L 27 R 1569/05

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 31 RJ 2343/04
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 27 R 1569/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. Juni 2005 wird zurückgewiesen, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist. Die Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens zu einem Drittel zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt einen früheren Beginn ihrer Witwenrente.

Die im April 1955 geborene Klägerin war mit dem 1989 verstorbenen Versicherten K K (Verstorbenen) verheiratet. Mit Bescheid vom 8. März 1989 erhielt die Klägerin eine Übergangshinterbliebenenrente im Beitrittsgebiet in Höhe von 270 Mark. Mit Bescheid desselben Datums wurde der Klägerin mit Wirkung vom 1. Januar 1989 dem Grunde nach eine Unfallwitwenrente gewährt, deren Zahlung bis zum 31. Dezember 1990 ruhte. Zum 1. Juli 1990 wurde die Übergangswitwenrente neu festgesetzt. Mit Bescheid der Überleitungsanstalt Sozialversicherung vom 9. Oktober 1991 wurde die Rente der Klägerin ab dem 1. Januar 1991 angepasst und eine Nachzahlung ausgewiesen. Ab Oktober 1991 übernahm die Beigeladene den Verwaltungsvorgang von der Überleitungsanstalt Sozialversicherung und gewährte der Klägerin eine Unfallwitwenrente.

Nachdem die Beigeladene die Klägerin in einem Telefongespräch am 13. Mai 2004 auf die Möglichkeit der Stellung eines Rentenantrags bei der Beklagten hingewiesen hatte, beantragte die Klägerin für sich und für ihren Sohn am 13. Mai 2004 bei der Beklagten die Gewährung einer Witwenrente nach der gesetzlichen Rentenversicherung rückwirkend zum 1. Januar 1989. Mit Bescheid vom 4. August 2004 gewährte die Beklagte der Klägerin, beginnend am 1. Mai 2003, eine große Witwenrente in Höhe von laufend 29,51 EUR. Dabei wurden Leistungen aus der Unfallversicherung angerechnet. In ihrem hiergegen erhobenen Widerspruch machte die
Klägerin geltend, dass die Rente für einen längeren Zeitraum nachzuzahlen sei, weil der Rentenanspruch bereits festgestellt worden und die Beklagte als Überleitungsanstalt verpflichtet gewesen sei, die Klägerin auf das Erfordernis eines gesonderten Antrags aufmerksam zu machen. Gleiches gelte auch für die Beigeladene. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 22. November 2004 und der Begründung zurück, dass die Klägerin ihren Antrag erst im Mai 2004 gestellt habe. Die Stellung eines Antrags sei maßgeblich für den Rentenbeginn. Die Beklagte habe keine Aufklärungs-, Beratungs- oder Hinweispflicht verletzt, weil kein Anlass für eine Beratung oder für Hinweise bestanden habe. Es sei allerdings nicht nachvollziehbar, warum die Beigeladene nicht auf die Notwendigkeit eines Antrages hingewie-sen habe.

Die Klägerin hat ihr Begehren mit der am 29. November 2004 zum Sozialgericht Berlin erhobenen Klage weiterverfolgt. Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 22. Juni 2005 die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 4. August 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. November 2004 zur Gewährung einer großen Witwenrente ab dem 1. Januar 1992 verurteilt. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, dass die Klägerin ab diesem Zeitpunkt einen Anspruch auf große Witwenrente habe. Die Anspruchsvoraussetzungen seien schon zum 1. Januar 1992 erfüllt gewesen, es habe allein ein Antrag nach § 99 des Sechsten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VI) gefehlt. Im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sei die Klägerin jedoch so zu stellen, als ob sie den Antrag rechtzeitig gestellt habe. Es liege zunächst eine Pflichtverletzung der Beklagten vor, so dass offen bleiben könne, ob auch eine Pflichtverletzung der Beigeladenen gegeben sei. Zwar habe eine Pflicht nach § 115 Abs. 6 SGB VI nicht verletzt werden können, weil hier kein nötiger Datenbestand bestanden habe. Jedoch habe die Beklagte als Überleitungsanstalt Sozialversicherung zunächst auch die Unfallrenten bearbeitet und hätte aufgrund dieser Kenntnis der Klägerin einen Hinweis auf das Antragserfordernis hinsichtlich der Witwenrente geben müssen. Eine solche Beratungssituation hätte sich für die Beklagte als Überleitungsanstalt aufdrängen müssen; eines gesonderten
Beratungserfordernisses habe es nicht bedurft. Die Rente sei auch rückwirkend ab Januar 1992 zu gewähren, die Vorschrift des § 44 Abs. 4 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X) stehe dem hier nicht entgegen.

Gegen dieses ihr am 13. September 2005 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 7. Oktober 2005 Berufung zum Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingelegt. Sie macht geltend, dass ihr keine Pflichtverletzung zur Last gelegt werden könne. Im Übrigen sei eine rückwirkende Rentengewährung nur nach Maßgabe des § 44 Abs. 4 SGB X möglich, weil diese Vorschrift auch auf Fälle des sozialversicherungsrechtlichen Herstellungsanspruchs Anwendung finden müsse. Nachdem die Klägerin die Klage für die Zeit vom 1. Januar 1992 bis zum 31. Dezember 1999 zurückgenommen hat und die Beteiligten den Rechtsstreit für die Zeit vor dem 1. Januar 2000 für erledigt erklärt haben,

beantragt die Beklagte,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. Juni 2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit der Rechtsstreit nicht für erledigt erklärt wurde.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen. Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend, soweit sie nicht die Klage zurückgenommen hat.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsakten der Beklagten und Beigeladenen, welche im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143, 151 SGG zulässige, insbesondere frist- und formgerecht eingelegte Berufung hat, soweit das Verfahren nicht hinsichtlich der Zeit vor dem 1. Januar 2000 erledigt ist, keinen Erfolg. Das Sozialgericht hat der Klage für die Zeit ab 1. Januar 2000 zu Recht stattgegeben. Die Klägerin hat einen Anspruch auf die begehrte frühere Rentengewährung.

Anspruchsgrundlage ist § 46 Abs. 2 S. 1 SGB VI, wonach Witwen oder Witwer, die nicht wieder geheiratet haben, nach dem Tod des versicherten Ehegatten, der die allgemeine Wartezeit erfüllt hat, Anspruch auf große Witwenrente haben, wenn sie ein eigenes Kind oder ein Kind des versicherten Ehegatten, welches das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, erziehen, das 45. Lebensjahr vollendet haben oder erwerbsgemindert sind. Diese Voraussetzungen lagen bei der Klägerin jedenfalls am 1. Januar 2000 vor, weil die Klägerin nicht wieder geheiratet hat, damals den gemeinsamen Sohn D erzog und zudem im April 2000 das 45. Lebensjahr vollendete; zudem hatte der Verstorbene die allgemeine Wartezeit erfüllt.

Die Rente beginnt nach dem Antrag der Klägerin vom 13. Mai 2004 am 1. Januar 2000.

§ 99 Abs. 2 S. 3 SGB VI steht diesem Rentenbeginn nicht entgegen, wonach eine Hinterbliebenrente nicht mehr als zwölf Kalendermonate vor dem Monat, in dem die Rente beantragt wird, geleistet wird. Vielmehr ist die Klägerin im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, wie sie stünde, wenn sie den Rentenantrag rechtzeitig, das heißt spätestens zum 1. Januar 2000 gestellt hätte.

Die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs (vgl. hierzu etwa Bundessozialgericht – BSG -, Urteil vom 10. Dezember 2003 – B 9 VJ 2/02 -, zitiert nach juris Rn. 29; Urteil vom 6. März 2003 – B 4 RA 38/02 R -, zitiert nach juris Rn.18) liegen vor.

Zunächst hat die Klägerin mit ihrem – wie gezeigt - jedenfalls bereits am 1. Januar 2000 bestehenden Rentenanspruch ein bestimmtes soziales Recht inne, welches sich gerade gegen die Beklagte als den Leistungsträger richtet, von welchem sie die Herstellung begehrt. Ferner liegt eine der Beklagten zuzurechnende Verletzung der Beratungspflicht vor, welche gerade auch im Verhältnis zur Klägerin zum Schutz ihres sozialen Rechts bestand.

Eine Beratungs- beziehungsweise Auskunftspflicht gemäß §§ 14, 15 des Ersten Buchs des Sozialgesetzbuch (SGB I) besteht typischerweise nur bei einem entsprechenden Begehren des Versicherten. Die Versicherungsträger sind indes auch sonst gehalten, bei Vorliegen eines konkreten Anlasses auf klar zu Tage tretende Gestaltungsmöglichkeiten im Wege einer Spontanberatung hinzuweisen, wenn dies aufgrund der Besonderheiten des jeweiligen Falls aus Gründen des sozialen Schutzes der Versicherten ausnahmsweise geboten erscheint, wobei die Kenntnis der die Aufklärungs- und Beratungspflicht begründenden Tatsachen jedenfalls unter mehreren Sozialversicherungsträgern jedenfalls dann zuzurechnen ist, wenn sie als Funktionseinheit auftreten (BSG, Urteil vom 10. Dezember 2003, a.a.O., Rn. 31, 34). Dies zugrunde gelegt kann dahinstehen, ob die Überleitungsanstalt Sozialversicherung selbst in einer der Beklagten zurechenbaren Weise gegen eine ihr gegenüber der Klägerin bestehende Pflicht verstieß. Jedenfalls die Beigeladene, welche damals einzige Sachwalterin des zur Klägerin bestehenden Sozialversicherungsverhältnisses war und damit in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht als funktionelle Einheit mit der Beklagten handelte, kam anlässlich der Übernahme des Unfallversicherungsvorgangs der Klägerin von der Überleitungsanstalt Sozialversicherung Berlin im Oktober 1991 in einer der Beklagten zurechenbaren Weise der ihr gegenüber der Klägerin obliegenden Beratungspflicht nicht nach. Der Beratungsbedarf der Klägerin musste sich der Beigeladenen aufdrängen, als sie den Verwaltungsvorgang von der Überleitungsanstalt Sozialversicherung übernahm und fortan mit dem Unfallversicherungsverhältnis der Klägerin befasst war, und zwar nunmehr in der gleichen Funktion wie unmittelbar zuvor die Überleitungsanstalt Sozialversicherung. Bei der ersten Sichtung der Verwaltungsakten hätte die Beigeladene den Umstand zum Anlass einer Nachfrage beziehungsweise Aufklärung nehmen müssen, dass die Unfallakten nichts für einen Hinterbliebenenrentenbezug hergaben, zumal sich die Gewährung einer Witwenrente aus der Unfallversicherung (vgl. § 65 des Siebten Buchs des Sozialgesetzbuchs – SGB VII) auf einen im Wesentlichen ähnlichen Kernsachverhalt gründet wie die Gewährung einer Witwenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung, nämlich auf den Tod des Ehegatten. Auch die mit dem Bearbeitungswechsel verbundene Zahlungsunterbrechung und die hierdurch veranlassten wiederholten Nachfragen der Klägerin vermittelten ihr besonderes soziales Schutzbedürfnis, welches eine eingehende Beratung nahe legte, zumal – wie das Sozialgericht im angefochtenen Urteil zutreffend ausführt – Neubundesbürger
beziehungsweise –versicherte wie die Klägerin in besonderem Maße darauf angewiesen waren, dass ihnen die für sie neuen sozialversicherungsrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten, welche sich aus dem neuen Bundesrecht ergeben konnten, aufgezeigt werden. Dementsprechend vermochte die Beklagte selbst in der Begründung des verfahrensgegenständlichen Widerspruchsbescheids nicht nachzuvollziehen, warum die Beigeladene die Klägerin nicht zur Stellung eines Antrags auf Witwenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung aufforderte. Wie offenbar das Beratungsbedürfnis der Klägerin war, wird letztlich auch dadurch deutlich, dass die Beigeladene ausweislich des bei ihren Verwaltungsvorgängen befindlichen Telefonvermerks vom 13. Mai 2004 die Klägerin schließlich von selbst anrief und auf die mögliche Rentenantragstellung hinwies.

Der Pflichtenverstoß war auch die Ursache für die verspätete Rentenantragstellung und den damit einhergehenden rentenrechtlichen Nachteil der Klägerin. Die Kausalität muss beim Herstellungsanspruch nach der im Sozialrecht herrschenden Kausaltheorie der wesentlichen
Bedingung unter Abwägung der vom Sozialleistungsträger und dem Versicherten selbst gesetzten Ursachen geprüft werden (BSG, Urteil vom 26. April 2005 – B 5 RJ 6/04 R -, zitiert nach juris Rn. 32). Hiernach ist maßgeblich, ob die Verletzung der Hinweispflichten die wesentliche, das heißt zumindest gleichwertige Bedingung dafür ist, dass die oder der Versicherte das Gestaltungsrecht und die Zahlungsansprüche hieraus nicht schon früher geltend machte (BSG, Urteil vom 6. März 2003, a.a.O., Rn. 54). Hieran gemessen ist der Senat im Sinne von § 128 Abs. 1 S. 1 SGG von der Ursächlichkeit des vorbeschriebenen Pflichtenverstoßes für die verspätete Rentenantragstellung überzeugt. Vernünftige Zweifel sind ausgeschlossen, dass die Klägerin entgegen dem Vorbringen der Beklagten nicht durch die allgemeine Pressearbeit der Beklagten ausreichend informiert gewesen wäre oder aufgrund anderer Quellen beziehungsweise eigenen Wissens hätte erkennen können, dass für sie ein neben der Unfallwitwenrente ein Witwenrentenanspruch nach dem SGB VI im Raum stand. Vielmehr spricht die prompte Handlungsweise der Klägerin, indem sie unmittelbar, nachdem die Beigeladene sie über die mögliche
Rentenantragstellung informiert hatte, noch an demselben Tag den Rentenantrag bei der Beklagten stellte, dafür, dass die Klägerin in der Tat erst durch den Hinweis der Beigeladenen auf die Gestaltungsmöglichkeit einer Rentenantragstellung gebracht wurde und für sie zuvor keine
Anhaltspunkte hierfür bestanden hatten.

Inhaltlich geht der seinen Voraussetzungen nach erfüllte sozialrechtliche Herstellungsanspruch der Klägerin darauf, dass sie den Rentenanspruch bereits für die Zeit ab 1. Januar 2000 hat.

Bei Erfüllung der Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs muss der in Anspruch genommene Sozialversicherungsträger die rechtswidrige Beeinträchtigung des sozialen Rechts des Versicherten bzw. seines Hinterbliebenen mit den ihm jetzt rechtlich erlaubten Mitteln beseitigen, mithin im Hinblick auf das betroffene soziale Recht den Zustand herstellen, welcher ohne die Pflichtverletzung bestanden hätte, und den Versicherten bzw. seinen Hinterbliebenen so behandeln, als stehe ihm das Gestaltungsrecht für einen zurückliegenden Zeitraum noch in vollem Umfang zu und könne heute noch von ihm wirksam ausgeübt werden (BSG, Urteil vom 6. März 2003, a.a.O., Rn.57). Dies zugrunde gelegt ist die Klägerin hier von der Beklagten so zu stellen, als ob sie den Rentenantrag spätestens zum 1. Januar 2000 gestellt hätte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang in der Sache selbst.

Die Revision ist mangels Zulassungsgrunds im Sinne von § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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