L 8 SO 52/19

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 42 SO 61/18
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 8 SO 52/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 8 SO 1/22 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Ein Mehrbedarf für schwerbehinderte Menschen nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII ist nicht für rückwärtige Zeiträume zu gewähren, in denen der Betroffene Leistungen nach dem SGB II bezogen hat.

     
   
 

 

      1. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 30. April 2019 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
      2. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
      3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger der Mehrbedarf für gehbehinderte Menschen bei voller Erwerbsminderung für September und Oktober 2017 zusteht.

 

Der 1957 geborene Kläger ist anerkannter Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung von 100. Sein Schwerbehindertenausweis ist mit dem Merkzeichen "G" versehen (Bescheid des Beklagten vom 9. März 2016). Mit Bescheid vom 21. August 2017 bewilligte ihm der Beklagte Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1. September 2017 bis zum 28. Februar 2018, wobei er einen Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung berücksichtigte. Aufgrund des schweren Verlaufs seiner Krebserkrankung war beim Kläger ein BMI von unter 18,5 zu verzeichnen, weshalb krankheitsbedingt von einem erhöhten Ernährungsbedarf auszugehen sei.

 

Nachdem die Deutsche Rentenversicherung Bund dem Kläger mit Bescheid vom 8. November 2017 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung rückwirkend ab dem 1. September 2017 in Höhe von 346,16 Euro monatlich zuerkannt hatte, beantragte dieser beim Beklagten am 14. November 2017, ihm Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu gewähren. Über weitere Einkünfte oder Vermögen verfüge der Kläger nicht. Der Beklagte stellte die SGB II-Leistungen am 30. November 2017 ein, meldete aber zugleich einen Erstattungsanspruch nach § 104 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) an.

 

Am 16. November 2017 erging der Bescheid über die Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. Dezember 2017 bis zum 30. November 2018 in Höhe von 455,68 Euro monatlich, wobei der Beklagte einen Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung von 40,90 Euro monatlich bedarfsseitig ansetzte. Dagegen legte der Kläger am 23. November 2017 Widerspruch ein. Er meinte, ihm stünde ab September 2017 der Mehrbedarf für schwerbehinderte Menschen nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) zu. Die Rente beziehe der Kläger bereits seither. Zudem sei dem Beklagten die Schwerbehinderung des Klägers seinerzeit bekannt gewesen. Den darauf bezogenen Mehrbedarf habe der Kläger dem Beklagten bereits im Schreiben vom 9. August 2017 bekannt gemacht. Deshalb sei dieser Mehrbedarf auch rückwirkend zu zahlen (Bezug auf Hessisches LSG, Urteil vom 24. März 2011 – L 1 AS 15/10; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 12. Januar 2011 – L 20 SO 569/10 B).

 

Mit Schreiben vom 16. Januar 2018 wurde der Erstattungsanspruch des Beklagten als SGB II-Leistungsträger befriedigt für November 2017. Daraufhin hob er den Bescheid vom 16. November 2017 über die Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung auf und gewährte dem Kläger diese Leistungen für die Zeit vom 1. November 2017 bis zum 31. Oktober 2018 unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für kostenaufwendige Ernährung sowie des begehrten Mehrbedarfs für schwerbehinderte Menschen in Höhe von 69,53 Euro monatlich. Den weitergehenden Widerspruch wies der Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 7. Februar 2018). Für September und Oktober 2017 bestehe kein Anspruch auf diesen Mehrbedarf, da der Kläger seinerzeit SGB II-Leistungen bezogen und die ergänzende Grundsicherung nach dem SGB XII erst im November 2017 beantragt habe.

 

Dagegen hat sich die am 20. Februar 2018 vor dem Sozialgericht Dresden erhobene Klage gerichtet. Der Beklagte habe übersehen, dass der Kläger den Mehrbedarf wegen Schwerbehinderung bereits mit Schreiben vom 9. August 2017 geltend gemacht habe. Das Sozialgericht hat den Beklagten unter Änderung der Bescheide vom 16. November 2017 und 6. Februar 2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 7. Februar 2018 dazu verurteilt, dem Kläger für September und Oktober 2017 den Mehrbedarf für schwerbehinderte Menschen in Höhe von insgesamt 139,06 Euro zu gewähren (Urteil vom 30. April 2019). Auch wenn der Rentenversicherungsträger erst im November 2017 festgestellt habe, dass der Kläger seit September 2017 voll erwerbsgemindert sei, ändere dies nichts daran, dass bereits seither die grundsätzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von SGB XII-Leistungen vorgelegen hätten. Zudem habe der Kläger den Mehrbedarf als schwerbehinderter Mensch ausdrücklich bereits im August 2017 beantragt. Deshalb sei dieser Zuschlag ausnahmsweise rückwirkend bereits ab September 2017 zu zahlen (Bezug auf Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 30 Rn. 12). Das Sozialgericht hat die Berufung zugelassen.

 

Gegen das ihm am 6. Mai 2019 zugestellte Urteil wendet sich der Beklagte mit seiner am 3. Juni 2019 vor dem Sächsischen Landessozialgericht eingelegten Berufung. Der streitige Mehrbedarf stehe dem Kläger nicht zu. Bis Ende Oktober 2017 seien dem Kläger SGB II-Leistungen zu gewähren gewesen, da die volle Erwerbsminderung noch nicht festgestellt gewesen sei (Bezug auf § 44a SGB II). Da der Kläger auf die erfolgte Feststellung des Rentenversicherungsträgers am 14. November 2017 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung beantragt habe, sei es nur möglich gewesen, diese Leistungen ab dem 1. November 2017 zu bewilligen, da der Antrag Anspruchsvoraussetzung sei. Darüber hinaus habe das Jobcenter den Antrag des Klägers auf die Gewährung des genannten Mehrbedarfs abgelehnt (Widerspruchsbescheid vom 31. August 2017). Nachdem dagegen keine Klage erhoben worden sei, sei der Bescheid bestandskräftig geworden.

 

Der Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 30. April 2019 aufzuheben und die
Klage abzuweisen.

 

Der Kläger beantragt,

 

            die Berufung zurückzuweisen.

 

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Ergänzend trägt er vor, dass er im Schreiben vom 9. August 2017 ausdrücklich einen Mehrbedarf nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII beantragt habe. Die ablehnende Entscheidung im Widerspruchsbescheid vom 31. August 2017 habe sich daher nicht auf den erhobenen Anspruch bezogen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Beklagten verurteilt, dem Kläger einen Mehrbedarf für schwerbehinderte Menschen für September und Oktober 2017 zu zahlen, weil dafür die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorliegen.

 

Gegenstand des Verfahrens ist der "Änderungsbescheid" vom 6. Februar 2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 7. Februar 2018 (§ 95 SGG), mit dem der Beklagte den Bescheid vom 16. November 2017 im Sinne einer Teilabhilfe nach § 85 Abs. 1 SGG zu Gunsten des Klägers aufgehoben und seinen Widerspruch im Übrigen als unbegründet zurückgewiesen hat. Darin liegt zugleich die Ablehnung der beantragten Gewährung des pauschalierten Mehrbedarfs nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII für September und Oktober 2017 (vgl. dazu Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 25. April 2018 – B 8 SO 25/16 R – juris Rn. 11).

 

Der Streitgegenstand des Verfahrens ist wirksam beschränkt auf die Zuerkennung des pauschalierten Mehrbedarfs nach § 30 Abs. 1 SGB XII; im Streit steht nicht die Zuerkennung höherer Grundsicherungsleistungen unter jedem denkbaren Gesichtspunkt, insbesondere nach § 27a Abs. 4 SGB XII. Der Vortrag des Klägers lässt keinen anderen Schluss zu. Konkrete Mehraufwendungen wegen seiner Gehbehinderung oder Gesichtspunkte, die die Gewährung höherer Leistungen aus anderen Gründen rechtfertigen könnten, hat er auch nicht behauptet. Sein Klagebegehren verfolgt der Kläger zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1, 4, § 56 SGG).

 

Nach § 41 Abs. 1 SGB XII erhalten Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, sofern sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus Einkommen und Vermögen nach § 43 SGB XII bestreiten können. Die Bedarfe erfassen unter anderem die zusätzlichen Bedarfe nach dem Zweiten Abschnitt des Dritten Kapitels (§ 42 Nr. 2 SGB XII), darunter der hier streitgegenständliche Mehrbedarf nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII.

 

Demnach wird für Personen, die – wie der Kläger – die Altersgrenze nach § 41 Abs. 2 SGB XII noch nicht erreicht haben und voll erwerbsgemindert nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) sind und durch einen Bescheid der nach § 152 Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) zuständigen Behörde oder einen Ausweis nach § 152 Abs. 5 SGB IX die Feststellung des Merkzeichens "G" nachweisen, ein Mehrbedarf von 17 vom Hundert der maßgeblichen Regelbedarfsstufe anerkannt, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht.

 

Diese Voraussetzungen liegen beim Kläger seit dem 1. November 2017 vor. Der Bescheid über die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers sowie das Merkzeichen "G" datiert vom 9. März 2016. Der zuständige Rentenversicherungsträger hat dem Kläger die Rente wegen voller Erwerbsminderung im November 2017 bewilligt, und zwar rückwirkend ab dem 1. September 2017, woraus der Kläger die Anspruchsberechtigung für den geltend gemachten Mehrbedarf bereits ab diesem Zeitpunkt ableitet. Dieser Ansicht vermag der Senat jedoch – anders als das Sozialgericht – nicht zu folgen. Dieses hat sein Urteil maßgeblich auf die Annahme gestützt, dass die grundsätzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von SGB XII-Leistungen bereits seinerzeit vorgelegen hätten. Bei näherer Betrachtung trifft dies allerdings nicht zu.

 

Übersehen hat das Sozialgericht, dass die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung einen Antrag erfordert (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Dieser wirkt auf den ersten des Kalendermonats zurück, in dem er gestellt wird, wenn die Voraussetzungen des § 41 SGB XII innerhalb dieses Kalendermonats erfüllt werden. Der Antrag auf Grundsicherungsleistungen hat in der Regel nicht nur formelle Bedeutung dahingehend, dass mit ihm ein Verwaltungsverfahren in Gang kommt. Vielmehr ist er auch materiell-rechtlich notwendig für das Entstehen des Sozialrechtsverhältnisses. Ohne einen Antrag kann die Leistung nicht gewährt werden (Scheider in: Schellhorn/Hohm/Scheider/Legros, SGB XII, 20. Aufl. 2020, § 44 Rn. 7). Eine ausdrückliche Bestimmung, ab wann Leistungen nach dem Vierten Kapitel zu erbringen sind, findet sich im SGB XII nicht. Insoweit ist auf die allgemeinen Vorschriften im Ersten Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) zurückzugreifen. Nach § 40 Abs. 1 SGB I entstehen Ansprüche auf Sozialleistungen, sobald ihre im Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen. Sie werden mit ihrem Entstehen fällig, soweit die besonderen Teile des SGB keine Regelung enthalten (§ 41 SGB I). Die Voraussetzungen für Leistungen nach dem Vierten Kapitel finden sich in § 41 SGB XII sowie hinsichtlich des erforderlichen Antrags in § 44 Abs. 1 SGB XII. Allein aus der Rückwirkung des Antrags auf den Ersten des Monats in § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB XII kann noch nicht geschlossen werden, dass die übrigen Voraussetzungen ebenfalls bereits ab dem Monatsersten als erfüllt gelten. Als für Leistungen nach dem Vierten Kapitel maßgebende Regelung im Sinne des SGB I kann allerdings auf § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB XII zurückgegriffen werden. Danach werden im Regelfall Leistungen zur Deckung von Bedarfen nach § 42 SGB XII nicht für Zeiten vor dem sich nach § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB XII ergebenden Kalendermonat erbracht. Im Umkehrschluss ist daraus zu entnehmen, dass die Leistungen für den vollen Kalendermonat zu erbringen sind, in dem die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen einschließlich des erforderlichen Antrags vorliegen (Scheider in: Schellhorn/Hohm/Scheider/Legros, SGB XII, 20. Aufl. 2020, § 44 Rn. 16). Dies war im Falle des Klägers – wie oben aufgezeigt – erst im November 2017 der Fall (nachdem er Grundsicherungsleistungen am
14. November 2017 beantragt hatte). Daher konnte der Beklagte Leistungen erst ab dem 1. November 2017 bewilligen, wie er es schließlich im Teilabhilfebescheid verfügt hat.

 

Ein davon abweichender Bewilligungszeitraum war ebenfalls nicht anzusetzen. Zwar ist der Formulierung in § 44 Abs. 3 Satz 3 SGB XII zu entnehmen, dass eine solche Möglichkeit außer in den dort genannten Fällen des Erreichens der Altersgrenze nach § 7a SGB II durchaus in Betracht gezogen werden könnte. Allerdings ist im Hinblick auf den Kläger zu berücksichtigen, dass dieser bis zum 31. Oktober 2017 SGB II-Leistungen bezogen hat. Gemäß § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II wird das Vorliegen der Erwerbsfähigkeit fingiert, bis die volle Erwerbsminderung durch den Träger der Rentenversicherung festgestellt worden ist. Wendet sich der Hilfebedürftige zuvor an den Sozialhilfeträger, darf dieser auf die Zuständigkeit des SGB II-Leistungsträgers verweisen (vgl. Blüggel in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 44a Rn. 73). Bis zur erwähnten Feststellung der vollen Erwerbsminderung besteht für SGB II-Leistungsbezieher der Ausschluss von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 21 Satz 1 SGB XII. Vor diesem Hintergrund kann der Kläger aus seinem gegenüber dem SGB II-Leistungsträger gestellten Antrag auf den begehrten Mehrbedarf nichts herleiten; zumal er den Widerspruchsbescheid vom 31. August 2017 nicht angefochten hat. Der Sache nach wäre ein Rechtsbehelf auch nicht erfolgversprechend gewesen. Denn der Kläger hätte seinerzeit als (fingiert) erwerbsfähiger Leistungsberechtigter allenfalls den Mehrbedarf nach § 19 Abs. 1 Satz 3 SGB II in Verbindung mit § 21 Abs. 4 SGB II erhalten können. Die dafür notwendigen Anspruchsvoraussetzungen lagen jedoch nicht vor. Denn ihm wurden weder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 49 SGB IX sowie sonstige Hilfen zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben erbracht noch Eingliederungshilfen nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 SGB XII in der bis zum 31. Dezember 2019 gültigen Fassung gewährt.

 

Aus den zitierten Entscheidungen des LSG Nordrhein-Westfalen sowie des Hessischen LSG vermag der Kläger ebenfalls nichts herzuleiten. Dem Beschluss des LSG Nordrhein-Westfalen vom 12. Januar 2011 (Az.: L 20 SO 569/10 B) lag eine andere, nicht vergleichbare Fallgestaltung zugrunde. Die dortige Antragstellerin erhielt bereits seit längerer Zeit Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII. Damit stellten sich die Fragen nicht, die im Falle des Klägers ausschlaggebend sind: der SGB II-Leistungsbezug bei gesetzlich fingierter Erwerbsfähigkeit, der damit verbundene Ausschluss von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach §§ 42, 27 ff SGB XII in Verbindung mit § 21 Satz 1 SGB XII bis zur Feststellung der vollen Erwerbsminderung gemäß § 21 Satz 3 SGB XII und in Ausnahme vom "Kenntnisgrundsatz" nach § 18 Abs. 1 SGB XII die notwendige (Erst-)Antragstellung hinsichtlich der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung mit der gesetzlich angeordneten Rückwirkung auf den Ersten des Kalendermonats (hier: 1. November 2017), in dem der Antrag gestellt wird (§ 44 Abs. 2 Satz 1 SGB XII). Auch der Sachverhalt, der dem Urteil des Hessischen LSG vom 24. März 2011 (Az.: L 1 AS 15/10) zugrunde gelegen hat, ist nicht vergleichbar. Denn dort ging es darum, ob ein schwerbehinderter Mensch, dem diese Eigenschaft rückwirkend zuerkannt worden war, mit der Aushändigung des Ausweises oder bereits im Zeitpunkt der rückwirkenden Feststellung dazu berechtigt ist, den Mehrbedarf nach § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II in der Fassung vom 20. Juli 2006 (= § 23 Nr. 4 SGB II n.F.) zu beziehen. Auch diese Frage stellt sich im Falle des Klägers nicht. Sein Schwerbehindertenausweis wurde bereits im März 2016 ausgestellt.

 

Auch die vom Sozialgericht in Bezug genommene Kommentierung von Wrackmeyer-Schoene (in: Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 7. Aufl. 2020, § 30 Rn. 12) vermag zu keiner anderen Sichtweise zu führen. Demnach ist der Zuschlag nach § 30 SGB XII rückwirkend zu bewilligen, sofern die Feststellungen im Rentenverfahren oder im sozialhilferechtlichen Verfahren ergeben, dass die Voraussetzungen der vollen Erwerbsminderung ab einem bestimmten Datum in der Vergangenheit vorgelegen haben. Diesen Ausführungen folgt der Senat nicht. Das BSG hat im Urteil vom 25. April 2018 (Az.: B 8 SO 25/16 R – juris Rn. 18) betont, dass Sozialhilfe grundsätzlich einen aktuellen Bedarf decken soll ("Gegenwärtigkeitsprinzip") und nicht für vergangene Zeiträume zu erbringen ist, in denen etwa ein bestehender (Mehr-)Bedarf nicht gedeckt wurde. Dabei bleibe es dem Betroffenen unbenommen, bis zur Feststellung der gesetzlichen Voraussetzungen eines behinderungsbedingten Mehrbedarfs gemäß § 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII durch Nachweis konkreter höherer Aufwendungen geltend zu machen (BSG, Urteil vom 25. April 2018 – B 8 SO 25/16 R – juris Rn. 16). Dies war dem Kläger als SGB II-Leistungsempfänger während des streitgegenständlichen Zeitraums zwar nicht möglich (wegen des oben dargestellten Ausschlusses von SGB XII-Leistungen). Der Kläger hätte aber gegenüber dem SGB II-Leistungsträger konkret nachweisbare Mehrbedarfe wegen seiner Schwerbehinderung geltend machen können gemäß § 21 Abs. 6 SGB II bzw. § 24 Abs. 1 SGB II. Vor diesem Hintergrund ist für die rückwirkende Gewährung des für erwerbsfähige schwerbehinderte Menschen nach dem SGB II nicht vorgesehenen Mehrbedarfs entsprechend § 30 SGB XII kein Raum.

 

Dass ein solcher Mehrbedarf im SGB II nur für die Bezieher von Sozialgeld besteht, ist verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. BSG, Urteil vom 21. Dezember 2009 – B 14 AS 42/08 R – juris Rn. 25, 26). Die Anknüpfung an die Erwerbsfähigkeit eines Hilfebedürftigen ist hinreichendes Differenzierungskriterium mit Blick auf Art. 3 Grundgesetz (GG). Diese Differenzierung gründet in dem Kernanliegen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, in erster Linie Arbeitslose in Arbeit zu integrieren (§ 1 Abs. 1 Satz 2 SGB II). Erwerbsfähige Hilfebedürftige im Sinne des § 8 SGB II haben gegenüber nicht erwerbsfähigen Personen grundsätzlich die Möglichkeit, durch den Einsatz ihrer Arbeitskraft Hilfebedürftigkeit zu überwinden und so auch die spezifischen Bedarfe abzudecken, die § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII bzw. für die Bezieher von Sozialgeld § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II a.F. in Bezug nimmt. Ihnen werden dabei vor dem Hintergrund ihrer Erwerbsfähigkeit gegenüber nicht erwerbsfähigen Personen größere Selbstverpflichtungen auferlegt, gerade weil sie noch in der Lage sind, ihre Arbeitskraft zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts einzusetzen. Andererseits eröffnet die Erwerbsfähigkeit den uneingeschränkten Zugang zu den Eingliederungsleistungen nach §§ 16 ff SGB II, während für nicht erwerbsfähige Hilfebedürftige solche Leistungen – wenn überhaupt – nur eingeschränkt in Betracht kommen können. Zwar bestehen für erwerbsfähige, gehbehinderte Hilfebedürftige zusätzliche Eingliederungs- und Vermittlungshemmnisse, deren Beseitigung entsprechende Kosten auslösen kann. Behinderungsbedingte Nachteile auf dem Arbeitsmarkt, die zugleich den Zugang zu umfassenden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben eröffnen, werden aber – für den Fall das solche Leistungen tatsächlich in Anspruch genommen werden (was beim Kläger nicht der Fall war, s.o.) – im Wesentlichen durch den höheren Mehrbedarf nach § 21 Abs. 4 SGB II abgedeckt. Dem entsprechend entfällt der Anspruch auf einen Mehrbedarf nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII bzw. § 23 Nr. 4 SGB II auch für voll erwerbsgeminderte Hilfebedürftige, soweit sie ausnahmsweise Leistungen der Eingliederungshilfe in Anspruch nehmen und damit ebenfalls einen Mehrbedarf entsprechend § 21 Abs. 4 SGB II erhalten (vgl. §§ 30 Abs. 4, 42b Abs. 3 SGB XII und § 23 Nr. 4 SGB II). Die Abgrenzung der Fallkonstellationen folgt daher sachgerecht ausgehend von der gesetzgeberischen Grundvorstellung, wonach kein Grund für die Gewährung eines Mehrbedarfs bestehe, sofern die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt dauerhaft möglich erscheine (vgl. BSG, Urteil vom 21. Dezember 2009 – B 14 AS 42/08 R – juris Rn. 26).

 

Demgemäß war die Berufung des Beklagten erfolgreich, da dem Kläger der geltend gemachte Mehrbedarf für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht zusteht.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Die Nichtzulassung der Revision folgt aus § 160 Abs. 2 SGG.

 

Rechtskraft
Aus
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