L 3 AL 1847/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
3.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 13 AL 2973/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 AL 1847/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Der Herstellungsanspruch kann einen Versicherungsträger nur zu einem Tun oder Unterlassen verpflichten, das rechtlich zulässig ist.
2. Kommt die Verwaltung ihrer gesteigerten Informations- und Beratungspflicht nicht nach, greift der sozialrechtliche Herstellungsanspruch nur insoweit, als sie den Leistungsempfänger dann so zu stellen hat, als hätte er die Lohnsteuerklasse nicht gewechselt.
3. Wegen der Tatbestandswirkung einer eingetragenen Lohnsteuerklasse ist aber eine Heilung über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch, indem die eingetragene durch eine günstigere Lohnsteuerklasse ersetzt wird, nicht möglich, wenn ein Lohnsteuerklassenwechsel von den Ehegatten beziehungsweise Lebenspartnern nicht vorgenommen worden ist.

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 29.04.2021 wird zurückgewiesen.

 

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

 

Zwischen den Beteiligten ist im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens die Berücksichtigung der Lohnsteuerklasse IV mit Faktor bei der Bemessung der Höhe des Arbeitslosengeldes auch für die Zeit vom 01.05.2011 bis zum 31.10.2011 und vom 01.01.2012 bis zum 27.10.2012 streitig.

Die im Jahr 1966 geborene Klägerin meldete sich, nachdem sie nach der Insolvenz ihrer ehemaligen Arbeitgeberin mit Ablauf des 30.04.2011 unwiderruflich von der Arbeit freigestellt und ihr Arbeitsverhältnis durch den Insolvenzverwalter zum 31.07.2011 gekündigt worden war, am 02.05.2011 arbeitslos und beantragte die Bewilligung von Arbeitslosengeld. Sie gab im Antragsformular unter anderem an, dass zu Jahresbeginn die Lohnsteuerklasse V auf ihrer Lohnsteuerkarte eingetragen gewesen sei, und beantwortete darin die Frage nach einem Wechsel der Lohnsteuerklasse im Laufe des Jahres nicht.

Die Beklagte bewilligte sodann mit Bescheid vom 23.05.2011 Arbeitslosengeld für die Zeit vom 01.05.2011 bis zum 30.04.2012 unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse V.

Hiergegen legte die Klägerin am 23.06.2011 Widerspruch mit der Begründung ein, dass unter anderem bei der Berechnungsgrundlage der Lohnsteuerklassenwechsel von V auf IV nicht berücksichtigt worden sei.

Die Klägerin legte unter dem 30.08.2011 auf Anforderung der Beklagten eine Lohnsteuerkarte vor, in der ab dem 01.03.2011 die Lohnsteuerklasse IV eingetragen war.

Den Aufforderungen der Beklagten vom 27.09.2011 und vom 10.10.2011, eine Bescheinigung des Finanzamtes oder eines Steuerberaters einzureichen, aus der sich ergibt, dass die neu eingetragene Lohnsteuerklassenkombination dem Verhältnis der Arbeitsentgelte entspreche, wenn sie im Monat ihrer erstmaligen Wirksamkeit nach der Tabelle zur Lohnsteuerklassenwahl zum geringsten gemeinsamen Lohnsteuerabzug führe, kam die Klägerin nicht nach.

Mit Widerspruchsbescheid vom 24.10.2011 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zum insoweit maßgebenden Beginn des Jahres 2011 sei auf der Lohnsteuerkarte die Lohnsteuerklasse V eingetragen gewesen. Weiter habe seitens der Beklagten aufgrund der mehrfach angeforderten, jedoch nicht eingereichten Unterlagen nicht geklärt werden können, ob der Lohnsteuerklassenwechsel beachtlich gewesen sei, so dass weiterhin auf die Lohnsteuerklasse V abzustellen sei.

Sodann legte die Klägerin unter dem 14.11.2011 eine Lohnsteuerkarte vor, in der für die Zeit vom 01.11.2011 bis zum 31.12.2011 die Lohnsteuerklasse IV mit Faktor eingetragen war.

Gegen den Widerspruchsbescheid vom 24.10.2011 erhob die Klägerin am 24.11.2011 beim Sozialgericht (SG) Mannheim die unter dem Aktenzeichen S 15 AL 3982/11 geführte und auf die Gewährung höheren Arbeitslosengeldes unter Berücksichtigung der Lohnsteuerklasse IV mit Faktor ab dem 01.05.2011 gerichtete Klage.

Sodann erließ die Beklagte wegen der Teilnahme an einer Maßnahme zur beruflichen Weiterbildung den Änderungsbescheid vom 29.11.2011 für die Zeit ab dem 22.11.2011, den Änderungsbescheid vom 20.02.2012 für die Zeit ab dem 01.02.2012 und den Änderungsbescheid vom 19.06.2012 für die Zeit vom 16.05.2012 bis zum 27.07.2012, jeweils unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse V.

Im weiteren Verlauf erließ die Beklagte den Änderungsbescheid vom 10.01.2013, mit dem sie das Arbeitslosengeld für die Zeit vom 01.11.2011 bis zum 21.11.2011 unter Berücksichtigung der Lohnsteuerklasse IV mit Faktor bewilligte, und den weiteren Änderungsbescheid vom 10.01.2013, mit dem sie das Arbeitslosengeld für die Zeit vom 22.11.2011 bis zum 31.12.2011 unter Berücksichtigung der Lohnsteuerklasse IV mit Faktor und für die Zeit vom 01.01.2012 bis zum 15.05.2012 unter Berücksichtigung der Lohnsteuerklasse V bewilligte.

Daraufhin nahm die Klägerin im Erörterungstermin vom 10.01.2013 das auf die Bewilligung von Arbeitslosengeld unter Berücksichtigung der Lohnsteuerklasse IV mit Faktor für die Zeit vom 01.11.2011 bis zum 31.12.2011 gerichtete Teilanerkenntnis der Beklagten an und erklärte den Rechtsstreit für erledigt.

Den gegen die Änderungsbescheide vom 10.01.2013 am 05.02.2013 eingelegten Widerspruch verwarf der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 06.02.2013 als unzulässig.

Die Beklagte erließ den Änderungsbescheid vom 26.09.2013 für die Zeit vom 22.11.2011 bis zum 15.05.2012, den Änderungsbescheid vom 06.11.2013 für die Zeit vom 22.11.2011 bis zum 15.05.2012 und den Änderungsbescheid vom 13.02.2014 für die Zeit vom 01.05.2011 bis zum 21.11.2011, jeweils unter Zugrundelegung der bislang berücksichtigten Lohnsteuerklassen.

Die Klägerin erhob am 31.12.2014 die unter dem Aktenzeichen S 15 AL 5/15 geführte und auf die Gewährung höheren Arbeitslosengeldes unter Berücksichtigung der Lohnsteuerklasse IV mit Faktor vom 01.05.2011 bis zum 31.10.2011 und ab dem 01.01.2012 sowie auf die Gewährung von Schadensersatz aufgrund eines Amtshaftungsanspruchs gerichtete Klage.

Im Rahmen des Klageverfahrens stellte sie mit Schriftsatz vom 30.03.2015 einen Überprüfungsantrag.

Das SG Mannheim trennte mit Beschluss vom 04.01.2018 das auf die Geltendmachung eines Amtshaftungsanspruchs gerichtete Verfahren ab und verwies dieses sodann unter dem Aktenzeichen S 15 AL 66/18 geführte Verfahren mit Beschluss vom 28.08.2018 an das Landgericht Heidelberg, bei dem dieses Verfahren unter dem Aktenzeichen 4 O 298/18 geführt wird.

Zuvor hatte das SG Mannheim die nach erfolgter Abtrennung weiter geführte Klage mit Gerichtsbescheid vom 14.02.2018 mit der Begründung abgewiesen, diese sei unzulässig.

Hiergegen legte die Klägerin beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg am 19.03.2018 die unter dem Aktenzeichen L 3 AL 1053/18 geführte Berufung ein. Im Rahmen dieses Berufungsverfahrens verpflichtete sich die Beklagte in dem im Erörterungstermin vom 27.06.2018 geschlossenen Vergleich, den Schriftsatz der Klägerin vom 30.03.2015 als Antrag auf Überprüfung des Bescheides vom 23.05.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2011 auszulegen, und erklärten die Beteiligten den Rechtsstreit für erledigt.

Sodann führte die Beklagte in ihrem Bescheid vom 21.08.2018 aus, der Bescheid vom 23.05.2011 bleibe unverändert. Den hiergegen am 22.09.2018 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24.09.2018 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 23.10.2018 beim SG Mannheim Klage erhoben.

Mit Gerichtsbescheid vom 29.04.2021 hat das SG Mannheim die Klage abgewiesen.

Das von der Klägerin begehrte Ergebnis eines höheren Arbeitslosengeldes lasse sich nicht aus der geltend gemachten Berücksichtigung der Lohnsteuerklasse IV mit Faktor ableiten, weil diese im strittigen Zeitraum nicht auf der Lohnsteuerkarte eingetragen gewesen sei. Die Feststellung der Lohnsteuerklasse richte sich aber nach der Lohnsteuerklasse, die zu Beginn des Jahres, in dem der Anspruch entstanden sei, auf der Lohnsteuerkarte des Arbeitslosen eingetragen gewesen sei. Dies sei hier die Lohnsteuerklasse V gewesen. Im Falle eines Wechsels der Lohnsteuerklasse durch die Ehegatten würden die neu eingetragenen Lohnsteuerklassen von dem Tage an berücksichtigt, an dem sie wirksam würden, wenn die neue eingetragene Lohnsteuerklasse dem Verhältnis der monatlichen Arbeitsentgelte beider Ehegatten entspreche oder sich auf Grund der neu eingetragenen Lohnsteuerklassen ein Arbeitslosengeld ergebe, das geringer sei, als das Arbeitslosengeld, das sich ohne den Wechsel der Lohnsteuerklasse ergäbe. Daher sei vorliegend die Lohnsteuerklasse IV mit Faktor lediglich für die Zeit vom 01.11.2011 bis zum 31.12.1011 zu berücksichtigen, wie es die Beklagte bereits getan habe. Für die übrige Zeit sei die Lohnsteuerklasse IV mit Faktor nie eingetragen gewesen. Dass für die übrigen Monate ein Wechsel wirksam geworden sei, ergebe sich nicht. Der Lohnsteuerkarte komme insoweit Tatbestandswirkung in Bezug auf die jeweilige Lohnsteuerklasse und den Zeitpunkt der Änderung zu, weil sonst in die Zuständigkeit der Finanzverwaltung eingegriffen würde. Eine eigenständige Prüfkompetenz für die Beklagte bestehe nicht.

Anderes lasse sich auch nicht aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch herleiten. Er habe zur Voraussetzung, dass der Sozialleistungsträger eine ihm auf Grund Gesetzes oder bestehenden Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Auskunft und Beratung verletzt habe. Zudem müsse zwischen der Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem Nachteil des Betroffenen ein ursächlicher Zusammenhang bestehen und der durch pflichtwidriges Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil müsse durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können. Die Korrektur müsse also mit dem jeweiligen Gesetzeszweck in Einklang stehen. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch könne deshalb lediglich insoweit in Betracht kommen, als ein schädlicher und aufgrund von Beratungspflichten vorgenommener Lohnsteuerklassenwechsel unbeachtet bleibe und so die zuvor eingetragene Lohnsteuerklasse angewandt werde. Nicht aber könne eine andere, nicht eingetragene Lohnsteuerklasse Anwendung finden, selbst wenn fehlerhaft nicht über die Möglichkeit der Änderung beraten worden sei. Dies würde eine gesetzeswidrige (weil in der Zuständigkeit der Finanzämter liegende) Amtshandlung beinhalten. Der Lohnsteuerkarte komme insoweit Tatbestandswirkung zu.

Hiergegen hat die Klägerin am 28.05.2021 Berufung zum LSG Baden-Württemberg eingelegt. Bei ihrer persönlichen Vorsprache im Mai 2011 und der Ansprache zur Lohnsteuerklasse IV sei sie über die Möglichkeiten des Faktorverfahrens nicht informiert worden. Damit habe die Beklagte verschwiegen, dass ein Wechsel in die Lohnsteuerklasse IV mit Faktor immer beachtlich sei. Eine rechtzeitige korrekte Beratung durch die Beklagte hätte dazu geführt, dass sie sich beim Finanzamt die Lohnsteuerklasse IV mit Faktor hätte eintragen lassen. Es bestehe vor allem hinsichtlich der leistungsrechtlichen Gefahren, die mit einem Lohnsteuerklassenwechsel verbunden seien, eine Beratungspflicht der Arbeitsagenturen. Genauso dringlich sei es, gerade arbeitslose Ehefrauen auf die Möglichkeit des Wechsels in die Lohnsteuerklasse IV mit Faktor hinzuweisen. Denn diese günstige Gestaltungsmöglichkeit sei den Betroffenen kaum bekannt. Soweit die Beklagte diesen Hinweis unterlasse und eine Frau weiterhin Arbeitslosengeld auf Basis der Lohnsteuerklasse V erhalte beziehungsweise ihr, weil sie nur in die Lohnsteuerklasse IV statt in die Lohnsteuerklasse IV mit Faktor gewechselt sei, eine günstigere Berechnung des Arbeitslosengeldes verweigert werde, komme der sozialrechtliche Herstellungsanspruch in Frage, durch den eine Korrektur fehlerhaften Verwaltungshandelns erfolge. Im Übrigen sei darauf hinzuweisen, dass die Beklagte ihr die Änderungsbescheide für die Zeit vom 01.11.2011 bis zum 31.12.2011 erst am 10.01.2013 ausgehändigt habe und sie somit erst zu diesem Zeitpunkt davon erfahren habe, dass die Lohnsteuerklasse IV mit Faktor nun doch anerkannt worden sei. Hieraus erschließe sich unstreitig der Nachweis, dass, wenn die Beklagte ihrer Verpflichtung zur Beratung bereits im Mai 2011 nachgekommen wäre, die Lohnsteuerkasse IV mit Faktor schon Monate früher zum Tragen gekommen wäre. Außerdem habe die Beklagte dadurch, dass sie im Änderungsbescheid für die Zeit ab dem 01.01.2012 wieder die Lohnsteuerklasse V zu Grunde gelegt habe, ihr die Möglichkeit genommen, darauf reagieren zu können. Nach alledem sei sie im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als hätte sie den Wechsel in Kenntnis der Sachlage durch eine korrekte Beratung durch die Beklagte bereits im Mai 2011 vorgenommen.

 

Die Klägerin beantragt,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 29.04.2021 und den Bescheid der Beklagten vom 21.08.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.09.2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 23.05.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2011 sowie der Änderungsbescheide vom 29.11.2011, vom 20.02.2012, vom 19.06.2012, vom 10.01.2013, vom 26.09.2013, vom 06.11.2013 und vom 13.02.2014 abzuändern und ihr höheres Arbeitslosengeld unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse IV mit Faktor auch für die Zeit vom 01.05.2011 bis zum 31.10.2011 und vom 01.01.2012 bis zum 27.10.2012 zu gewähren.

 

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält die angefochtenen Bescheide für zutreffend.

Auf Anfrage des Berichterstatters hat die Beklagte unter dem 03.11.2021 mitgeteilt, der Klägerin sei Arbeitslosengeld vom 01.05.2011 bis zum 31.10.2011 in Höhe von täglich 30,80 € (insgesamt 5.544,00 €), vom 01.11.2011 bis zum 31.12.2011 in Höhe von täglich 39,86 € (insgesamt 2.391,60 €) und vom 01.01.2012 bis zum 27.10.2012 in Höhe von täglich 30,80 € (insgesamt 9.147,60 €) gewährt worden. Unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse IV mit Faktor anstatt der Lohnsteuerklasse V hätte sich Arbeitslosengeld vom 01.05.2011 bis zum 31.10.2011 in Höhe von täglich 39,86 € (insgesamt 7.174,80 €) und vom 01.01.2012 bis zum 27.10.2012 in Höhe von täglich 39,86 € (insgesamt 11.838,42 €) ergeben.

 

Entscheidungsgründe

 

Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte, nach § 151 SGG form- und fristgerechte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist die Aufhebung des auf die kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage der Klägerin im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG ergangenen Gerichtsbescheides des SG Mannheim vom 29.04.2021 sowie des Bescheides der Beklagten vom 21.08.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.09.2018 und die Verurteilung der Beklagten, den Bescheid vom 23.05.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2011 sowie der Änderungsbescheide vom 29.11.2011, vom 20.02.2012, vom 19.06.2012, vom 10.01.2013, vom 26.09.2013, vom 06.11.2013 und vom 13.02.2014, soweit diese die Zeit vom 01.05.2011 bis zum 31.10.2011 und vom 01.01.2012 bis zum 27.10.2012 betreffen, abzuändern und ihr höheres Arbeitslosengeld unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse IV mit Faktor auch für die Zeit vom 01.05.2011 bis zum 31.10.2011 und vom 01.01.2012 bis zum 27.10.2012 zu gewähren.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die teilweise Abänderung des Bescheides vom 23.05.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2011 sowie der Änderungsbescheide vom 29.11.2011, vom 20.02.2012, vom 19.06.2012, vom 10.01.2013, vom 26.09.2013, vom 06.11.2013 und vom 13.02.2014 und auf die Gewährung höheren Arbeitslosengeldes unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse IV mit Faktor auch für die Zeit vom 01.05.2011 bis zum 31.10.2011 und vom 01.01.2012 bis zum 27.10.2012.

Rechtsgrundlage für die begehrte teilweise Rücknahme des Bescheides vom 23.05.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2011 sowie der Änderungsbescheide vom 29.11.2011, vom 20.02.2012, vom 19.06.2012, vom 10.01.2013, vom 26.09.2013, vom 06.11.2013 und vom 13.02.2014 ist § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X, wonach, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen ist.

Rechtsgrundlage für das der Bemessung des Arbeitslosengeldes zu Grunde zu legenden Leistungsentgelts ist vorliegend § 133 SGB III in der Fassung vom 22.12.2010 (a. F.).

Unter Zugrundelegung dieser Vorschrift hat die Beklagte zu Recht der Bemessung des Arbeitslosengeldes für die Zeit vom 01.05.2011 bis zum 31.10.2011 und für die Zeit vom 01.01.2012 bis zum 27.10.2012 die Lohnsteuerklasse V und nicht die Lohnsteuerklasse IV mit Faktor zu Grunde gelegt. Denn die Feststellung der Lohnsteuer richtet sich gemäß § 133 Abs. 2 Satz 1 SGB III a. F. nach der Lohnsteuerklasse, die zu Beginn des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist, auf der Lohnsteuerkarte des Arbeitslosen eingetragen war. Dies war vorliegend nach den Angaben der Klägerin im Antragsformular die Lohnsteuerklasse V. Ausweislich der von der Klägerin vorgelegten Lohnsteuerkarte ist die Lohnsteuerklasse IV mit Faktor nur für die Zeit vom 01.11.2011 bis zum 31.12.2011 eingetragen worden. Spätere Änderungen der eingetragenen Lohnsteuerklasse werden gemäß § 133 Abs. 2 Satz 2 SGB III a. F. mit Wirkung des Tages berücksichtigt, an dem erstmals die Voraussetzungen für die Änderung vorlagen. Haben Ehegatten die Lohnsteuerklassen gewechselt, so werden gemäß § 133 Abs. 3 Satz 1 SGB III a. F. die neu eingetragenen Lohnsteuerklassen von dem Tage an berücksichtigt, an dem sie wirksam werden, wenn 1. die neu eingetragenen Lohnsteuerklassen dem Verhältnis der monatlichen Arbeitsentgelte beider Ehegatten entsprechen oder 2. sich auf Grund der neu eingetragenen Lohnsteuerklassen ein Arbeitslosengeld ergibt, das geringer ist, als das Arbeitslosengeld, das sich ohne den Wechsel der Lohnsteuerklassen ergäbe. Die Beklagte hat den zum 01.11.2011 erfolgten Wechsel in die Lohnsteuerklasse IV mit Faktor für die Zeit vom 01.11.2011 bis zum 31.12.2011 berücksichtigt. Anhaltspunkte dafür, dass die Lohnsteuerklasse IV mit Faktor auch schon vor dem 01.11.2011 und ab dem 01.01.2012 eingetragen worden ist, liegen nicht vor, zumal die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, für das Jahr 2012 die Eintragung der Lohnsteuerklasse IV mit Faktor nicht beantragt zu haben. Die Beklagte hat mithin weder das Recht unrichtig angewandt noch ist sie von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich als unrichtig erweist, indem sie bei Erlass des Bescheides vom 23.05.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2011 sowie der Änderungsbescheide vom 29.11.2011, vom 20.02.2012, vom 19.06.2012, vom 10.01.2013, vom 26.09.2013, vom 06.11.2013 und vom 13.02.2014 für den Zeitraum vom 01.05.2011 bis zum 31.10.2011 und vom 01.01.2012 bis zum 27.10.2012 das Arbeitslosengeld nicht unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse IV mit Faktor berechnet hat.

Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf die Gewährung höheren Arbeitslosengeldes über die Anwendung des Rechtsinstituts des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs.

Unterstellt, die Beklagte hätte ihre Beratungs- oder Betreuungspflicht dadurch verletzt, dass sie die Klägerin nicht auf die Möglichkeit der Eintragung einer für ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld günstigeren Lohnsteuerklasse hingewiesen hätte, könnte dies nicht zur Verurteilung zur Gewährung eines höheren Arbeitslosengeldes führen. Tatbestandlich setzt der sozialrechtliche Herstellungsanspruch voraus, dass der Sozialleistungsträger auf Grund Gesetzes oder bestehenden Sozialrechtsverhältnisses eine dem Betroffenen gegenüber obliegende Pflicht, insbesondere zur Auskunft und Beratung im Sinne der §§ 14 und 15 SGB I verletzt und dadurch dem Betroffenen einen rechtlichen Nachteil zufügt. Auf seiner Rechtsfolgenseite ist der Herstellungsanspruch auf Vornahme einer Amtshandlung zur Herbeiführung derjenigen Rechtsfolge gerichtet, die eingetreten wäre, wenn der Versicherungsträger die ihm gegenüber dem Versicherten obliegenden Pflichten rechtmäßig erfüllt hätte. Der Herstellungsanspruch kann einen Versicherungsträger somit nur zu einem Tun oder Unterlassen verpflichten, das rechtlich zulässig ist. Voraussetzung ist also – abgesehen vom Erfordernis der Pflichtverletzung im Sinne einer fehlenden oder unvollständigen beziehungsweise unrichtigen Beratung –, dass der dem Versicherten entstandene Nachteil mit verwaltungskonformen Mitteln im Rahmen der gesetzlichen Regelung, also durch eine vom Gesetz vorgesehene zulässige und rechtmäßige Amtshandlung, ausgeglichen werden kann. Umgekehrt bedeutet dies, dass in Fällen, in denen der durch pflichtwidriges Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil nicht durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden kann, für die Anwendung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs kein Raum bleibt. Hintergrund dieser Differenzierung zwischen „ersetzbaren“ und „nicht ersetzbaren“ Voraussetzungen ist das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Dieses lässt es nicht zu, dass die Verwaltung gesetzeswidrig handelt, selbst wenn sie zuvor eine falsche Auskunft oder Beratung erteilt hat. Demgemäß lässt sich mit Hilfe des Herstellungsanspruchs der durch ein Fehlverhalten des Leistungsträgers bewirkte Nachteil nur dann ausgleichen, wenn die Korrektur beziehungsweise Ersetzung der fehlenden Anspruchsvoraussetzung mit dem jeweiligen Gesetzeszweck in Einklang steht (vergleiche zum Ganzen Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 11.03.2004 – B 13 RJ 16/03 R, unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 12.10.1979 – 12 RK 47/77; BSG, Urteil vom 22.02.1980 – 12 RK 34/79; BSG, Urteil vom 17.12.1980 – 12 RK 34/80; BSG, Urteil vom 23.09.1981 – 11 RA 78/80; BSG, Urteil vom 24.03.1983 – 1 RJ 92/81; BSG, Urteil vom 15.05.1985 – 7 RAr 103/83; BSG, Urteil vom 25.10.1985 – 12 RK 42/85; BSG, Urteil vom 19.03.1986 – 7 RAr 48/84; BSG, Urteil vom 29.09.1987 – 7 RAr 23/86; BSG, Urteil vom 24.03.1988 – 5/5b RJ 84/86; BSG, Urteil vom 25.10.1989 – 7 RAr 150/88; BSG, Urteil vom 12.06.1992 – 11 RAr 65/91; BSG, Urteil vom 23.07.1992 – 7 RAr 38/91; BSG, Urteil vom 30.03.1995 – 7 RAr 22/94; BSG, Urteil vom 17.07.1997 – 7 RAr 106/96; alle veröffentlicht in juris; siehe auch Senatsurteil vom 25.04.2019 – L 3 AL 2025/18; vergleiche Lilge in Lilge, Kommentar zum SGB I, 4. Auflage 2016, Vorbemerkungen zu §§ 13 bis 15, Rn. 27, 27a).

Vorliegend ist aber kein Tun oder Unterlassen der Beklagten denkbar, das rechtlich zulässig wäre, um der Klägerin für die Zeit vom 01.05.2011 bis zum 31.10.2011 und vom 01.01.2012 bis zum 27.10.2012 höheres Arbeitslosengeld unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse IV mit Faktor bewilligen zu können. Der von der Klägerin reklamierte Nachteil in Form eines zu niedrigen Arbeitslosengeldes kann mit verwaltungskonformen Mitteln im Rahmen der Regelung des § 133 SGB III a. F., also durch eine vom Gesetz vorgesehene zulässige und rechtmäßige Amtshandlung, nicht ausgeglichen werden. Vielmehr wäre es pflichtwidrig, wenn die Beklagte der Klägerin für die Zeit vom 01.05.2011 bis zum 31.10.2011 und vom 01.01.2012 bis zum 27.10.2012 ohne rechtliche Grundlage höheres Arbeitslosengeld – wie von ihr gewünscht – unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse IV mit Faktor gewähren würde.

Das Begehren der Klägerin würde eine gesetzeswidrige Amtshandlung zur Folge haben. Denn die Beklagte müsste dann entgegen der Vorschrift des § 133 Abs. 2 SGB III a. F. von einer Lohnsteuerklasse ausgehen, die nicht auf der Lohnsteuerkarte der Klägerin eingetragen gewesen ist. Ein solcher Herstellungsanspruch ließe sich gemäß § 133 Abs. 2 SGB III a. F. nur dann durchsetzen, wenn die Lohnsteuerklasse IV mit Faktor auf der Lohnsteuerkarte der Klägerin tatsächlich eingetragen gewesen wäre. Dem steht jedoch entgegen, dass für die Eintragung der Lohnsteuerklasse auf der Lohnsteuerkarte die zuständige Finanzbehörde zuständig ist. Es handelt sich hierbei um eine Tatbestandsvoraussetzung, die außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Beklagten liegt und aus diesem Grunde im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht ersetzt werden kann (BSG, Urteil vom 10.12.1980 – 7 RAr 14/78, juris Rn 30; BSG, Urteil vom 18.03.1982 – 7 RAr 11/81, juris Rn. 47; im Ergebnis ebenso BSG, Urteil vom 01.06.1994 – 7 RAr 86/93, juris Rn. 23; BSG, Urteil vom 14.07.2004 – B 11 AL 80/03 R, juris Rn. 20; BSG, Urteil vom 16.03.2005 – B 11a/11 AL 45/04 R, juris Rn. 15; BSG, Urteil vom 06.04.2006 – B 7a AL 82/05 R, juris Rn. 14). Die in der Lohnsteuerkarte eingetragene Lohnsteuerklasse hat für die Berechnung des Arbeitslosengeldes Tatbestandswirkung; diese ist der Disposition der Beklagten entzogen (BSG, Urteil vom 30.05.1990 – 11 RAr 95/89, juris Rn. 15).

Kommt die Verwaltung ihrer gesteigerten Informations- und Beratungspflicht nicht nach, greift der sozialrechtliche Herstellungsanspruch nach alledem nur insoweit, als sie den Leistungsempfänger dann so zu stellen hat, als hätte er die Lohnsteuerklasse nicht gewechselt. Nur eine solche Rechtsfolge entspricht der Funktion der gesetzlichen Regelung und liegt damit auch im rechtlich zulässigen Handlungs- und Zuständigkeitsbereich der Arbeitsverwaltung. Wegen der Tatbestandswirkung einer eingetragenen Lohnsteuerklasse ist aber eine Heilung über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch, indem die eingetragene durch eine günstigere Lohnsteuerklasse ersetzt wird, nicht möglich, wenn ein Lohnsteuerklassenwechsel von den Ehegatten beziehungsweise Lebenspartnern nicht vorgenommen worden ist. Denn in diesen Fällen fehlt es – wie oben dargelegt – mangels eines vorherigen Lohnsteuerklassenwechsels an der Voraussetzung, dass der Nachteil durch eine vom Gesetz vorgesehene und zulässige Amtshandlung ausgeglichen werden kann (Valgolio in Hauck/Noftz, SGB, 10/19, § 153 SGB III, Rn. 85; ebenso Brackelmann in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 2. Auflage, § 153 SGB III, Stand: 15.01.2019, Rn. 32).

Nach alledem hat die Klägerin keinen Anspruch auf höheres Arbeitslosengeld unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse IV mit Faktor auch für die Zeit vom 01.05.2011 bis zum 31.10.2011 und vom 01.01.2012 bis zum 27.10.2012. Auch im Übrigen hat die Beklagte die Höhe des der Klägerin zustehenden Arbeitslosengeldes zutreffend berechnet.

Daher ist die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG Mannheim vom 29.04.2021 zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG gegeben ist.

 

Rechtskraft
Aus
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