S 5 SO 128/21

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Nürnberg (FSB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
5.
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 SO 128/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Die Leistungen des Bayerischen Landespflegegeldgesetzes sind - auch entgegen dem Gesetzesnamen - in vollem Umfang privilegiert im Sinne des § 83 Abs. 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) und dürfen auch nicht auf Pflegeleistungen nach dem SGB XII angerechnet werden. Denn der Bayerische Landtag hat - wie sich aus der Landtags-Drucksache 17/23219 vom 09.07.2018 ergibt - die Zweckbestimmung des Landespflegegeldes selbst definiert.

I. Der Bescheid der Beklagten vom 17.07.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesamtes für Soziales, Jugend und 

    Versorgung R. vom 31.05.2021 wird aufgehoben.

II. Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

T a t b e s t a n d:

Streitig ist die Anrechnung von Bayerischen Landespflegegeld auf Sozialhilfeleistungen in Höhe von 2.000,00 €.

Die 1956 geborene Klägerin ist seit 2005 in der Pflegeeinrichtung Haus A. in A-Stadt (M.) untergebracht. Die Kosten für die Heimbetreuung werden von der Stadt L. (Sozialamt) getragen. Im Rahmen der jährlichen Überprüfung der aktuellen Einkommens- und Vermögensverhältnisse stellte die Stadt L. fest, dass die Klägerin Leistungen nach dem Bayerischen Landespflegegeldgesetz (BayLPflGG) erhalten hatte. Nach den vorgelegten Kontoauszügen hatte die Klägerin am 09.01.2019 und am 08.01.2020 jeweils einen Betrag in Höhe von 1.000,00 € erhalten.

Mit Bescheid vom 17.07.2020 forderte die Beklagte die Klägerin auf, den Betrag in Höhe von 2.000,00 € als Aufwendungsersatz an die Beklagte zu überweisen.

Dagegen erhob die Betreuerin der Klägerin Widerspruch mit Telefax vom 26.07.2020. Zur Begründung wurde vorgetragen, dass das Bayerische Landespflegegeld nicht auf andere Sozialleistungen angerechnet werden dürfe. Dieses Geld sei ausschließlich für Zusatzleistungen und zur eigenen Verwendung des Pflegebedürftigen gedacht. In Bayern werde diese Leistungen von keinem Kostenträger berücksichtigt oder verrechnet. Auch Kostenträger anderer Länder hätte sich danach zu richten.

Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid des Landesamtes für Soziales, Jugend und Versorgung vom 31.05.2021 zurückgewiesen. Zur Begründung führte die Widerspruchsbehörde aus, gemäß § 19 Abs. 5 Satz 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) hätten Personen, die u.a. Hilfe zur Pflege erhielten und denen die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen möglich und zumutbar sei, für die erbrachten Leistungen dem Träger Sozialhilfe die Aufwendungen zu ersetzen. Die Voraussetzungen seien im Fall der Klägerin in einem Umfang von 2.000,00 € gegeben. Die Beklagte trage die Kosten der Betreuung der Klägerin in der Pflegeeinrichtung. Nach § 19 Abs. 3 SGB XII werde u.a. Hilfe zur Pflege nur geleistet, soweit dem Leistungsberechtigten und seinem nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartner die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach den Vorschriften der §§ 82 ff. SGB XII nicht zuzumuten sei. Nach § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB XII gehörten zum Einkommen alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert mit Ausnahmen der dort ausdrücklich genannten Leistungen. Hiernach sei auch das Bayerische Landespflegegeld als Einkommen anzusehen. Nach § 83 Abs. 1 SGB XII seien Leistungen, die aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften zu einem ausdrücklich genannten Zweck erbracht würden, nur soweit als Einkommen zu berücksichtigen, als die Sozialhilfe im Einzelfall demselben Zweck diene. Eine entsprechende Zweckbestimmung lasse sich für das Bayerische Landespflegegeld aus den Voraussetzungen für die Leistungsgewährung und den Zusammenhang der Regelung ableiten. Einen Anspruch auf Bayerisches Landespflegegeld hätten pflegebedürftige Personen, bei denen mindestens ein Pflegegrad 2 anerkannt worden sei. Die Pflegebedürftigkeit müsse von der Pflegekasse oder von einem Versicherungsunternehmen, das eine private Pflege-Pflichtversicherung durchführe, nach § 18 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) oder von einem Träger der Sozialhilfe nach § 62 SGB XII festgestellt sein. Die Zweckidentität ergebe sich auch daraus, dass das Bayerische Landespflegegeld, wie auch die Leistungen der Hilfe zur Pflege, der Unterstützung der pflegebedürftigen Personen und somit auch demselben Zweck diene.

Die Prozessbevollmächtigen der Klägerin haben mit Schriftsatz vom 18.06.2021, der beim Sozialgericht Nürnberg am 23.08.2021 eingegangen ist, Klage erhoben.

Das Gericht hat der Klägerin mit Beschluss vom 20.09.2021 Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt.

Die Beklagte hat unter dem 20.07.2021 ablehnend Stellung genommen.

Das Gericht hat der Klägerseite Akteneinsicht gewährt.

Die Prozessbevollmächtige der Klägerin hat die Klage unter dem 16.09.2021 näher begründet; das in den Jahren 2019 und 2020 gezahlte Landespflegegeld von jeweils 1.000,00 € sei entgegen der Auffassung der Beklagten nicht als anrechenbares Einkommen der Klägerin zu berücksichtigen. Gemäß der Zweckbestimmung in Art. 1 BayLPflGG solle mit dem Landespflegegeld das Selbstbestimmungsrecht der pflegebedürftigen Menschen jenseits der Gestaltung ihres Alltages über die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) über die Leistungen der Sozialhilfe (SGB XII) und über die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) hinaus gestärkt werden. Das Landespflegegeld diene damit nicht der Deckung des notwendigen pflegerischen Bedarfes, von Teilhabebedarfen oder der Existenzsicherung. Es solle auf Leistungen zur Deckung des pflegerischen Bedarfes und von Teilhabebedarfen sowie auf existenzsichernde Sozialleistungen nicht angerechnet werden.

Das Gericht hat die Beklagte zur Drucksache des Bayerischen Landtags 17/23219 vom 09.07.2018 angehört.

Die Beklagte hat zuletzt unter dem 28.09.2021 ablehnend Stellung genommen. Das Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie R. habe dem Sozialamt der Beklagten am 29.05.2019 mitgeteilt, dass es zur Berücksichtigung des Bayerischen Landespflegegeldes bei der Gewährung von Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII eine Anfrage beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales gestellt habe. Aus Sicht dieses Bundesministeriums gelte unter Berücksichtigung der Zweckbestimmung in Art. 1 BayLPflGG, dass die Leistungen nach dem BayLPflGG nach § 83 Abs. 1 SGB XII nicht auf andere Leistungen der Sozialhilfe nach den Kapiteln 3 bis 6 anzurechnen seien. Bei der Hilfe zur Pflege nach dem 7. Kapitel SGB XII sei das Bayerische Landespflegegeld jedoch als gleichartige Leistung im Sinne von § 63b Abs. 1 SGB XII einzustufen. Maßgeblich sei hier, dass die Leistung eine Pflegebedürftigkeit voraussetze. Die Nichtberücksichtigung der Leistungen nach § 83 Abs. 1 SGB XII komme für den Bereich der Hilfe zur Pflege insofern nicht in Betracht, als das Landespflegegeld im Hinblick auf die Leistungen der Hilfe zur Pflege demselben Zweck, also der Unterstützung pflegebedürftiger Personen diene. Die Beklagte sei gehalten, nach diesen Vorgaben zu verfahren. Die Beklagte hat ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Gerichtes ohne mündliche Verhandlung erteilt.

Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat unter dem 12.10.2021 mitgeteilt, mit einer Entscheidung des Gerichtes im schriftlichen Verfahren einverstanden zu sein. Die Klägerin halte an ihren Rechtsausführungen in der Klagebegründung vom 16.09.2021 fest. Die Zweckbestimmung in Art. 1 des BayLPflGG widerspreche der von der Beklagten vorgenommenen Anrechnung. Außerdem spreche auch der Gleichheitsgrundsatz gegen eine Anrechnung, weil die Klägerin hierdurch im Vergleich zu anderen Pflegebedürftigen, die in stationären Einrichtungen im Freistaat Bayern lebten, schlechter gestellt werde.


Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 17.07.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.05.2021 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat die Beklagtenakten beigezogen. Sie waren Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 17.07.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom des Landesamtes für Soziales, Jugend und Versorgung vom 31.05.2021 hält einer gerichtlichen Überprüfung nicht stand.

Die Beklagte durfte das von der Klägerin erhaltene Landespflegegeld aus den Jahren 2019 und 2020 in Höhe von insgesamt 2.000,00 € nicht auf die von ihr erbrachten Leistungen anrechnen bzw. einen entsprechenden Aufwendungsersatz in dieser Höhe von der Klägerin verlangen. § 83 Abs. 1 SGB XII lautet: "Leistungen, die aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften zu einem ausdrücklich genannten Zweck erbracht werden, sind nur soweit als Einkommen zu berücksichtigen, als die Sozialhilfe im Einzelfall demselben Zweck dient". Die Regelung des § 83 Abs. 1 SGB XII stellt eine Ausnahme von dem in § 82 SGB XII angelegten Prinzip dar, dass grundsätzlich alle Einnahmen ohne Rücksicht auf ihre Herkunft zur Selbsthilfe einzusetzen sind. Die Bedeutung der Vorschrift liegt darin, durch Privilegierungen den Anwendungsbereich des § 82 SGB XII einzuschränken. In der Kommentierung von Schmidt in: Schlegel/Voelzke, juris-PK-SGB XII, 3. Auflage, § 83 SGB XII (Stand: 01.02.2020) heißt es wörtlich in RdNr. 10: "Nur solche nicht dem SGB XII entspringende Einnahmen, deren ausdrücklich benannter Leistungszweck außerhalb der Sozialhilfe steht, sind von der Berücksichtigung als Einkommen ausgenommen".

Zur Überzeugung des Gerichtes steht fest, dass damit die Leistungen des Bayerischen Landespflegegeldgesetzes, - auch entgegen dem Gesetzesnamen - in vollem Umfang privilegiert im Sinne des § 83 Abs. 1 SGB XII sind. Denn der Bayerische Landtag hat - wie sich aus der Drucksache 17/23219 vom 09.07.2018 eindeutig ergibt - die Zweckbestimmung des Landespflegegeldes selbst definiert. In Art. 1 BayLPflGG heißt es: "Mit dem Landespflegegeld soll das Selbstbestimmungsrecht der pflegebedürftigen Menschen jederzeit der Geltung ihres Alltags über die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung (Elftes Buch Sozialgesetzbuch -SGB XI-), über die Leistungen der Sozialhilfe (Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch -SGB XII-) und über die Leistungen der Grundsicherung bei Arbeitsuchende (Zweites Buch Sozialgesetzbuch -SGB II-) hinaus gestärkt werden. Das Landespflegegeld dient damit nicht der Deckung des notwendigen pflegerischen Bedarfes, von Teilhabebedarfen oder Existenzsicherung. Es soll auf Leistungen zur Deckung des pflegerischen Bedarfes und von Teilhabebedarfen sowie auf existenzsichernde Sozialleistungen nicht angerechnet werden. Zur Begründung hieß es in dieser gesetzlichen Vorschrift, die durch den Änderungsantrag vom 09.07.2018 in das BayLPflGG eingeführt wurde heißt es: "Durch die Änderung wird eine ausdrückliche Zweckbestimmung des Gesetzes eingefügt: Das Bayerische Landespflegegeldgesetz verfolgt den Zweck, das Selbstbestimmungsrecht Pflegebedürftiger zu stärken, die mit der Pflegebedürftigkeit einhergehenden Einschränkungen zu mildern und auf diese Weise über die Absicherung des Zweiten, Elften und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB II, XI und XII) hinaus die Lebensgestaltung zu erleichtern. Anders als die Leistungen der Pflegeversicherung, der Sozialhilfe und der Grundsicherung für Arbeitssuchende ist das Landespflegegeld weder an den pflegerischen Bedarf noch an die in SGB II, XI und XII genannten Zwecke gebunden, auch muss keine regelmäßige Beratung wahrgenommen werden. Es betrifft nur Leistungen, die über den Bereich der Hilfe zur Pflege, Teilhabebedarfe oder existenzsichernde Leistungen hinausgehen. Es wird klargestellt, dass eine Anrechnung auf Leistungen nach dem SGB II, XI und XII, wie beispielweise Leistungen der Hilfe zur Pflege, der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen und zur Existenzsicherung nicht erfolgen soll".

Auf der Grundlage dieser gesetzlich gewollten Privilegierung ist das Gericht zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Anrechnung der von der Klägerin erhaltenen Leistungen nach dem BayLPflGG auf die von der Beklagten erbrachten Leistungen nicht erfolgen darf.

Dementsprechend war der angefochtene Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Zur Rechtsmittelbelehrung siehe nächste Seite.
 

 

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