L 18 AS 12/22 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 94 AS 7290/21 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 12/22 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 29. Dezember 2021 wird zurückgewiesen.

 

Der Antragsgegner trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im Beschwerdeverfahren.

 

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wird abgelehnt.

Gründe

 

 

Die Beschwerde des Antragsgegners ist nicht begründet. Das Sozialgericht (SG) hat den Antragsgegner zu Recht im Wege einer gerichtlichen Regelungsanordnung iSv § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 13. Dezember 2021 (Eingang des Rechtsschutzantrags) bis zum 12. Juni 2022 einstweilen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in der ausgeworfenen Höhe zu gewähren.

 

Es liegt zunächst ein Anordnungsgrund vor, der sich bereits daraus ergibt, dass keine feststellbaren Tatsachen dafür ersichtlich sind, dass der Antragsteller über die von ihm genannten Einnahmen aus Betteln bzw Flaschensammeln hinaus das Existenzminimum sichernde Mittel zu Verfügung hatte bzw hat. Die örtliche Zuständigkeit des Antragsgegners ergibt sich aus Nr. I der Vereinbarung zwischen dem Land Berlin und der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Bundesagentur für Arbeit zur Regelung über die örtliche Zuständigkeit für wohnungslose Leistungsberechtigte nach dem SGB II in der ab 1. Juli 2019 gültigen Fassung iVm der entsprechend anwendbaren Regelung in Nr. 4 Abs. 1 und 3 der Ausführungsvorschriften über die örtliche Zuständigkeit für die Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII vom 9. Mai 2019 (AVZustSoz; Anlage 1 zur Vereinbarung). Danach ist das Jobcenter Berlin Steglitz-Zehlendorf für im Juni Geborene ohne melderechtlichen Eintrag in Berlin – wie den Antragsteller – zuständig.

 

Dem Antragsteller stehen für den vom SG bezeichneten Zeitraum durch eine Regelungsanordnung iSv § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zu sichernde Ansprüche auf Gewährung der bezeichneten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) in der ausgeworfenen Höhe zu. Grundlage hierfür ist im Ergebnis eine verfassungsrechtlich gebotene Folgenabwägung im Hinblick auf die im gerichtlichen Eilverfahren nicht abschließend zu klärende Frage, ob der Antragsteller einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB I unterliegt.

 

Nach § 19 Abs. 1 SGB II erhalten erwerbsfähige Leistungsberechtigte Arbeitslosengeld II. Leistungsberechtigt sind nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II Personen, die (1) das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, (2) erwerbsfähig und (3) hilfebedürftig sind und (4) ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Diese Voraussetzungen sind für den Antragsteller, einen Unionsbürger polnischer Staatsangehörigkeit, erfüllt.

 

§ 7 Abs. 1 Sätze 2 bis 7 SGB II in der seit 1. Januar 2021 geltenden Fassung des Gesetzes vom 9. Dezember 2020 (BGBl I 2855) lauten:

Ausgenommen sind (1) Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, (2) Ausländerinnen und Ausländer, (a) die kein Aufenthaltsrecht haben, (b) deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen, sowie (3) Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nummer 1 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Abweichend von Satz 2 Nummer 2 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des FreizügG/EU festgestellt wurde, was hier indes nicht der Fall ist. Die Frist nach Satz 4 beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.

 

Der Antragsteller ist Ausländer (Pole) ohne erkennbares anderweitiges Freizügigkeits- oder Aufenthaltsrecht. Er hat aber glaubhaft gemacht, dass er bezogen auf den hier streitigen Bewilligungszeitraum seit mindestens fünf Jahren seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Ob die Tatsache, dass er als Obdachloser nicht bei der zuständige Behörde gemeldet war und ist, dazu führt, das Vorliegen der Rückausnahme iSd § 7 Abs. 1 Satz 2 Sätze 4 bis 6 SGB II zu verneinen und damit das Vorliegen eines SGB II-Leistungsausschlusses zu bejahen, bedarf im vorliegenden gerichtlichen Eilverfahren keiner abschließenden Entscheidung.

 

Der Gesetzgeber hat der genannten Rückausnahme vom Leistungsausschluss die Erwägung zugrunde gelegt, dass sich Ausländer auch ohne Aufenthaltsrecht und finanzielle Absicherung ihrer Existenz nach Ablauf von fünf Jahren längere Zeit in der Bundesrepublik aufgehalten haben und von einer Verfestigung des Aufenthaltes ausgegangen werden kann (vgl BT-Drucks 18/10211, S 12 f, 14). Hinsichtlich des Fünf-Jahres-Zeitraums hat sich der Gesetzgeber an dem Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU orientiert. Allerdings setzt die Rückausnahme in § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II anders als § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU keine materielle Freizügigkeitsberechtigung voraus (vgl Landessozialgericht <LSG> Baden-Württemberg, Beschluss vom 8. Mai 2020 – L 7 AS 1070/20 ER-B – juris; Becker in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 7 Rn 53; Knickrehm in Kommentar zum Sozialrecht, 6. Aufl 2019, § 7 SGB II Rn 9e; Korte/Thie/Schoch in LPK-SGB II, 6. Aufl 2017, § 7 Rn 34; Leopold in jurisPK-SGB II, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn 162). Vielmehr genügt der gewöhnliche Aufenthalt im Bundesgebiet seit mindestens fünf Jahren (Knickrehm aaO § 7 SGB II Rn 9e). Dabei ist zu beachten, dass von den materiellen Freizügigkeitsberechtigungen nach dem FreizügG/EU die generelle Freizügigkeitsvermutung für EU-Ausländer, für deren rechtmäßige Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ein gültiger Pass genügt (§ 2 Abs. 5 FreizügG/EU), zu unterscheiden ist. Aufgrund dieser generellen Freizügigkeitsvermutung muss der Aufenthalt eines EU-Ausländers zumindest solange als rechtmäßig angesehen werden, bis die zuständige Ausländerbehörde das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts aufgrund von § 5 Abs. 4 FreizügG/EU bzw der Missbrauchstatbestände in § 2 Abs. 7 FreizügG/EU festgestellt und damit nach § 7 Abs. 1 FreizügG/EU die sofortige Ausreisepflicht begründet hat (vgl Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 20. Januar 2016 – B 14 AS 35/15 R – juris – Rn 25). Von der begünstigenden Ausnahmevorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II werden nach der Regelung des 2. Halbsatzes daher (nur) diejenigen Unionsbürger ausgenommen, bei denen der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU – erfolgreich – festgestellt worden ist; zu diesen zählt der Antragsteller nicht.

 

Nach § 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II beginnt die Fünf-Jahres-Frist mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Es kann im vorliegenden Verfahren letztlich offen bleiben, ob Teilen der obergerichtlichen Rechtsprechung und Literatur zu folgen ist, dass die Vorschrift des § 23 Abs. 3 Satz 8 SGB XII (gleichlautend § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II), wonach die Frist nach Satz 7 (gleichlautend § 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II) mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde beginnt, in den Fällen generell teleologisch zu reduzieren ist, in denen der durchgehende Aufenthalt in Deutschland auf andere Weise nachgewiesen werden kann (so LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. Mai 2021 – L 9 SO 56/21 B ER – juris – Rn 14-19; LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 5. April 2017 – L 15 SO 353/16 B ER – juris – und vom 6. Juni 2017 - L 15 SO 112/17 B ER – juris – Rn 25;  aA <mindestens erfolgte erstmalige Anmeldung> LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. August 2018 - L 23 SO 146/18 B ER – juris – Rn 4; LSG Baden-Württemberg aaO – juris – Rn 17; Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 9. Dezember 2019 – L 6 AS 152/19 B ER – juris - Rn 9; LSG Hamburg, Beschluss vom 20. Juni 2019 – L 4 AS 34/19 B ER – juris – Rn 5; Urteil des erkennenden Senats vom 11. Mai 2020 – L 18 AS 1812/19 -  juris; <durchgehende Meldung erforderlich> LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31. Mai 2021 – L 5 AS 457/21 B ERL 5 AS 459/21 B ER PKH – juris – Rn 7 mwN zum Meinungsstand in Rspr und Literatur). Denn eine höchstrichterliche Klärung dieser schwierigen Rechtsfrage, die insbesondere vor dem Hintergrund verfassungsrechtliche Probleme aufwirft, dass einem Wohnungs- bzw Obdachlosen eine Meldepflicht nicht obliegt und ihm daher das Erfüllen der Rückausnahme bei einer fehlenden „Anmeldung“ von vornherein nicht möglich wäre, ist bislang nicht erfolgt. Dies gilt umso mehr, als die Rückausnahme, die gleichlautend im Recht des SGB XII normiert ist, auch im Lichte des Grundrechts des Antragstellers auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) iVm dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 GG auszulegen ist, das deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in Deutschland aufhalten, gleichermaßen zusteht, dem Grunde nach unverfügbar ist und das kraft Verfassungsrechts gebietet, dass ein Leistungsanspruch eingeräumt werden „muss“ (so ausdrücklich Bundesverfassungsgericht <BVerfG>, Urteil vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 – juris – Rn 62 mwN). Hiernach bestehen im Hinblick auf die genannten Regelungen im SGB II und SGB XII, die erst nach fünf Jahren von einem verfestigten Aufenthalt ausgehen, auch erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, ob ein Leistungsausschluss bei kürzerem, aber nicht nur kurzfristigem gewöhnlichen Aufenthalt (den hier der Antragsgegner selbst bereits ab „Ende 2018“ bejaht) mit dem GG vereinbar ist, die sich indes nicht „ohne Weiteres“ aus der genannten Entscheidung des BVerfG beantworten lassen (so ausdrücklich BVerfG, Beschluss vom 12. Februar 2020 – 1 BvR 1246/19 – juris – Rn 22) und letztlich nur im Hauptsacheverfahren geklärt werden können.

 

Gerade bei – wie hier – höchstrichterlich noch nicht geklärten und hoch streitigen schwierigen Rechtsfragen zum Ausschluss existenzsichernder Leistungen ist danach im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine Folgenabwägung vorzunehmen. Art. 19 Abs. 4 GG garantiert einen effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl BVerfGE 67, 43 <58>; 96, 27 <39>). Wirksam ist Rechtsschutz dabei nur, wenn er innerhalb angemessener Zeit erfolgt. Daher sind die Fachgerichte gehalten, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn Antragstellern sonst eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in ihren Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (vgl BVerfGE 93, 1 <13 f>; 126, 1 <27 f>). Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 GG gebietet eine Auslegung und Anwendung der die Einlegung von Rechtsbehelfen regelnden Vorschriften, die die Beschreitung des eröffneten Rechtswegs nicht in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (vgl BVerfGE 77, 275 <284>; 78, 88 <99>). Je schwerer die sich aus der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes ergebenden Belastungen wiegen und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtspositionen zurückgestellt werden (vgl BVerfGE 35, 382 <402>; BVerfG, Beschluss vom 1. August 2017 – 1 BvR 1910/12 – juris – Rn 12).

 

Im Verfahren des gerichtlichen Eilrechtsschutzes dürfen Entscheidungen sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Hierbei ist dem Gewicht der in Frage stehenden und gegebenenfalls miteinander abzuwägenden Grundrechte Rechnung zu tragen, um eine etwaige Verletzung von Grundrechten nach Möglichkeit zu verhindern (vgl BVerfGE 126, 1 <27 f>). Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen (vgl BVerfG, Beschluss vom 14. März 2019 - 1 BvR 169/19 – juris - Rn 15 mwN). Indessen dürfen sich die Gerichte, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, nur dann an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren, wenn sie die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen können. Eine solche abschließende Prüfung kommt allerdings nur in Betracht, wenn eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren möglich ist (vgl BVerfG, Beschluss vom 27. Juli 2016 - 1 BvR 1241/16 – juris - Rn 11; Beschluss vom 20. November 2018 - 2 BvR 80/18 – juris - Rn 8). Ist eine der drohenden – vorliegend im Hinblick auf das sog Gegenwärtigkeitsprinzip existenzsichernder Leistungen letztlich irreparable – Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist eine Folgenabwägung durchzuführen (vgl BVerfG, Beschluss vom 27. Juli 2016 - 1 BvR 1241/16 – juris - Rn 11; Beschluss vom 20. November 2018 -  2 BvR 80/18 – juris - Rn 8; Beschluss vom 14. März 2019 - 1 BvR 169/19 – juris - Rn 15 mwN; stRspr). Vorliegend ist der Anspruch auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG betroffen, dessen Beeinträchtigung auch nachträglich bei einem erfolgreichen Abschluss des ‒ möglicherweise noch längere Zeit in Anspruch nehmenden ‒ Hauptsacheverfahrens nicht mehr ausgeglichen werden kann, weil der elementare Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden kann, in dem er besteht (vgl BVerfGE 125, 175 <225>). Droht einem Antragsteller – wie hier – bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Grundrechten, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so ist – erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Anspruchs – einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (vgl BVerfGE 79, 69 <75>; 94, 166 <216>). Denn in diesen Fällen kann das Fachgericht nur im einstweiligen Rechtsschutz eine endgültige Grundrechtsverletzung verhindern. Werden die Folgen gegeneinander abgewogen, so ergibt sich derzeit ein eindeutiges Übergewicht zugunsten der Belange des Antragstellers.

 

Dies gilt umso mehr, als von einem gewöhnlichen Aufenthalt des Antragstellers in Berlin jedenfalls seit Februar bzw September 2015 auszugehen ist und damit im Streitzeitraum bereits ein mehr als fünfjähriger Aufenthalt vorlag (vgl Aufenthaltsbescheinigung Bundeswehrkrankenhaus vom 24. August 2020 für die Zeiten ab 30. März 2015; Bescheinigung Caritasverband für das Erzbistum Berlin vom 29. Juli 2020 für die Zeiten ab Februar 2015; Tätigkeitsbescheinigung Strassenfeger eV Mai 2015 bis 2018; Bescheinigung Berliner Stadtmission eV vom 16. Januar 2019 bzw 24. Januar 2019; Nachweis über Kontoeröffnung Postbank vom Februar 2019; Zuweisung eines Unterkunftsplatzes vom Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf vom 18. April 2019 bis 18. Mai 2019; Strafanzeige wegen Taschendiebstahls vom 4. April 2019; Bescheinigung des Vereins „Unter Druck“ – Kultur von der Straße eV vom 1. Juli 2019; eidesstattliche Versicherung des zwischenzeitlich verstorbenen K D vom 28. Juni 2019; Aussagen der am 23. September 2021 im Verfahren – S 94 AS 6020/19 – gerichtlich vernommenen Zeugen Mund W). Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller seinen Aufenthalt zwischenzeitlich längere Zeit wieder in Polen genommen hätte bzw – wie der Antragsgegner spekuliert – zwischen Polen und Berlin pendelt, sind nicht ersichtlich. Der Senat nimmt ergänzend auf die zutreffenden Ausführungen des SG Berlin im Urteil vom 28. Oktober 2021 im og Verfahren Bezug, die der Antragsgegner auch durch sein Vorbringen im vorliegenden Verfahren nicht zu entkräften vermochte.

 

Es ist – unter vollständiger Anrechnung der vom Antragsteller genannten Einkünfte von durchschnittlich 100,- € mtl im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes – im Übrigen auch von einer Hilfebedürftigkeit des Antragstellers auszugehen, da nicht feststellbar ist, dass der Antragsteller ansonsten das Existenzminimum sichernde Mittel zur Verfügung hat. Durchgreifende Zweifel an seiner Erwerbsfähigkeit bestehen nicht.

Es verbleibt daher bei den vom SG ausgeworfenen vorläufigen Zahlbeträgen.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

 

Der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung (§ 199 Abs. 2 SGG) hat sich durch die Beschwerdeentscheidung erledigt.

 

Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren (vgl § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Zivilprozessordnung) war im Hinblick auf den ausgeworfenen Kostenerstattungsanspruch des Antragstellers und die dadurch insoweit entfallende Bedürftigkeit abzulehnen.

 

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar.

 

Rechtskraft
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