist hier zu bejahen.

§ 60 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V) bestimmt:

"Die Krankenkasse übernimmt Fahrkosten zu einer ambulanten Behandlung unter Abzug des sich nach § 61 Satz 1 ergebenden Betrages nur nach vorheriger Genehmigung in besonderen Ausnahmefällen, die der Gemeinsame Bundesausschuss in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12 festgelegt hat." ( ) "Die Krankenkasse übernimmt die Fahrkosten ( ) bei Fahrten von Versicherten zu einer ambulanten Krankenbehandlung sowie zu einer Behandlung nach § 115a oder § 115b, wenn dadurch eine an sich gebotene vollstationäre Behandlung oder teilstationäre Krankenbehandlung (§ 39 SGB V) vermieden oder verkürzt wird oder diese nicht ausführbar ist, wie bei einer stationären Krankenhausbehandlung."

§ 8 Abs. 3 der Krankentransportrichtlinien lautet:

"Daneben kann die Fahrt zur ambulanten Behandlung für Versicherte verordnet und genehmigt werden, die einen Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen "aG", "Bl" oder "H" oder einen Einstufungsbescheid gemäß dem Elften Buch Sozialgesetzbuch in die Pflegestufe 2 oder 3 bei der Verordnung vorlegen. Die Krankenkassen genehmigen auf ärztliche Verordnung Fahrten zur ambulanten Behandlung von Versicherten, die keinen Nachweis nach Satz 1 besitzen, wenn diese von einer der Kriterien von Satz 1 vergleichbaren Beeinträchtigung der Mobilität betroffen sind und einer ambulanten Behandlung über einen längeren Zeitraum bedürfen."

Im vorliegenden Fall hat die Vorinstanz die gesetzlich erforderliche vorherige Genehmigung der Krankenkasse im Ergebnis bejaht. Nach dem aktenkundigen Sachverhalt dürfte die Beklagte jedoch erst nach Durchführung der Fahrt am 16. Februar 2006 hiervon Kenntnis erlangt haben. Es fehlt damit an Ausführungen zu der noch nicht geklärten Rechtsfrage unter welchen Voraussetzungen von der nach § 60 Abs. 1 Satz 3 SGB V erforderlichen vorherigen Genehmigung der Krankenkasse – z.B. wegen unzumutbarer Belastungen des Versicherten oder anderer Härten (vgl. KassKomm – Höfler, § 60 Rdn. 14 a) – ausnahmsweise verzichtet werden kann.

Auch eine höchstrichterliche Klärung des Begriffes der "vergleichbaren Beeinträchtigung" im Sinne des § 8 Abs. 3 der Krankentransportrichtlinien oder eine gefestigte Rechtsprechung dazu steht noch aus. Damit ist rechtlich ungeklärt, ob – wie vom Sozialgericht Halle vertreten – die Situation des Schwerbehinderten mit dem Merkzeichen "aG" mit demjenigen, der lediglich vorübergehend absolut gehunfähig ist, gleichgesetzt werden kann. Das Bundessozialgericht hat in seiner aktuellen Entscheidung vom 28. Juli 2008 – B 1 KR 27/07 R (zitiert nach juris) nur zu § 8 Abs. 2 der Krankentransportrichtlinien Ausführungen gemacht.

Daneben ist auch noch nicht höchstrichterlich geklärt, wie der Begriff des "längeren Zeitraums" im Sinne des § 8 Abs. 3 der Krankentransportrichtlinien auszulegen ist. Das Sozialgericht hat dafür den gesamten Zeitraum vom Unfall bis zum Ende der ambulanten Behandlung, d.h. vom 16. Januar bis 18. September 2006 herangezogen. Unter Einbeziehung des § 60 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB V könnte jedoch auch vertreten werden, den Zeitraum auf den Bereich zwischen Krankenhausentlassung und Ende der Gehunfähigkeit zu beschränken. In diesem Zusammenhang dürfte zudem klärungsbedürftig sein, ob bei einer nur einmaligen Behandlung in diesem Zeitraum – wie beim Kläger – überhaupt eine ambulante Behandlung über einen längeren Zeitraum im Sinne des § 8 Abs. 3 der Krankentransportrichtlinie vorliegen kann und ob nicht ein höheres Behandlungsintervall zu verlangen ist.

Der Rechtsstreit hat daher grundsätzliche Bedeutung.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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