L 9 AS 400/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 96 AS 24117/14
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 AS 400/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Januar 2019 wird zurückgewiesen.

 

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Januar 2019 wird als unzulässig verworfen.

 

Außergerichtliche Kosten sind für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

            Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

 

I.

 

Im Streit stehen höhere Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 1. Juli 2014 bis zum 31. Dezember 2014.

 

Der Kläger ist 1965 geboren und bezieht bei dem Beklagten jedenfalls seit 2009 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (Arbeitslosengeld II gemäß § 19 Abs. 1 SGB II).

 

Der Kläger hat eine Körpergröße von 2,07 m und die Bekleidungsgröße 118 sowie Schuhgröße 52 bzw. 16UK. Er bewohnt seit 2005 eine Wohnung mit einer Gasetagenheizung, die Warmwasserversorgung erfolgt dezentral über eine Gastherme. Der Kläger hat sich in dem Mietvertrag verpflichtet, für die Wohnung eine private Haftpflichtversicherung abzuschließen (Anlage 1 zum Mietvertrag, zu § 25 Abs. 3 des Vertrags). Der Kläger zahlte für die Haftpflichtversicherung jährlich im Juli einen Beitrag in Höhe von 32,24 Euro.

 

Der Beklagte berücksichtigte in der Annahme eines höheren Grundumsatzes des Klägers für diesen einen ernährungsbedingten (individuellen) Mehrbedarf in Höhe von 10 % des Regelbedarfs. Dies beruhte auf einer Stellungnahme der Abteilung Gesundheit des Bezirksamtes Mitte von Berlin vom 13. Dezember 2011 (Frau Dr. H, Bl.  der Leistungsakte – LA – Bd. ). Danach erscheine bei Annahme eines erhöhten Grundumsatzes ein Mehrbedarf, bezogen auf den Regelbedarf für Nahrung und alkoholfreie Getränke, von ca. 30 % angemessen. Dies entspreche ungefähr den „Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulage in der Sozialhilfe“, die einen Mehrbedarf von 10 % des Eckregelsatzes für eine Anzahl von Erkrankungen vorsähen, die diätetisch mit einer Vollkost nicht ausreichend zu behandeln seien und einen erhöhten Ernährungsaufwand forderten.

 

Der Kläger beantragte mit seinem Antrag vom 22. Mai 2014 für die Leistungen ab dem 1. Juli 2014 u.a. eine Erhöhung des Mehrbedarfs auf 20 %, da der bisherige Mehrbedarf aufgrund seines erhöhten Energie- bzw. Kalorienbedarfs zur Gewährleistung einer angemessenen Grundversorgung völlig unzureichend sei sowie eine erhöhte Gewährung des Zuschlags für den Stromverbrauch zum Betrieb seiner Gastherme.

 

Der Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 30. Mai 2014 vorläufig Leistungen für den Bewilligungszeitraum vom 1. Juli 2014 bis zum 31. Dezember 2014 in Höhe von 791,25 Euro monatlich. Neben dem Regelbedarf in Höhe von 391,00 Euro berücksichtigte er weiter einen (ernährungsbedingten) Mehrbedarf in Höhe von 10 % (39,10 Euro) sowie einen Zuschlag für den Strombedarf der Gastherme in Höhe von 1,75  (entspricht 5 % der Gasabschläge des Klägers) zusätzlich zur Miete und den Heizkosten. Die Vorläufigkeit seiner Bewilligung begründete der Beklagte damit, dass der Antrag auf Gewährung eines (weiteren) Mehrbedarfs für die Warmwasseraufbereitung noch nicht (abschließend) beschieden werden könne.

 

Der Kläger erhob am 29. Juni 2014 mehrere Widersprüche gegen den vorläufigen Bewilligungsbescheid und stellte daneben drei Anträge auf Überprüfung der bis dahin ergangenen Bewilligungsbescheide betreffend den Leistungszeitraum rückwirkend zum Januar 2013. Er begehrte mit diesen u.a. die Übernahme der Kosten für das Sozialticket, die Gewährung eines höheren ernährungsbedingten Mehrbedarfs sowie eines Mehrbedarfs für Kleidung und Schuhe in Übergröße in Höhe von 100 % der im Regelbedarf vorgesehenen Summe (32,09 Euro für 2013), bzw. mindestens 20 % des maßgebenden Regelbedarfs (= 78,20 Euro). Ungeachtet dessen sei die Höhe des Regelbedarfs allgemein verfassungswidrig zu niedrig bemessen, er beantrage einen Regelbedarf in Höhe von mindestens 594,93 Euro pro Monat. Am 3. Juli 2014 beantragte er erneut im Wege des Überprüfungsverfahrens die Bewilligung der o.g. Mehrbedarfe für ernährungsbedingte Mehrkosten und die Anschaffung von Bekleidung und Schuhen in Übergröße für den Zeitraum 2013 und 2014. Der Beklagte lehnte die Überprüfungsanträge mit insgesamt fünf Einzelbescheiden vom 11. September 2014 sowie einem Bescheid vom 22. September 2014 ab.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 16. September 2014 wies der Beklagte alle Widersprüche gegen den Bescheid vom 30. Mai 2014 zurück. Der Kläger hat gegen den Widerspruchsbescheid drei einzelne Klagen zum Sozialgericht Berlin erhoben (S 96 AS 24117/14, S 127 AS 24118/14 und S 197 AS 24119/18), jeweils unterteilt nach den einzelnen Begehren, der Höhe des Regelbedarfs, der verschiedenen geltend gemachten Mehrbedarfe und der Stromkosten für die Gastherme. Das Sozialgericht hat die drei Klageverfahren zum Az. des Ausgangsverfahren (S 96 AS 24117/14) verbunden.

 

Der Kläger erhob auch gegen die ablehnenden Überprüfungsbescheide vom 11. September 2014 und vom 22. September 2014 jeweils Widerspruch mit Ausnahme des Bescheids betreffend den Warmwasserbedarf (Bl. 1337 – 1342 LA Bd. VI). Der Beklagte wies die Widersprüche, betreffend die Kostenübernahme für das Sozialticket, den ernährungsbedingten Mehrbedarf sowie den Bedarf wegen Übergröße der Bekleidung mit fünf Widerspruchsbescheiden vom 16. Dezember 2014 zurück (W-96204/14, W-96204-07408/14, W-96204-07409/14, W-96204-07410/14, W-96204-07411/14). Der Kläger hat dagegen vier Klagen zum Sozialgericht Berlin erhoben (S 173 AS 30098/14, S 174 AS 30087/14, S 175 AS 30088/14 und S 91 AS 30091/14). Diese Klagen hat das Sozialgericht zum Az. S 91 AS 30091/14 verbunden und die drei Klagen, betreffend den Bewilligungszeitraum vom Juli 2014 bis Dezember 2014, wegen doppelter Rechtshängigkeit zum bereits anhängigen hiesigen Ausgangsverfahren vor der 96. Kammer als unzulässig abgewiesen. Für den Zeitraum vom 1. Januar 2013 bis einschließlich Juni 2014 sei die Klage, betreffend die Mehrbedarfe unbegründet (Gerichtsbescheid vom 23. Januar 2017).

 

Im Klageverfahren S 96 AS 24117/14 rügt der Kläger, dass der Regelbedarf und die darin enthaltenen Bekleidungspauschalen evident unzureichend seien und es müsse ein weiterer ernährungsbedingter Mehrbedarf in Höhe von 45,55 % von der im Regelbedarf für den Einzelbedarf Nahrung/Getränke vorgesehenen Position sowie plus mindestens 12,8 % des Regelbedarfs gewährt werden. Die Durchführung einer Grundumsatzmessung, die der Kläger zunächst selbst angeregt hat, hat er später als nicht sachdienlich abgelehnt (u.a. am 6. Dezember 2016). Das Sozialgericht hat daraufhin ein in dem parallelen Klageverfahren S 126 AS 2599/17 eingeholtes ernährungsmedizinisches Sachverständigengutachten des Arztes Dr. R. M vom 12. Dezember 2017 aufgrund einer körperlichen Untersuchung des Klägers (am 4. Dezember 2017) beigezogen. Wegen der Einzelheiten des Gutachtens wird auf Bl.  der Gerichtsakte, Bd.  Bezug genommen.

 

Schließlich macht der Kläger weiter die vollständige Übernahme der monatlichen Kosten für das Sozialticket der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) geltend sowie der Kosten für zehn Einzelfahrausweise Tarifgebiet Berlin ABC und zehn Anschlussfahrscheine jeweils pro Monat sowie Kosten einer BahnCard 50. Darüber hinaus begehrt er die Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für Bekleidung und Schuhe in Übergröße in Höhe von 181 % des dafür im Regelbedarf vorgesehenen Anteils. Sein Klagebegehren, gerichtet auf die Gewährung einer höheren monatlichen Leistung, begründe sich aus den genannten Mehrbedarfen. Den Anspruch auf die Übernahme höherer Stromkosten für die Gastherme in Höhe von monatlich insgesamt 9,46 Euro und auf Berücksichtigung seiner privaten Haftpflichtversicherung in Höhe von 32,24 Euro hat der Beklagte im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht genauso anerkannt wie einen Anspruch auf Übernahme von Verzugszinsen in Höhe von 5 Prozent des Basiszinssatzes ab Fälligkeit der genannten Ansprüche. Der Kläger hat das Teilanerkenntnis im Termin angenommen und begehrt die Gewährung einer (Verzugs-)Pauschale nach § 288 Abs. 5 BGB (Erklärungen des Klägers zu Protokoll des Sozialgerichts, Bl.  Bd.  der Gerichtsakte).

 

Mit Urteil vom 23. Januar 2019 hat das Sozialgericht den Beklagten verurteilt, dem Kläger für den Bewilligungszeitraum 1. Juli 2014 bis zum 31. Dezember 2014 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für Bekleidung und Schuhe in Übergröße in Höhe von monatlich 28,36 Euro zu gewähren und im Übrigen die Klage abgewiesen. Gegenstand des Verfahrens seien neben dem angefochtenen Bewilligungsbescheid vom 30. Mai 2014 auch die drei weiteren Bescheide vom 11. September 2014, mit denen der Beklagte auf den entsprechenden Antrag des Klägers die Gewährung eines Mehrbedarfs für Bekleidung und die Übernahme von Kosten für ein Sozialticket für den streitigen Bewilligungszeitraum abgelehnt habe. Denn der Kläger habe mit seinen Anträgen auf Überprüfung die Abänderung der Bewilligung des Bescheides vom 30. Mai 2014 begehrt. Mehrbedarfe könnten als integraler Bestandteil der Regelleistung nicht isoliert geltend gemacht werden. Dennoch erlassene Bescheide über einen solchen Mehrbedarf würden nach §§ 86, 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Widerspruchs- bzw. eines Klageverfahrens, betreffend die Höhe der Leistung für den jeweiligen Leistungsabschnitt. Die Kammer sei auch berechtigt, über die Leistungen endgültig zu entscheiden, denn im Hinblick auf den Ablehnungsbescheid vom 11. September 2014 über einen Mehrbedarf für Warmwasser liege kein Grund mehr für eine gerichtliche Entscheidung über vorläufige Leistungen vor (Hinweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 13/14 R).

 

Der Kläger habe Anspruch auf einen monatlichen Mehrbedarf für Bekleidung, Wäsche und Schuhe in Übergröße in Höhe von monatlich 28,36 Euro. Für ihn bestehe gemäß § 21 Abs. 6 SGB II ein regelmäßig wiederkehrender Bedarf, der im Vergleich zu dem im Regelbedarf berücksichtigten Bedarf nach oben erheblich abweiche und aufgrund seiner Höhe unabweisbar sei, weil er nicht dauerhaft aus Einsparungen an anderer Stelle des Regelbedarfs ausgeglichen werden könne. Zu den besonderen Bedarfen, die im Vergleich zu den im Regelbedarf abgebildeten Durchschnittsbedarfen abweichen könnten und damit die Bedarfslage der Betroffenen in qualitativer oder quantitativer Hinsicht anders prägten, könne auch der Bedarf besonderer Übergrößen im Einzelfall gehören. Aus der Gesetzesbegründung zur Parallelvorschrift des § 27a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) ergebe sich, dass ein relevanter abweichender Bedarf auch darin bestehen könne, dass Leistungsberechtigte (dauerhaft) teurere Über- oder Untergrößen benötigten. Soweit der Gesetzgeber des SGB II dafür keinen entsprechenden Mehrbedarf habe anerkennen wollen, könne dies im Wege einer verfassungskonformen Auslegung dann nicht gelten, wenn sich eine Versorgungslücke aus einem strukturellen Defizit der den Regelsätzen zugrundeliegenden Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) ergebe, so z.B. weil sich die EVS und ihr folgend auch die Bemessung der Regelbedarfe nur an durchschnittlichen Bedarfen orientiere. Zur Sicherung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums müsse dann im Einzelfall ein zusätzlicher Bedarf eingeräumt werden. Der dauerhafte Mehrbedarf des Klägers ergebe sich für die Kammer aus der entsprechenden Fachpublikation von S.Thiele/L.R. Sobina in der HuW (Hauswirtschaft und Wissenschaft, Europäische Fachzeitschrift für Haushaltsökonomie, Haushaltstechnik und Sozialmanagement) 2014, S. 64 – 70 mit dem Titel: „Besteht ein ALG-II-Mehrbedarf für Kleidung und Schuhe in Übergrößen?“. Die Autorinnen hätten in 90 zufällig ausgewählten Bekleidungs- und Schuh-Onlinegeschäften Preise für Normal- und Übergrößen für Männerbekleidung und –schuhe ausgewertet. Daraus lasse sich ersehen, dass der im Regelbedarf enthaltene Anteil für Bekleidung und Strumpfwaren von insgesamt 24,70 Euro für die Anschaffung von Übergrößen monatlich mit dem Faktor 1,59 zu multiplizieren sei. Den im Regelbedarf enthaltenen Anteil für Schuhe (8,16 Euro) habe die Kammer mit dem in der genannten Studie ermittelten Faktor 2,69 multipliziert. Der so ermittelte Mehrbedarf betrage 7 % des 2014 geltenden Regelbedarfs und könne nicht dauerhaft mit Umschichtungen aus den sonstigen Bedarfspositionen finanziert werden, ohne dass bei diesen dadurch eine Unterdeckung eintrete.

 

Der Kläger habe keinen Anspruch auf weitere Leistungen. So sei ein höherer Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung nach § 21 Abs. 6 SGB II denkbar, dagegen nicht nach § 21 Abs. 5 SGB II. Diese Anspruchsgrundlage fordere einen krankheitsbedingten höheren Energiebedarf. Der Kläger hingegen mache einen konstitutionsbedingt höheren Grundumsatz geltend. Dieser begründe keinen (finanziellen) Mehrbedarf. Zwar habe der Kläger einen höheren Kalorienbedarf als der dem Regelbedarf zugrunde gelegte statistisch durchschnittlich gewachsene Mann. Dies ergebe sich aus dem im Parallelverfahren (Az.: S 126 AS 2599/17) eingeholten medizinischen Gutachten über den Kläger vom 12. Dezember 2017. Dieses habe eine Grundumsatzmessung beim Kläger durchgeführt und nachvollziehbar ausgeführt, dass der Kläger im Vergleich zu einem statistisch durchschnittlich gewachsenen Mann mit einem entsprechenden Körpergewicht von 94 kg zwar einen um 13 % erhöhten täglichen Energiebedarf habe. Dieser lasse sich jedoch – so der medizinische Sachverständige – mittels einer Vollkosternährung decken. Der Kläger habe auch keine tatsächlich höheren Ausgaben für Lebensmittel nachgewiesen. So habe er insbesondere Aufwendungen, die noch über dem Mehrbedarf lägen, den der Beklagte bereits monatlich berücksichtige, nicht nachgewiesen.   

 

Der Kläger habe schließlich keinen Anspruch auf einen mobilitätsbedingten Mehrbedarf. Die Kosten für Mobilität und Verkehr seien im Regelbedarf mit 24,62 Euro monatlich abgebildet, ohne dass für den Kläger ein im Vergleich zu anderen Leistungsbeziehern erhöhter Bedarf nachgewiesen sei. Es sei verfassungsrechtlich nicht geboten, dem Kläger die Kosten für die Anschaffung eines Sozialtickets sowie der weiteren von ihm geltend gemachten Verkehrskosten zu gewähren. Eine über die genannten Mehrbedarfe noch weitergehende Erhöhung des Regelbedarfs habe der Kläger dagegen zuletzt auch auf Nachfrage im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht mehr begehrt. Soweit der Kläger mit seinem Antrag, ein Preisgutachten für jeden Einzelbedarf des Regelbedarfs in der Stadt B einzuholen, weiter die Verfassungswidrigkeit der Höhe des Regelbedarfs geltend mache, habe die Kammer keine Zweifel an der Verfassungsgemäßheit des Regelbedarfs.

 

Ein Anspruch auf Gewährung der Verzugspauschale gemäß § 288 Abs. 5 BGB, die nur für Schuldverhältnisse nach dem 28. Juli 2014 gelte, scheitere daran, dass diese für Verbraucher bereits tatbestandlich keine Anwendung finde.

 

Das Sozialgericht hat die Berufung für den Beklagten zugelassen.

 

Einen Antrag des Klägers, das Protokoll zu berichtigen, weil er mehrere Beweisanträge zur Ermittlung der einzelnen Mehrbedarfe und Differenzen der Regelbedarfsanteile zu realen Preisen am Markt gestellt habe, hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 27. Februar 2019 abgelehnt.  

 

Der Beklagte hat am 4. März 2019 gegen das ihm am 28. Februar 2019 zugestellte Urteil Berufung eingelegt.

 

Der Kläger hat gegen das ihm am 28. Februar 2019 zugestellte Urteil am 19. März 2019 Berufung eingelegt, mit der er sein erstinstanzliches Begehren, betreffend die Anerkennung von diversen Mehrbedarfen und die Gewährung einer Verzugskostenpauschale weiterverfolgt. Da der Regelbedarf insgesamt evident unzureichend sei, könnten Leistungsberechtigte bei Unterdeckung von Mehrbedarfen nicht umschichten. Aus den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 23. Juli 2014 (1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13) folge eine Pflicht des Gesetzgebers, auf die Unterdeckung existenzieller Bedarfe zu reagieren. Zu den grundrechtlich zu sichernden Bedarfen gehöre derjenige für Verkehr/Mobilität. Die Verkehrspauschale im Regelbedarf sei insoweit unzureichend. Es folge daraus eine arrestähnlich fixierte Aufenthaltsbeschränkung auf wenige Kilometer im Stadtgebiet. Es bestehe Anspruch auf Übernahme von Tarifen für die Fahrten im Berliner Nahbereich und Umland, hilfsweise auf den Ausgleich der Differenz zwischen dem im Regelbedarf enthaltenen Anteil für Verkehr und Mobilität und einem S-Bahn-Ticket im Tarifbereich AB sowie zehn Einzelfahrausweise Tarifgebiet ABC pro Monat, die Bahncard 50 und zehn Anschlussfahrausweise.

Er fordert die weitere Aufklärung des streitigen Sachverhaltes, auch im eigenständigen Beweissicherungsverfahren durch die Vorladung des Gutachters Dr. R M, Zentrum für Sportmedizin, B, sowie der Verfasserinnen des Gutachtens „Besteht ein ALG-II-Mehrbedarf für Kleidung und Schuhe in Übergrößen?“, Dr. S T und/oder L R S, schließlich die Einholung eines unabhängigen ernährungswissenschaftlichen Gutachtens zur Ermittlung seines Energie- und Nährstoffbedarfs sowie eines unabhängigen Preisgutachtens.  Es sei nicht erwiesen, dass durch die Anteile für Ernährung eine Vollkosternährung aus dem Regelbedarf tatsächlich zu finanzieren sei. Der vom Beklagten gewährte Mehrbedarf in Höhe von 10 % des Regelbedarfs sei unzureichend, da seine Körpergröße und Gewicht um mehr als 20 % vom Durchschnittsbürger abweiche. Das Gericht müsse ermitteln, auf welcher Grundlage die Widerspruchsentscheidung des Beklagten fuße.

 

Es bestehe außerdem ein höherer Mehrbedarf Bekleidung/Schuhe, nämlich in Höhe von 181 % des entsprechend im Regelbedarf vorgesehenen Einzelbedarfs für Bekleidung/Schuhe. Das vom Sozialgericht herangezogene Gutachten T/S habe für seine Größe nur begrenzte Aussagekraft, da es nur die Übergrößen XXL und 4XL untersuche und auf rein spekulativer Datenbasis beruhe sowie nicht am realen Warenkorbmodell orientiert sei. Die Erhebung sei statistisch unwissenschaftlich und ein Gefälligkeitsgutachten. Eigene stichprobenartige Erhebungen des Klägers gelangten zu einem Preisfaktor von 2,81. Das Sozialgericht habe dazu eigene Ermittlungen unterlassen. Die Bedarfsunterdeckung in dem Teilbereich der Bekleidung und Schuhe pflanze sich in der grundgesetzwidrigen Unterdeckung in den elementaren weiteren Bedarfen wie Ernährung und Gesundheit, langlebiger Konsum-/Verbrauchsgüter fort. Quittungen über die Beschaffung adäquater Bekleidung könne er nicht vorlegen, weil es gerade an den finanziellen Mitteln fehle.

 

Schließlich seien die Regelbedarfe insgesamt in keiner Weise bedarfsdeckend angesetzt und deshalb verfassungswidrig.

 

An dem Anspruch auf zusätzliche Zahlung der 40-Euro-Verzugspauschale halte er fest, denn deren gesetzliche Voraussetzungen seien erfüllt.

 

 

Der Kläger beantragt sinngemäß,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Januar 2019 abzuändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 30. Mai 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. September 2014 sowie der Bescheide vom 11. September 2014 und vom 22. September 2014 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 16. Dezember 2014 (W-96204-07406/14, W-96204-07408/14 und W-96204-07410/14) zu verurteilen,

 

ihm für den Bewilligungszeitraum vom 1. Juli 2014 bis zum 31. Dezember 2014 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes unter Berücksichtigung eines zusätzlichen Mehrbedarfs für Nahrung und Getränke in Höhe von mindestens 45,55 % der im jeweiligen Regelsatz (35,5 %) vorgesehenen Summe für den Einzelbedarf Nahrung/Getränke plus 12,8 % vom maßgebenden Regelbedarf wegen eines individuell unabweisbar höheren Energie- bzw. Kalorienbedarfs, sowie einen höheren Mehrbedarf für Bekleidung/Schuhe in Höhe von mindestens 181 % des im Regelbedarf dafür vorgesehenen Anteils und eine Verzugskostenpauschale nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB zu zahlen,  

 

darüber hinaus die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

           

Der Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Januar 2019 aufzuheben, soweit dem Kläger unter Abänderung des angefochtenen Bescheides vom 30. Mai 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. September 2014, der Bescheide vom 11. September 2014 in der Fassung der Widerspruchsbescheide vom 16. Dezember 2014 für den Zeitraum vom 1. Juli 2014 bis zum 31. Juli 2014 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für Bekleidung und Schuhe wegen Übergröße von monatlich 28,36 Euro zu gewähren sind und die Klage auch insoweit abzuweisen

 

sowie die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

 

Der Beklagte führt an, das Sozialgericht habe die Verurteilung zu einem Mehrbedarf rechtswidrig als Dauerleistung und ohne Feststellung einer tatsächlichen Bedarfslage vorgenommen. Ausweislich des Sitzungsprotokolls des Sozialgerichts habe der Kläger für den streitigen Zeitraum keine Quittungen vorlegen können. Eine möglicherweise nicht ausreichende Deckung des Regelbedarfs könne in der Konsequenz keinen besonderen Bedarf im Einzelfall auslösen. Ein abstrakter Bedarf solle mit § 21 Abs. 6 SGB II gerade nicht abgedeckt werden, was sich beispielhaft bei den Kosten des Umgangsrechts zeige. Finde tatsächlich kein Umgang statt, könnten auch keine Kosten geltend gemacht werden. Der Kläger habe keine Aufwendungen getätigt, welche den streitigen Mehrbedarf auslösen könnten. Eine Konkretisierung des Bedarfs erfolge nicht einmal ansatzweise. Die Ausgaben für Bekleidung seien in jedem Fall vom Regelsatz umfasst und zu finanzieren. Nichts anderes gelte für groß gewachsene Leistungsbezieher. Faktisch sei der Regelsatz durch die Entscheidung des Sozialgerichts dauerhaft erhöht und so das gesetzliche Regelsystem der Einteilung in Bedarfstypen des Dauerbedarfs, des einmaligen Bedarfs und unregelmäßigen Bedarfs durchbrochen worden. Eine endgültige Bewilligung sei schließlich nicht erfolgt, so dass zumindest die Fiktion des § 41a Abs. 5 SGB II i.V.m. § 80 Abs. 2 Nr. 1 SGB II zum 1. August 2017 eingetreten sei. Das selbständige Beweissicherungsverfahren (§ 76 Abs. 2 SGG) finde nur bei den erstinstanzlich zuständigen Sozialgerichten statt, nicht hingegen bei den Landessozialgerichten.

 

Der Beklagte hat dem Kläger am 9. August 2019 unter Berufung auf sein Teilanerkenntnis in der mündlichen Verhandlung beim Sozialgericht u.a. einen Mehrbedarf wegen Bekleidung und Schuhen für den Zeitraum vom 1. Juli 2014 bis zum 31. Dezember 2014 in Höhe von monatlich 28,36 Euro gewährt und insgesamt für den streitigen Zeitraum einen Betrag in Höhe von weiteren 419,68 Euro an den Kläger ausgezahlt. Einen Vorbehalt im Hinblick auf seine für den Bekleidungsmehrbedarf eingelegte Berufung hat der Beklagte nicht erteilt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten (3 Bde.) sowie Leistungsakten des Beklagten (5 Bde.) verwiesen, die Gegenstand der Beschlussfassung gewesen sind.

II.

 

1. Der Senat konnte die Berufungen durch Beschluss zurückweisen. Er hält die Berufung des Klägers einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich (§ 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz [SGG]); die Berufung des Beklagten ist dagegen zwar zulässig erhoben worden, sie wurde aber mit dem Schreiben des Beklagten vom 9. August 2019 unzulässig und war deshalb zu verwerfen (§ 158 SGG). Die Beteiligten sind vorher angehört worden.

 

2. Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg, denn das Sozialgericht hat seine Klage zu Recht abgewiesen, soweit er mit ihr einen höheren Mehrbedarf für die Anschaffung von Bekleidung und Schuhen in Übergröße und für seine Nahrung und Getränke (a.), sowie weitere Leistungen für Mobilität und Verkehr begehrt (b.) und schließlich eine Verzugskostenpauschale nach § 288 BGB geltend macht (c.).

 

Streitgegenstand ist die Höhe des Leistungsanspruchs, konkret im Hinblick auf Mehrbedarfe in dem Bewilligungszeitraum vom 1. Juli 2014 bis zum 31. Dezember 2014. Der Zeitraum ist Gegenstand des Bewilligungsbescheides vom 30. Mai 2014 sowie der weiteren Bescheide vom 11. und 22. September 2014, die auf Überprüfungsanträgen des Klägers im bereits laufenden Widerspruchsverfahren beruhten (§§ 86, 96 SGG). 

 

Der Kläger hat keinen Anspruch auf weitere, konkret noch höhere Leistungen für den Bewilligungszeitraum. Zur Begründung verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen des Sozialgerichts in seinem Urteil (§ 153 Abs. 2 SGG). Unter Würdigung des Vortrags des Klägers bleibt zu betonen und ergänzend auszuführen:

 

a. aa. Zutreffend hat das Sozialgericht die Anspruchsgrundlage für den Mehrbedarf wegen der (regelmäßigen) Anschaffung von Schuhen und Bekleidung sowie einer kostenaufwändigen Ernährung in § 21 Abs. 6 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in der Fassung vom 13. Mai 2011, die bis zum 31. Juli 2016 galt, gesehen. Nach § 21 Abs. 6 SGB II wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht (Satz 1). Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (Satz 2).

 

Der Kläger hat mit Blick auf die Anschaffung von Bekleidung und Schuhen und die Kosten für Nahrung und Getränke jedenfalls keinen noch höheren Mehrbedarf als denjenigen nachgewiesen, den einerseits der Beklagte bereits gewährt (Nahrung/Getränke) bzw. andererseits das Sozialgericht ihm zugesprochen hat (Bekleidung, Schuhe und Strumpfwaren). Dabei scheitert ein Mehrbedarf entgegen der Auffassung des Beklagten nicht schon daran, dass in beiden Fällen jeweils eine Bedarfsposition betroffen ist, die bereits im Regelbedarf berücksichtigt wird. Ein Mehrbedarf i.S. von §  21 Abs. 6 SGB II, der im Nachgang der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9. Februar 2010 (- 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - BVerfGE 125, 175 ff.) neu in das Gesetz aufgenommen wurde, liegt vor, wenn im Einzelfall ein (qualitativ) atypischer Bedarf besteht, der außerhalb des Regelbedarfs liegt oder ein Bedarf besteht, der zwar seiner Art nach im Regelbedarf berücksichtigt wird, dies jedoch nur in durchschnittlicher Höhe, und für einen Leistungsberechtigen der Höhe nach überdurchschnittlich und damit atypisch nachgewiesen ist. Dabei muss es sich um einen längerfristigen, dauerhaften und nicht nur einmaligen, kurzfristigen Bedarf handeln. Unabweisbar ist der Bedarf, wenn er nicht durch Zuwendungen Dritter oder durch ein Ausweichen auf eine andere Bedarfslage befriedigt werden kann (vgl. Behrend in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 21 Rdnr. 80 und 86, 88 und 92, unter Berufung auf das BVerfG, aaO, S. 254). Soweit der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung zu § 21 Abs. 6 SGB II ausführt, der Härtefallmehrbedarf erfasse keine Bekleidung bzw. Schuhe in Über- oder Untergröße sowie keinen über § 21 Abs. 5 SGB II hinausgehenden besonderen Ernährungsaufwand (BT-Drs. 17/1465 S. 9 – Zu Nummer 2, ohne inhaltliche Begründung), haben diese Einschränkungen zumindest im Wortlaut des Gesetzes keinen Niederschlag gefunden. § 21 Abs. 6 SGB II ist außerdem zur Schließung von Bedarfslücken in der Existenzsicherung vor dem Hintergrund seiner verfassungsgerichtlich bedingten „Genese“ (dazu oben) verfassungskonform auszulegen (vgl. auch Münder/Geiger, SGB II - Grundsicherung für Arbeitsuchende, § 21 Rdnr. 5). Allgemein gilt dabei als Grenze, dass Abs. 6 keine Ausweichmöglichkeit bei gesetzgeberischem Systemversagen darstellen soll. Außerdem sind spezialgesetzliche Vorschriften, die eine besondere (für sich betrachtet schon „atypische“) Bedarfssituation regeln, auch im Verhältnis zu § 21 Abs. 6 abschließend (Breitkreuz in: BeckOK SozR, SGB II § 21 Rdnr. 18b, beck-online).

 

Gemessen daran handelt es sich bei dem Bekleidungsbedarf des Klägers grundsätzlich um einen dauerhaften Bedarf, wie das Sozialgericht völlig zutreffend ausgeführt hat, weil er mehrfach in einem Bewilligungszeitraum oder zumindest einmal in unterschiedlichen Zeiträumen entsteht. Für einen tatsächlich bestehenden, der Höhe nach atypischen Bedarf an Bekleidung und Schuhen sprechen im Fall des Klägers die Erkenntnisse der für Deutschland repräsentativen Erhebung von Thiele/Sobina für Preise in Normal- und Übergrößen anhand von preisgünstigen Online-Anbietern im Vergleich zu den im Regelbedarf enthaltenen Anteilen, die in der Zeitschrift HuW, Heft, 2/2014, S. 64 ff. publiziert wurde und auf die das Sozialgericht seine Entscheidung auch gestützt hat (so auch Urteil des Sozialgerichts Berlin für den Kläger vom 29. November 2017, S 183 AS 9809/15, Berufung anhängig unter L 29 AS 2628/17).

 

Die Ergebnisse des wissenschaftlichen Beitrags sind zur Bestimmung des Mehrbedarfs des Klägers gut verwertbar und ermöglichen zuverlässig eine Schätzung, wie sie das Sozialgericht unternommen hat. Die Zeitschrift HuW publiziert begutachtete wissenschaftliche Manuskripte aus den Fachgebieten Haushaltsökonomie, Haushaltstechnik und Sozialmanagement (vgl. www.haushalt-wissenschaft.de). Aus dem Fachbeitrag Thiele/Sobina ergibt sich, dass sich für Leistungsbezieher mit einer Körpergröße, die von einer Durchschnittskörpergröße signifikant abweicht, auch die Anschaffungspreise für Bekleidung und Schuhe von den in der EVS abgebildeten Ausgaben relevant unterscheiden. Ausgehend von dem Datenerhebungszeitraum April/Mai 2013, über den die Autorinnen berichten, ergibt sich, dass der Faktor des Anschaffungspreises für Übergrößen im Vergleich zu Normal(-konfektions)größe, zwischen 2,69 (bei Schuhen) und 1,69 (bei Strumpfwaren) sowie bei Bekleidung bei 1,59 liegt. Dies gilt bei Betrachtung von Normalgröße im Vergleich zur Größe 4XL. Die Normalgröße verorten die Autorinnen für Herren bei der Kleidergröße L und bei Schuhen bei Schuhgröße 42 (Thiele/Sobina, HuW 2014, 64, 65). Der gewählte Maßstab erscheint plausibel. Nach dem Ergebnis einer 2014 von Statista als einem führenden Anbieter für Markt- und Konsumentendaten durchgeführten Umfrage in Deutschland zur Körpergröße gaben nur rund 0,2 Prozent der Befragten an, 2 Meter oder größer zu sein und 3,6 % gaben an, zwischen 1,90 m und 1,99 m groß zu sein. Dagegen gaben insgesamt rund 56 % der befragten Männer an, zwischen 1,70 m und 1,89 m groß zu sein (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/278035/umfrage/koerpergroesse-in-deutschland/).

 

Daraus ergibt sich zur Überzeugung des Senats für SGB II-Leistungsbezieher, die Übergrößen benötigen, grundsätzlich ein Mehrbedarf, denn es ist unter Berücksichtigung der obigen Umfrage davon auszugehen, dass die auf der EVS beruhende Zusammensetzung des Regelbedarfs für Bekleidung (32,85 Euro im Regelbedarf 2014) statistisch vor allem auf der Erhebung von Einkommensbeziehern beruht, die keine Übergrößen bei Schuhen und Bekleidung benötigten.

 

Dabei ist mit den Autorinnen des o.g. Beitrags einerseits zu berücksichtigen, dass mit Blick auf die real großen Preisschwankungen im Bereich der Schuhe mit Übergröße von einem Empfänger von ALG II-Leistungen erwartet werden kann, dass er mehr Mühen aufwendet, preisgünstige Schuhe zu beschaffen und sich so speziell für ihn die Mehrkosten für Schuhe von dem Faktor 2,69 auf den Faktor 1,81 beschränken lassen (dazu näher Thiele/Sobina, HuW 2014, S. 64, 68). Damit ergibt sich für Schuhe, Strumpfwaren und Bekleidung ein Mittelwert in Höhe eines Faktors von 1,69. Bezogen auf den regelbedarfsrelevanten Anteil in Höhe von 32,85 Euro im Jahr 2014 lässt sich daraus ein Mehrbedarf für Übergröße (Schuhe/Strumpfwaren und Bekleidung) in Höhe von 22,66 Euro pro Monat (32,85 Euro x 1,69 = 55,516 Euro, abzüglich 32,95 Euro) ableiten. Wird andererseits noch berücksichtigt, dass Grundlage der Datenerhebung der genannten Autorinnen die Übergröße 4XL war, was einer Körpergröße von 1,90 m entspricht, der Kläger aber mit seiner Körpergröße (2,07 m) noch deutlich darüber liegt und dies die Mehrausgaben nach Einschätzung der beiden Autorinnen noch weiter ansteigen lässt (aaO, S. 68, vor 5), könnte dies aus Sicht des Senats im Wege der Schätzung mit einem weiteren Zuschlag zum Mehrbedarf 4XL in Höhe von 10 - 20 % berücksichtigt werden. Es ergibt sich daraus ein Mehrbedarf in Höhe von höchstens 27,19 Euro monatlich für Schuhe und Bekleidung. Der Senat lässt offen, ob mit Blick auf die konkret vom Kläger benötigte Übergröße stattdessen mit dem Urteil des Sozialgerichts die Einsparobliegenheit für die Schuhe gar nicht berücksichtigt und deshalb der Faktor 2,69 ungemindert zugrunde zu legen ist, gleichzeitig aber für Bekleidung insgesamt nur der 4XL Faktor von 1,59 angesetzt werden kann und Strumpfwaren im Hinblick auf ihren geringen Anteil am Regelbedarf (2014: nur 1,38 Euro) nicht für sich noch getrennt ermittelt werden müssen. Denn auch bei dieser für den Kläger günstigeren Ermittlungsweise des Sozialgerichts ergibt sich nur der Mehrbedarf in Höhe von 28,36 Euro, hingegen kein noch höherer.

 

Es ist unter Berücksichtigung des jeweiligen Ergebnisses beider Ermittlungsvarianten nicht zu beanstanden, wenn das Sozialgericht den Mehrbedarf als der Höhe nach unabweisbar i.S. des § 21 Abs. 6 SGB II gewertet hat. Beide Werte liegen bei rund 7 % des Regelbedarfs, so dass es vertretbar erscheint, den Kläger nicht dauerhaft darauf zu verweisen, den Bedarf allein durch Umschichtungen aus seinem Regelbedarf zu decken.

 

Die - u.a. statistisch begründeten - Einwendungen des Klägers gegen die Ableitung der Höhe des Mehrbedarfs aus dem Beitrag Thiele/Sobina überzeugen nicht. Soweit er stattdessen einen 181 %-igen Zuschlag begehrt, ist bereits unklar, ob es sich um einen Zuschlag von zusätzlich 81 % des maßgebenden Regelbedarfsanteils handeln soll oder sogar um weitere 181 % (ausgehend von 32,85 Euro). Für beides liegt kein statistisches Material vor und muss auch im Einzelfall des Klägers nicht erhoben werden. Denn der Mehrbedarf lässt sich – ausgehend von den Erhebungen der beiden Autorinnen – für den Einzelfall des Klägers zuverlässig schätzen (§ 202 SGG, § 287 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO). Ein Anspruch auf eine quasi mathematische Ableitung eines Mehrbedarfs ist in § 21 Abs. 6 SGB II genauso wenig vorgesehen wie die Ermittlung anhand eines vom Kläger geforderten konkreten Warenkorbs. Von letzterem hat sich der Gesetzgeber zugunsten der Konzeption der Regelbedarfe nach dem (pauschalierten) Statistikmodell im SGB II wie im SGB XII bewusst verabschiedet (vgl. allgemein Gutzler in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 28 SGB XII Rdnr. 40: „Abgebildet wird nämlich ein tatsächliches Verbrauchsverhalten mit internen Ausgleichsfaktoren.“).

 

Unabhängig davon durfte das Sozialgericht den Mehrbedarf in seinem Urteil auch für den bereits vergangenen streitigen Zeitraum 2014 zuerkennen. Ein Anspruch für die Vergangenheit scheitert nicht bereits daran, dass der Kläger die Anschaffung konkreter Bekleidung oder von Schuhen in dem streitigen Zeitraum auch auf konkrete Nachfrage des Sozialgerichts nicht im Einzelnen mittels Vorlage von Quittungen nachweisen konnte. Im Unterschied zum Mehrbedarf, ausgelöst durch die Aufwendungen für die Ausübung des Umgangsrechts, besteht kein Zweifel daran, dass der Kläger den dauerhaft bestehenden Bedarf an Bekleidung, Schuhen und Strümpfen laufend decken musste.

 

Weiter war das Sozialgericht trotz des nur vorläufigen Bewilligungsbescheides vom 30. Mai 2014 nicht gehindert, den Beklagten endgültig zur Leistung des Mehrbedarfs zu verpflichten. Mit den Ablehnungsbescheiden zu den Mehrbedarfen und dem Sozialticket vom September 2014 war die Bewilligung des Beklagten nicht mehr vorläufig, außerdem waren die spezifischen Voraussetzungen für die Vorläufigkeit, nämlich die Ermittlungen zu Grund und Höhe eines Mehrbedarfs für die Warmwasserversorgung, zum Zeitpunkt des erstinstanzlichen Urteils entfallen (BSG, Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 13/14 R – Rdnr. 16). Die Fiktion des zum 1. August 2016 neu in das SGB II eingefügten § 41a Abs. 5 SGB II kam nicht zur Anwendung. Soweit dieser bestimmt, dass, wenn innerhalb eines Jahres nach Ablauf des Bewilligungszeitraums keine abschließende Entscheidung ergeht, die vorläufig bewilligten Leistungen als abschließend festgesetzt gelten, kommt er nach § 80 Abs. 2 SGB II nicht zur Anwendung. Ist der Bewilligungszeitraum vor dem 1. August 2016 abgeschlossen, gilt noch die bis zum 31. Juli 2016 geltende Rechtslage (BSG, Urteil vom 12. September 2018 - B 4 AS 39/17 R – Rdnr. 23 ff.). 

 

bb. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf einen weiteren Mehrbedarf für die Anschaffung von Nahrung und Getränken über den Betrag hinaus, den der Beklagte in Höhe von 10 % des 2014 maßgebenden Regelbedarfs (39,10 Euro) bereits gewährt. Das Sozialgericht hat insoweit die Klage zu Recht abgewiesen. Ausgehend von den Feststellungen des Gutachters Dr. M, die dieser in seinem Gutachten vom 12. Dezember 2017 auf Veranlassung des Sozialgerichts Berlin im Verfahren S 126 AS 2599/17 erstattete, bestehen große Zweifel, ob der Kläger allein wegen seiner Körpergröße überhaupt ein Ernährungsverhalten hat, das nicht aus dem Regelbedarf für 2014 finanziert werden könnte. Der ärztliche Gutachter hat ausgeführt, dass der Kläger – ausgehend von seinem Grundumsatz, seinem Alter und Geschlecht - zwar einen im Vergleich zu einem Mann von durchschnittlicher Statur, vergleichbarem Gewicht und im gleichen Alter um 13 % erhöhten Gesamtenergiebedarf hat. Dieser lässt sich aber, so der Gutachter, mit einer Vollkosternährung decken. Ob sich aus dem erhöhten Gesamtenergiebedarf allein monatlich höhere Kosten für die Ernährung ergeben, hat der Gutachter dagegen für zweifelhaft gehalten. Vor diesem Hintergrund geht der Senat davon aus, dass der Kläger mittels des von dem Beklagten bereits bewilligten 10 %-igen Zuschlags die Kosten für seine Ernährung auf jeden Fall decken kann. Die Höhe des 10 %-Zuschlags beruht auf der Stellungnahme von Dr. H aus dem Jahr 2011, die einen möglichen höheren Energiebedarf des Klägers mit Erkrankungen verglichen hat, die diätetisch mit einer Vollkost nicht ausreichend zu behandeln sind. Diese Anleihe erscheint in der Begründung plausibel und mit ihrer Anknüpfung an den Eckregelbedarf auch im Hinblick auf mögliche Preisänderungen hinreichend dynamisch. Aus den umfangreichen, größtenteils eher allgemein gehaltenen statistischen Erwägungen des Klägers folgt ebenso wenig eine andere Einschätzung wie aus seinen Anwürfen, wonach der Arzt Dr. M ein Gefälligkeitsgutachten erstellt habe oder bereits wegen seiner damaligen beruflichen Anstellung im Zentrum für Sportmedizin nicht neutral gewesen sein könne. Allein dass der Gutachter die Annahmen des Klägers nicht teilt, begründet keine Zweifel an seiner Unparteilichkeit. Ein wissenschaftliches regionalstatistisches Preisgutachten für Berlin/Brandenburg für den Einzelbedarf Nahrung/alkoholfreie Getränke, wie es der Kläger wiederholt fordert, ist bereits deshalb kein taugliches Beweismittel, weil für den Mehrbedarf wie auch den Regelbedarf nach § 20 SGB II allein die bundesdurchschnittliche Entwicklung der Preise für Güter und Dienstleistungen relevant ist (vgl. zur Bestimmung und Ermittlung § 28a Abs. 2 und Abs. 3 SGB XII).

 

b. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Bewilligung höherer Leistungen speziell zur Gewährleistung eines (besonderen) Mobilitätsbedarfs. Er hat insoweit mit seiner Berufungsbegründung keinen besonderen Bedarf nachgewiesen. Einer Erwerbstätigkeit ging er 2014 nicht nach, so dass sein Mobilitätsbedürfnis durchschnittlich sein dürfte und aus dem Anteil für Verkehr/Mobilität des Regelbedarfs gedeckt war (2014: 24,62 Euro pro Monat).

 

Soweit der Kläger eine demgegenüber erhöhte Leistung u.a. damit begründet, dass der Regelbedarf an sich das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht decke, ist das nicht überzeugend.  Der Kläger irrt, wenn er wiederholt vorträgt, Leistungsbezieher müssten in einer Stadt mit flächendeckender ÖPNV-Versorgung mit den Regelleistungen in die Lage versetzt werden, sich aus dem Regelbedarfsanteil für Verkehr mit einer Monatskarte für das gesamte Netz versorgen zu können. Seine Vorstellung, sich quasi monatlich in einem Tarifbereich bewegen können zu müssen, beruht auf einer unzutreffenden Vorstellung von der Konzeption des Regelbedarfs einerseits und dem grundrechtlich zu sichernden Mobilitätsbedürfnis andererseits. So trifft es zwar zu, dass es 2014 in Berlin nicht möglich war, mit dem im Regelbedarf für Verkehr vorgesehenen Anteil in Höhe von 24,62 Euro ein monatliches Sozialticket („B-Ticket S“, Tarifbereich B, Teilbereiche AB) zu erwerben. Dessen Preis lag noch darüber, er wurde erst ab dem Frühjahr 2017 von monatlich 36 Euro auf 25 Euro abgesenkt. Daraus folgt aber unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf eine Existenzsicherung keine verfassungswidrige Bedarfsunterdeckung, wie sie der Kläger wiederholt behauptet.  Der regelbedarfsrelevante Anteil „Verkehr“ beruht – wie auch die übrigen Bedarfe - auf den durchschnittlichen monatlichen Ausgaben der Referenzhaushalte für "fremde Verkehrsdienstleistungen“ (vgl. dazu die Anordnung des § 5 Regelbedarfsermittlungsgesetz – RBEG in der Fassung vom 24. März 2011). Das Bundesverfassungsgericht hat die Methode, den Bedarf nach dem Statistikmodell zu bestimmen, ausdrücklich gebilligt (BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - juris Rdnr. 162). Daraus folgt aber: Ein bestimmter Verkehrsradius ist damit aber für Leistungsbezieher wie den Kläger nicht monatlich garantiert. Aus dem gleichen Grund hat der Kläger keinen Anspruch darauf, dass ihm aus Gründen der Existenzsicherung zusätzlich zum Regelbedarf noch Mittel für den Erwerb von Anschlussfahrausweisen für mehrere Fahrten ins Tarifgebiet Berlin ABC oder nach Brandenburg zu gewähren sind oder darüber hinaus noch der Kaufpreis für eine (Jahres-)BahnCard 50 der Deutschen Bahn erstattet werden muss.

 

Einen Anspruch auf Durchführung eines selbständigen Beweissicherungsverfahrens vor dem Landessozialgericht zu den diversen aufgeworfenen (Bedarfs-)Fragen hat der Kläger nicht. § 76 SGG gilt nur für die Sozialgerichte (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/B. Schmidt, SGG, 13. Aufl. § 76 Rdnr. 3).

 

c. Der Kläger hat schon deshalb keinen Anspruch auf die zum 29. Juli 2014 neu in § 288 Abs. 5 BGB eingefügte Verzugskostenpauschale, weil die Norm im Sozialrechtsverhältnis allenfalls entsprechend zur Anwendung gelangen kann. Ungeachtet dessen hat die Sozialleistung keinen Entgeltcharakter („Entgeltforderung“) für eine von dem Kläger erbrachte Waren- oder Dienstleistung gegen den Beklagten (Jauernig/Stadler, BGB, § 288 Rdnr. 11).

 

3. Die Berufung des Beklagten, mit der er sich gegen seine Verurteilung zur Gewährung des Mehrbedarfs für Bekleidung/Schuhe wendet, ist mit der dem Kläger gegenüber am 9. August 2019 erfolgten vorbehaltlosen schriftlichen Anerkennung des Gesamtbetrags für diesen Mehrbedarf unzulässig geworden und daher zu verwerfen (§ 158 SGG). Mangels eines ausdrücklich erklärten Vorbehalts oder eines zumindest klaren Hinweises, dass der Mehrbedarf nur vorläufig, nämlich in Umsetzung der sozialgerichtlichen Verpflichtung gewährt wird, kann die Leistung vom Kläger bei einer Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils, die mit der Berufung erstritten werden soll, nicht mehr zurückverlangt werden. Die Tatsache, dass die Auskehrung des Mehrbedarfs fehlerhaft als „in Umsetzung des Teilanerkenntnisses vom 23. Januar 2019“ bezeichnet wurde, kann zu keiner anderen Bewertung führen. Der Beklagte, der auf den insoweit ergangenen rechtlichen Hinweis der Berichterstatterin vom 30. Juni 2021 nicht reagiert hat, hat mit Blick darauf kein Rechtsschutzbedürfnis mehr für die Verfolgung seiner Berufung.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
Saved