S 19 SO 81/08

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Nürnberg (FSB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
19.
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 19 SO 81/08
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

I. Der Beklagte wird unter Abänderung der Bescheide vom 23.1.2008 und 29.1.2008 und Aufhebung des Widerspruchsbescheids der Regierung von M. vom 15.4.2008 verurteilt, für die mobile Frühförderung des Klägers den Kostensatz von 58,95 EUR/Std. zu erstatten.

II. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

III. Die Berufung wird zugelassen.

T a t b e s t a n d :

Der Kläger begehrt von dem Beklagten die Erstattung eines Entgeltssatzes für mobile Frühförderung in Höhe von 58,95 EUR/St. für die Zeit vom 1.1.2008 bis 29.2.2008.

Der 2002 geborene Kläger leidet an einer psychologischen Entwicklungsverzögerung und einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Am 9.7.2007 stellten seine Eltern für ihn einen Antrag auf Frühförderung.

Mit Bescheid vom 9.7.2007 übernahm der Beklagte die für den Kläger anfallenden Kosten für die "interdisziplinäre Frühförderung" - ambulante Einzelförderung - ab 8.3.2007 bis 31.12.2007 zu den für die Sozialhilfeträger geltenden Kostensätzen. Übernommen wurden bis zu 72 Behandlungseinheiten pro Behandlungsjahr und für die Zeit vom 8.3.2007 bis 31.12.2007 höchstens 58 Behandlungseinheiten. Ein Kostenbeitrag wurde nicht gefordert.

Mit weiterem Bescheid vom 23.1.2008 traf der Beklagte eine entsprechende Regelung für die Zeit vom 1.1.2008 bis 29.2.2008.

Mit Bescheid vom 29.1.2008 traf der Beklagte insoweit eine abweichende Regelung, als für den Kläger der Kostensatz für die ambulante "interdisziplinäre Frühförderung" zugrundezulegen sei, sofern er nicht als erstes Kind in der Kindertageseinrichtungen durch die "interdisziplinäre Frühförderung" gefördert werde. Es handele sich um eine Ergänzung


des Bescheides vom 23.1.2008. Der Bezirk M. als überörtlicher Träger der Sozialhilfe sei zur Entscheidung über diesen Antrag sachlich und örtlich zuständig. Gemäß Art. 84 Abs. 2 AGSG i. V. m. der Bezirksverordnung über die Heranziehung der örtlichen Träger der Sozialhilfe und der Kriegsopferfürsorge im Regierungsbezirk M. vom 20.12.2007 sei die Durchführung der Entscheidung auf den Landkreis E.-C-Stadt übertragen worden. Der Bezirk M. habe mit Schreiben vom 11.1.2008 als sachlich zuständiger Leistungsträger mitgeteilt, dass für das erste geförderte Kind in der Kindertagesstätte der mobile Satz abgerechnet werden könne. Alle folgenden geförderten Kinder in der Kindertageseinrichtung seien mit dem ambulanten Entgeltsatz abzurechnen.

Gegen den Bescheid vom 29.1.2008 legte der Kläger durch seine Eltern am 22.2.2008 Widerspruch ein. Gemäß § 9 des Rahmenvertrags zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder in interdisziplinären Frühförderstellen in Bayern handle es sich bei der Leistungserbringung in Kindertageseinrichtungen um eine mobile Einzelförderung. Bedingungen bezüglich der Erstattung des Kostenersatzes für weitere Kinder in Kindertageseinrichtungen fänden sich nicht im genannten Rahmenvertrag.

Auch gegen den Bescheid vom 23.1.2008 legte der Kläger durch seine Eltern am 22.2.2008 Widerspruch ein so weit die Frühförderleistung als "ambulante Einzelförderung (Kindergarten)" bezeichnet worden sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 15.4.2008 wies die Regierung von M. den Widerspruch zurück. Dem Kläger sei die nach ärztlichen Gutachten erforderliche Hilfe in dem von ihm besuchten Regelkindergarten ohne Einschränkung gewährt worden. Strittig sei lediglich, in welchem Umfang die erbrachte Leistung durch die Lebenshilfe letztendlich abgerechnet werden könne. Die begriffliche Unterscheidung bei der Frühförderung zwischen ambulanter Form (in den Räumen der Frühförderstellen) und mobiler Form (in dem Lebensumfeld des Kindes, das heißt in der Familie bzw. Kindertageseinrichtung) in § 9 sei nach Kenntnis des Beklagten seinerzeit erfolgt, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass bei der als ambulant bezeichneten Förderung für den Träger der Frühförderstellen wesentlich geringere Kosten anfielen, als bei der als mobil bezeichneten Förderung. Denn bei der ambulanten Form brächten die Erziehungsberechtigten das Kind in die Frühförderstellen. Fahrtaufwand falle für das Personal der Frühförderstellen somit nicht an. Bei


der mobilen Form hingegen führen Mitarbeiter der Frühförderstelle in das Lebensumfeld des Kindes (entweder zum Familienhaushalt oder zur Kindertagesstätte) und behandelten es dort, was höhere Kosten für den Träger der Frühförderstelle verursache und deshalb auch einen höheren Kostenansatz rechtfertige. Vor diesem Hintergrund sei es nicht zu beanstanden, dass der Sozialhilfeträger durch Einfügung der Nummer 2 in den Bewilligungsbescheid berücksichtigt habe, dass der erhöhte Kostenaufwand bei einer Heilbehandlung von Kindern im Kindergarten nur jeweils einmal anfallen könne.

Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 9.5.2008 erhob der Kläger am 13.5.2008 Klage. Er beantragt:

Die Bescheide des Beklagten sowie den Widerspruchsbescheid der Regierung von M. vom 15.4.2008 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, für die mobile Frühförderung des Klägers in der Zeit vom 1.1.2008 bis 29.2.2008 den Entgeltsatz für mobile Frühförderung in Höhe von 58,95 EUR/St. zu gewähren.

Gleichzeitig wurde beantragt, das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, da ein anderes Verfahren als Musterverfahren geführt werden solle. Der Rahmenvertrag über die Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder in interdisziplinären Frühförderstellen in Bayern wurde von Klägerseite vorgelegt. In Anlage 5 (Blatt 18 der Gerichtsakte) sind die Entgeltsätze geregelt.

Der Beklagte stimmte dem Antrag auf Ruhen des Verfahrens nicht zu.

Die Klage wurde mit Schriftsatz vom 18.11.2008 ergänzend begründet.

Der Beklagte beantragt,

      die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat den Bezirk M. zum Verfahren beigeladen.

Die Beteiligten haben auf (weitere) mündliche Verhandlung verzichtet.

Im Übrigen wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Akten des Beklagten Bezug genommen.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die zulässige Anfechtungs- und Leistungsklage ist begründet.

Der Kläger hat nach §§ 53, 54 SGB XII Anspruch auf Übernahme eines Stundensatzes von 58,95 EUR für seine mobile Frühförderung.

Zur Überzeugung des Gerichts ist der Kläger auf Grund einer psychologischen Entwicklungsverzögerung und eines Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms Behinderter im Sinne der vorgenannten Vorschriften und benötigt auch die vom Beklagten als Geldleistung bewilligten Maßnahmen der Frühförderung zum Ausgleich seiner behinderungsbedingten Schwierigkeiten bzw. zur Vorbereitung seines Schulbesuchs.

Das wird auch von keinem der Beteiligten in Zweifel gezogen. Des Weiteren erscheint es sachgerecht, die beantragte Frühförderung in mobiler Form zu erbringen, was vom Beklagten auch - ungeachtet der missverständlichen Wortwahl - bewilligt wurde.

Im Streit steht allein, welche Geldleistungen erforderlich sind, damit sich der Kläger die erforderliche Hilfe beschaffen kann. Insoweit sieht der Beklagte - wie auch der beigeladene Bezirk M. als Kostenträger - die nach dem Rahmenvertrag über die Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder in interdisziplinären Frühförderstellen in Bayern geschuldeten Entgelte als notwendig und angemessen an. Auch daran besteht für das Gericht kein Anlass zu zweifeln.

Die vom Beklagten und vom Beigeladenen vorgenommene Auslegung von § 9 dieser Ver-einbarung trifft jedoch zur Überzeugung des Gerichts nicht zu.

Danach wird die Komplexleistung zur Früherkennung und Frühförderung nach den Gegebenheiten des Einzelfalls in der Regel in ambulanter Form (in der interdisziplinären Frühförderstelle) oder in mobiler Form (in dem jeweiligen Lebensumfeld des Kindes insbeson-


dere der Familie bzw. in der Kindertageseinrichtung) erbracht. In geeigneten Fällen soll die Förderung und Behandlung als Gruppenbehandlung erfolgen. Die Erbringung der Komplexleistung wird durch interdisziplinäre Teamgespräche ergänzt. Die Gesamtleistung muss angemessen, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Der Leistungsumfang ergibt sich im Einzelnen aus den Anlagen 4 und 5.

Die vorgenannte Anlage 5 zum Rahmenvertrag bestimmt die Entgeltsätze für heilpädagogische Leistungen. Sie gilt für alle Förder- und Behandlungspläne, bei denen die erste Be-handlungseinheit nach dem 31.7.2006 erbracht wird. Danach gilt Folgendes:

1. Offenes Beratungsangebot, zwei Behandlungseinheiten à 43,- €
2. ambulante Frühförderung, je Behandlungseinheit: 43,95 €
3. Gruppenförderung (3 Kinder/Therapeut), pro Kind/Behandlungseinheit: 24,60 €
4. Teamgespräche, Abrechnung einmal im Monat für jedes geförderte Kind: 8,20 €
5. mobile Frühförderung: 58,95 €.
Für die überregionalen interdisziplinären Frühförderstellen für Sinnesbehinderte (z. B. Blinde, Hörgeschädigte) beträgt abweichend von Nr. 5 das Entgelt für die mobile Frühförderung 85,- € je Behandlungseinheit inklusive Investitionskosten für Kfz und Ausstattung.

Die obengenannten Pauschalsätze umfassen alle Personal- und Sachkosten mit Ausnahme der Investitionskosten, welche individuell nach Anlage 5a für jede interdisziplinäre Frühförderstelle vor Ort vereinbart werden.

Die neuen Entgelte sind für drei Jahre verbindlich. Dieser Zeitraum dient auch als Übergangszeit (Konvergenzphase) zur Anhebung bzw. Absenkung davon abweichender Entgeltsätze. Die Anpassung soll in drei gleiche Raten nach Anlage 5b erfolgen.

Die Behandlungseinheit umfasst 60 Minuten, von denen 45 Minuten auf die notwendigen kind- und elternbezogenen (bzw. wesentlichen Bezugspersonen) Aufgabenstellungen entfallen und 15 Minuten auf Vor- und Nachbereitung, externe Besprechungen sowie Dokumentation der Verlaufs- und Abschlussdiagnostik.

Grundsätzlich werden pro Behandlungsjahr im sozial- und heilpädagogischen Bereich bis maximal 72 Behandlungseinheiten, in begründeten Ausnahmefällen auch darüber hinaus, genehmigt. Pro Termin können zwei Behandlungseinheiten erbracht werden.

Erbringen in einer interdisziplinären Frühförderstelle von einem Dritten geförderte Fachkräfte Leistungen nach diesem Vertrag, so erfolgt eine Verrechnung des Zuschusses des Dritten nach Anlage 5c. Über die Erstattung von überzahlten Zuwendungen auf Grund des Einsatzes von staatlich gefördertem Personal der mobilen sonderpädagogischen Hilfe können zwischen dem örtlichen Sozialhilfeträger und der jeweiligen Frühförderstelle vom Rahmenvertrag abweichende Regelungen getroffen werden.

Elterngruppen werden soweit vorhanden analog der Nr. 3 abgerechnet.

Der Abrechnung der Leistungsentgelte ist jeweils ein Fördernachweis nach Anlage 5d beizufügen.

Nach allgemeinem Sprachverständnis liegen ambulante Maßnahmen vor, wenn der "Patient" zum niedergelassenen Therapeuten in dessen Räumen zur Behandlung kommt und anschließend am selben Tag die Einrichtung wieder verlässt. Da aus dem Bewilligungsbescheid des Beklagten hervorgeht, dass die Frühförderung in den Räumlichkeiten der Kindertagesstätte, die der Kläger besucht, stattfindet, liegt kein Fall der ambulanten Frühförderung vor, denn die Kindertagesstätte ist nicht der gewöhnliche Arbeitsort der mit der Therapie betrauten Person, vielmehr muss diese zur Therapie anreisen.

Der Beklagte hat dem Kläger der Sache nach mobile Frühförderung im Sinne der obengenannten Entgeltvereinbarung bewilligt, denn die Person, die die Therapie durchführt, wird außerhalb der Frühförderstelle in den für sie fremden Räumlichkeiten der Kindertagesstätte tätig. Auch nennt § 9 der Entgeltsvereinbarung ausdrücklich die Frühförderung in der Kindertagesstätte als Fall der mobilen Förderung.

Es kann daher kein ernstlicher Zweifel bestehen, dass die Entgeltvereinbarung insoweit Geltung beanspruchen kann. Danach darf je Behandlungseinheit von 60 Minuten (einschließlich 15 Minuten Vor- und Nacharbeit) ein Entgeltsatz von 58,95 EUR abgerechnet werden.

Der Vertrag ist insoweit eindeutig und enthält keinerlei Regelungslücke, die durch eine Analogie zu schließen wäre. Wenn - was mehr oder minder vom Zufall abhängt - in einer Kindertagesstätte mehrere Kinder durch den gleichen Leistungserbringer therapiert werden, besteht kein sachlicher Unterschied zu dem Fall, dass bei einer Therapie im häuslichen Umfeld in einem Mehrfamilienhaus am gleichen Tage mehrere Kinder therapiert werden. Es ist gerade Sinn einer Pauschalvereinbarung, für die Abrechnung solcher Fälle Rechtssicherheit zu schaffen und zu vermeiden, dass die Fahrtkosten mit zufälligen Ergebnissen dem einzelnen zu therapierenden Kind zugeordnet werden.

Genau zu solchen Zufälligkeiten und damit zu einer völligen Verfehlung des Regelungszwecks führt hingegen die vom Beklagten bzw. vom Bezirk M. vorgenommene Auslegung, die darüber hinaus vom Wortsinn nicht gedeckt ist und sich deshalb außerhalb des methodischen Möglichen bewegt. Jedenfalls kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Vereinbarung insoweit von beiden Vertragseiten im Sinne des Beklagten ausgelegt würde, da es ansonsten nicht zu dem vorliegenden Rechtsstreit gekommen  wäre.

Der Kläger ist daher nicht in der Lage, sich die bewilligte Frühförderung zu einem niedrigeren Stundensatz als beantragt zu verschaffen, so dass der Klage in vollem Umfang stattzugeben ist.

Im übrigen sieht sich das Gericht zu dem Hinweis veranlasst, dass es nicht das Problem des Klägers sein kann und darf, in welcher Reihenfolge die Therapie in der Kindertagesstätte erbracht wird, wovon die Eltern des Klägers vielfach gar keine Kenntnis haben können. Der angegriffene Bescheid überbürdet dem Kläger und seiner Familie ein finanzielles Risiko, dass sie nicht kontrollieren können, sowie eine Aufgabe, die ihnen nicht zukommt. Der Beklagtenseite wird daher angeraten, eine Lösung des Problems in einer neuen Verhandlung der Entgeltsätze zu suchen oder, was naheliegend wäre, die Frühförderung als Sachleistung zu erbringen, sodass die Finanzverhandlungen ausschließlich zwischen dem Beklagten und der die Leistungen erbringenden Stelle erfolgen können.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten beruht auf § 193 SGG.

Die Berufung bedarf der Zulassung durch das Gericht, da die Klage auf eine Geldleistung gerichtet ist und angesichts der bewilligten Anzahl von Therapieeinheiten und der Entgeltdifferenz die Beschwer für den Beklagten weniger als 750 EUR beträgt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Die Berufung war zuzulassen, da die Sache angesichts der großen Zahl der Betroffenen grundsätzliche Bedeutung hat.

 

 

Rechtskraft
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